Werner Riegels Gedicht „Ich atme Frucht“

WERNER RIEGEL

Ich atme Frucht

Ich atme Frucht und Phlox
Und ich denke an mich.
Meine Hymnen für euch Gesocks
sind nicht mehr feierlich.
Macht euch bloß nicht ins Hemd!
Ich bin euch trotzdem gewogen
Im Wind, der uns niederschwemmt,
Wohin die Rußflocken flogen.

Das Haupthaar voller Schinn
Und eine Handvoll Abendstern –
Dafür hält man die Schnauze hin
Im Weinberg des Herrn.
Das wollt ihr immer noch
Mit Zungen preisen
Bis an das stinkende Loch,
In das sie euch dann schmeißen!

Ich atme Frucht und Gras,
Ich bin voller Gefühl
Lau fällt die Nacht und das,
Was ich besingen will.
Langsam rutsche ich weg
Im Strom der Stille.
Ihr seid der letzte Dreck,
Mit dem ich die Strophen fülle.

1955

aus: Werner Riegel: beladen mit Sendung. Dichter und armes Schwein. Haffmans Verlag, Zürich 1988

 

Konnotation

Im Dezember 1952 wurde in Hamburg das literarische Endzeit-Projekt des „Finismus“ aus der Taufe gehoben: Mit ihrer Zeitschrift Zwischen den Kriegen, ein hektographiertes Heft mit einer Auflage von 200 Exemplaren, starteten die bis dato unbekannten Dichter Werner Riegel (1925–1956) und Peter Rühmkorf (geb. 1929) einen fulminanten Angriff auf die „Stromlinienspießer“ der Nachkriegsliteratur. Die Ingredienzien für seine schnoddrig-aggressive Gedichtsprache entnahm Riegel den späten Parlando-Gedichten des von ihm glühend verehrten „Big Benn“.
Das im Januar 1955 erstmals publizierte Gedicht schwankt zwischen sentimentalischem Volksliedton und entschlossener Drastik, zwischen zarter Anrufung der Natur und böser Vulgär-Idiomatik. Riegel inszeniert in schroffen Kontrasten die Zerrissenheit seines Ich zwischen den alten und neuen Melodien des modernen Gedichts. Trotz der Verweigerung der lyrischen Feierlichkeit und trotz der Düpierung des Bürger-„Gesocks“ gibt es immer wieder Verse, in denen alte Sehnsuchts-Töne aufleuchten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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