Marina Zwetajewa: Liebesgedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Marina Zwetajewa-Liebesgedichte

Zwetajewa-Liebesgedichte

„Ich gehe für Minuten fort…“
Die Arbeit auf dem Tisch (das Wort
Der Faulen hieße Chaos) blieb
Wirr aufgehäuft. Wohin’s dich trieb,

Frag ich Paris, such deine Spur.
Denn in den alten Märchen nur
Schwingt man zum Himmel sich empor!
Wer weiß, wohin ich dich verlor?

Im Schrank, zwei Kirchentüren breit,
Stehn alle Bücher aufgereiht.
Nicht eine Zeile fehlt darin.
Doch du, doch du: Wohin, wohin?

Dein Gesicht und dein Wort,
Deine Schultern sind fort.
Wie schutzlos ich bin!
Wohin nur, wohin

Übersetzt von Waldemar Dege

 

 

 

Nachwort

Erwiderte Liebe ist für mich eine Sackgasse. Nicht Seufzer suche ich, sondern Auswege.
Marina Zwetajewa

Liebe, Leidenschaft, Leben, Literatur – für Marina Zwetajewa hingen sie aufs widersprüchlichste und radikalste zusammen. Ohne Kompromisse strebte die Russin eine Intensität an, die ihrem romantischen Absolutheitsanspruch genügen sollte. Das mündete in große Dichtung, während die sogenannte Lebenswirklichkeit hinter den Idealen nicht nur zurückblieb, sondern sich als zunehmend feindlich erwies. Zwetajewas Selbstmord am 31. August 1941 in Jelabuga beendete den Versuch, zusammenzuführen, was sich nicht zusammenzwingen ließ. Das poetische Rebellentum kapitulierte vor Krieg, Armut, Einsamkeit und Stalins Schergen.
Aufrührerischer Eigensinn charakterisiert Zwetajewa von Anfang an. 1892 als Tochter einer Pianistin und eines Kunsthistorikers in Moskau geboren, weigert sie sich schon früh, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten, und wählt statt der Musik die Poesie. Zu ihren Lieblingsdichtern gehören Goethe, Novalis, Hölderlin, Heine, Hauff. Noch als Gymnasiastin bringt sie 1910 – vier Jahre nach dem Tuberkulosetod der Mutter – ihren ersten Gedichtband, Abendalbum, heraus, worauf sie von Maximilian Woloschin in seine Künstlerkolonie auf der Krim eingeladen wird. Hier lernt sie Sergej Efron kennen, den sie 1912 heiratet und dem sie trotz zahlreicher Liebschaften und widriger Lebensumstände bis zuletzt die Treue halten sollte. Im selben Herbst kommt die gemeinsame Tochter Ariadna zur Welt. Familie und Kunst: Sind sie vereinbar? Zwetajewas Vitalität läßt keinen Zweifel aufkommen, doch der Konflikt ist vorprogrammiert. In rascher Folge entstehen Gedichte, Bekanntschaften, unter anderem mit der Lyrikerin Sofija Parnok, in die sich Zwetajewa heftig verliebt. Die Affäre findet ebenso einen poetischen Niederschlag wie die anschließende intensive Freundschaft mit Ossip Mandelstam, dem Marina ihr Moskau „zum Geschenk macht“, und wie die platonische Verehrung von Alexander Blok und der Dichterkollegin Anna Achmatowa.
Die Geburt der zweiten Tochter, Irina, fällt ins Revolutionsjahr 1917, bald darauf verschwindet Sergej Efron, der auf seiten der Freiwilligenarmee gegen die Bolschewiken kämpft, in den Bürgerkriegswirren. Fünf Jahre weiß Zwetajewa nichts über sein Schicksal, führt ein spartanisches, unstetes Leben im Chaos der Hauptstadt. Zuflucht vor Hunger und Alleinsein findet sie in Schauspielerkreisen; ihre „androgyne“ Liebe gilt insbesondere Jurij Sawadskij und Sonja Holliday. Daneben schreibt sie Tagebuchprosa, Briefe, Versdramen und Gedichte von expressiver Kraft und bewundernswerter Unbeugsamkeit. Im Februar 1920 stirbt Irina an Unterernährung. Rund zwei Jahre später folgt Zwetajewa ihrem Mann, der als Weißgardist über Konstantinopel nach Prag geflüchtet war, in die Emigration. Von 1922 bis 1926 lebt sie in Prag und Umgebung, von 1926 bis 1939 in verschiedenen Pariser Vororten, immer am Rand des Existenzminimums und zunehmend isoliert. Lebenswichtig werden ihr in dieser Zeit Brieffreundschaften, die sie häufig mit Dichtern (Boris Pasternak, Rainer Maria Rilke, Nikolaj Gronskij, Anatolij Steiger) und Literaturkritikern (Alexander Bachrach, Jurij Ivask) unterhält. Gerade die Abwesenheit der Partner schafft jenen Sehnsuchtshorizont, den Zwetajewa mit ihrer Imagination – und ihren Projektionen füllt. Ihren Gefühlen läßt sie dabei freien Lauf, mit einer Heftigkeit und Deutlichkeit, die das Gegenüber meist überfordert. So enden die passionierten „Briefromane“ zwangsläufig in Enttäuschung, Mißverständnis und Protest, überleben aber literarisch.
Völlig außerhalb solcher phantasmatischer Beziehungen steht Zwetajewas stürmische Affäre mit einem Prager Studienfreund ihres Mannes, Konstantin Rodsewitsch. Sie dauert von September 1923 bis Februar 1924 und stößt Zwetajewa tief in die Sphäre der Realerotik. „Sie haben in mir ein Wunder vollbracht“, schreibt sie in einem Brief an den Geliebten, „zum ersten Mal spürte ich die Einheit zwischen Himmel und Erde. (…) Der andere war mir immer ein Hindernis, eine Wand, die ich einrennen wollte, ich konnte nicht umgehen mit lebendigen Menschen. Daher das Bewußtsein: nicht Frau – Geist! Nicht leben – sterben.“ Der amour fou erdet, versöhnt mit dem Körper, entkoppelt Eros und Thanatos. Und findet seinen überwältigenden Ausdruck im poemlangen „Berggedicht“. Künstlerisch noch Übertroffen wird dieses durch das im Zeichen der Trennung stehende „Endgedicht“, das in seiner explosiven Elliptik zum Stärksten in Zwetajewas Werk gehört. Das „Endgedicht“ artikuliert Begehren und Haß, Trauer und Wut, Liebes- und Todessehnsucht, um mit den Worten zu schließen:

Wozu also träumen?
Das Leid – unser Lied!

Verschlungen von dunkler
Flut – aufrecht und schief −
Kein Laut keine Funken −
Gesunkenes Schiff.

Nach diesem grandiosen Fiasko findet Zwetajewa zu Efron zurück. Im Februar 1925 bringt sie einen Sohn, Georgij, zur Welt, dem sie fortan eine geradezu maßlose Mutterliebe angedeihen läßt. Wenig später zieht die Familie nach Paris. Noch in Prag aber dürfte (unter anderem) Rodsewitschs Liaison mit der Tochter des Religionsphilosophen Sergej Bulgakow Zwetajewa zum provokativen Gedicht „versuch, eifersüchtig zu sein“ inspiriert haben, einem Mini-Drama, das trotz heftiger Worthiebe keinen Sieger kennt. Der Eifersuchtsversuch scheitert bzw. mündet in einen Zustand des wütend-traurigen Quitt-Seins, der eine Liebeserklärung kaschiert.
Als Zwetajewa 1926 durch die Vermittlung von Boris Pasternak mit Rainer Maria Rilke in Briefkontakt kommt, entflammt sie aus sicherer Distanz, doch nicht ohne ihre „Liebesmechanik“ bloßzulegen. In ihrem deutsch geschriebenen Brief vom 2. August 1926 heißt es: „Ich habe den Körper immer in die Seele übersetzt (entkörpert!), die ,physische‘ Liebe – um sie lieben zu können – so verherrlicht, daß plötzlich nichts von ihr blieb. Mich in sie vertiefend, sie ausgehöhlt, in sie eindringend, sie verdrängt. Nichts blieb von ihr, als ich selbst: Seele (…). Liebe haßt den Dichter. Sie will nicht verherrlicht werden (,selbst herrlich genug!‘), sie glaubt sich ja als ein Absolut, einziges Absolut. Sie traut uns nicht. In ihrem tiefsten weiß sie, daß sie nicht herrlich ist (darum so herrisch!), sie weiß, daß alle Herrlichkeit – Seele ist, und wo Seele anfängt, endet der Leib.“ Im selben Brief träumt Zwetajewa freilich davon, den Kopf in Rilkes linke Schulter „einzugraben“, Rilkes „Herz zu küssen“, und drängt auf eine Begegnung. Rilke, schon schwer krank, antwortet mit sachter Zurückhaltung („… daß wir wie zwei Schichten, zwei Lagen, dichtzart, zwei Hälften eines Nest’s wären…“). Zu einem Treffen der beiden Dichter kommt es nicht. Um so intensiver trägt Zwetajewa ihre Liebe nach, als sie von Rilkes Tod erfährt. Ihr Gedicht-Nekrolog „Neujahrsbrief“ suggeriert fast heitere Nähe, ohne besitzergreifend zu sein. Im Reich der Literatur steht der Mythos dem Menschen, der Körper der Seele nicht mehr im Wege.
In der Pariser Zeit, die von Armut und wachsender Isolation geprägt ist, bleibt Zwetajewas „Sehnsucht nach dem Chaos der Hände und Lippen“ unerfüllt, die Liebe auf epistolarische Romane beschränkt. Glück ist damit kaum verbunden. Als der junge Dichter Nikolaj Gronskij mit fünfundzwanzig an einem Unfall stirbt, schreibt Zwetajewa den berührenden Zyklus „Grabmal“; dem tuberkulosekranken (homosexuellen) Anatolij Steiger, den sie in ihren Briefen mit mütterlicher Leidenschaft umwirbt, widmet sie die „Gedichte an eine Waise“. Doch was sie mit verschwenderischem Ungestüm gibt, kommt nicht an. Und die Entfremdung – von der Umgebung, der Zeit – wird immer größer.
1937 muß Efron Frankreich fluchtartig verlassen, nachdem er als Leiter des (vom sowjetischen Geheimdienst finanzierten) „Verbandes der Heimkehrer in die UdSSR“ in ein politisches Attentat verwickelt worden war. Die Tochter Ariadna ist zuvor freiwillig in die Sowjetunion zurückgekehrt. Was tun? Zwetajewa ringt um eine Entscheidung, die keine sein kann, weil alle Optionen verhängnisvoll sind. Im Juni 1939, nach der von ihr schwer beklagten Besetzung der Tschechoslowakei durch die Hitler-Truppen, schifft sie sich mit dem Sohn nach Leningrad ein. Doch kaum ist die Familie in der Nähe von Moskau vereint, wird Ariadna verhaftet, dann Sergej Efron. Zwetajewa findet kein Auskommen, keine Bleibe, hangelt sich von Provisorium zu Provisorium, in ständiger Angst. Ihre Lebens- und Schaffenskräfte drohen zu versiegen, wovon die Briefe erschütterndes Zeugnis ablegen. An Wera Merkurjewa schreibt sie am 31. August 1940:

Mit dem Wechsel der Orte verliere ich allmählich das Gefühl für die Wirklichkeit: Ich werde immer weniger und weniger, wie jene Herde, die an jedem Zaun ein Büschel Wolle ließ… Bleibt nur mein grundsätzliches Nein.

Zwetajewa weigert sich, bemitleidet zu werden; für Freundschaft ist sie dankbar. Einige ihrer letzten Gedichte sind an den Literatur- und Kunstwissenschaftler Boris Tager gerichtet, elegische Botschaften von luzidem Schmerz. Noch einmal geht es um Liebe, aber im Wissen, daß es für jenes „Feuer“ zu spät ist. Alt ist die Liebe, alt, „doch in der Brust das Weh / ist älter als die Liebe, älter noch als sie“. Das klingt wie ein fernes Echo auf Zwetajewas Briefbekenntnisse an Alexander Bachrach vom August 1923:

Das Schmerzhafte in der Liebe ist persönlich, das Erquickende gehört allen.  (…) Der Schmerz ist das Du in der Liebe, unser persönliches Signum.

Und:

Bei mir ist alles – Brand! Ich kann gleichzeitig zehn Beziehungen (entsetzlich: ,Beziehungen‘!!) unterhalten und dabei jedem aus tiefster Seele versichern, er sei der einzige. Aber die geringste Drehung des Kopfes von mir weg – ertrage ich nicht. Das SCHMERZT (…) Unter der Haut ist nur zuckendes Fleisch oder Feuer: ich: Psyche. Ich passe in keine Form, nicht einmal in die weiträumigste meiner Gedichte! Ich kann nicht leben.

Es gibt einen Unmöglichkeitstopos in Zwetajewas Lieben und Leben, und es gibt die Literatur, die ihn ständig unterläuft. Denn in der Dichtung gelingt ihr, was sich sonst standhaft verweigert, zum Scheitern verurteilt ist. Und gelingt wohl nur um den Preis dieses Versagens. Zwetajewa hat darin weniger eine Tragik gesehen als eine Art Gesetzmäßigkeit, die freilich auf Dauer kräftezehrend war. Aber solange die Verse sich schrieben, schonte sie sich nicht, nach dem Motto:

vom Leid zum Lied.

Ihre Liebeslyrik ist ebenso facetten- und kontrastreich wie ihr androgynes Wesen: herrisch, zärtlich, aufmüpfig, fordernd, verletzlich, emphatisch, scharfsinnig, dramatisch, exaltiert, aber nie sentimental. Und dies unabhängig davon, ob sie sich an Mann oder Frau, an einen nahen oder fernen Geliebten, an einen bekannten oder unbekannten Adressaten richtet. Nur Harmonie wird man vermissen, dazu ist Zwetajewas Naturell viel zu kämpferisch, ihre Sprache – trotz großer Musikalität – zu expressiv und widerborstig. Manches in ihren Gedichten tut weh, nicht zuletzt die Paradoxa und die schneidenden männlichen Reime. Und jene Direktheit, die weder das Ich noch den Andern schont. Diese Direktheit bedeutet Lebendigkeit, Nacktheit, Verzicht auf schönende Konvention. Am radikalsten hat Zwetajewa sie in ihrem „Berg-“ und „Endgedicht“ verwirklicht, die zu den packendsten Zeugnissen europäischer Liebeslyrik des 20. Jahrhunderts gehören.
Die Poeme sind Beichte, Anrufung, Drama, Klage, Zwiegespräch, hochtemperiert (worauf schon die exzessive Satzzeichengebung hinweist) und voller mythologisch-biblischer Vergleiche, die jedoch als Geschmacksverstärker bzw. Kontrastfolie, nicht als ästhetischer Zierat fungieren. So heißt es über den Prager Petřin-Berg, den Schauplatz der Liebe, ironisch:

Kein Parnaß, kein Sinai –
Bloß ein kahler Übungshügel

Und:

Ein Paradies – nicht wie’s im Buch
Steht – nein, vom Wind durchweht!
Wir gingen mit dem Berg zu Bruch,
Er riß uns mit: – He! Hingelegt!

Das Aufgebot an Anspielungen steht im Dienste intimster (Selbst-)Entlarvung, so wie das Staccato der Sprache alles zur Weißglut bringt.
Zu Zwetajewas genuiner Dramatik gehört es, „sogar das Eis brennen“ zu lassen und Masken herunterzureißen. Die vielen imaginierten Rollen (Eva, Lilith, Phädra, Ophelia, Magdalena) sowie die zahlreichen Identifikationsfiguren ihres Lebens (von Casanova und Napoleon bis Sarah Bernhardt, Maria Baschkirzewa und Rainer Maria Rilke) dienen ihr letztlich nur dazu, sich abzustoßen, zu ihrem eigensten Kern vorzustoßen. Auch ihre rückhaltlose Liebeshingabe, so fordernd-vereinnahmend sie sich im einzelnen auch gebärdet, zielt über das konkrete Gegenüber hinaus. Dazu hat sich Zwetajewa in Briefen, Essays, vor allem aber in ihren Tagebuchaufzeichnungen und – was die lesbische Liebe betrifft – in ihrem 1932 auf französisch verfaßten Text „Mon frère féminin. Lettre à l’Amazone“ vielfältig geäußert. Nirgends aber formuliert sie ihr persönliches Verhältnis zum Phänomen Liebe so treffend wie in einer Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1918: „Ich bin keine Heroin der Liebe, ich verliere mich niemals an den Geliebten, immer – an die Liebe.“ Für das Leben taugt solch romantischer Eros wenig, für die Literatur um so mehr. Zwetajewa ist unbestritten eine der großen Liebeslyrikerinnen der Moderne.

Ilma Rakusa, Nachwort

 

Marina Zwetajewa

ist eine der großen Lyrikerinnen der Moderne. Liebe, Leidenschaft, Leben, Literatur hingen für sie aufs widersprüchlichste und radikalste zusammen. Ohne Kompromisse strebte sie eine Intensität an, die ihrem romantischen Absolutheitsanspruch genügen sollte. Das mündete in große Dichtung, während die sogenannte Lebenswirklichkeit hinter den Idealen nicht nur zurückblieb, sondern sich als zunehmend feindlich erwies. Zwetajewas Liebeslyrik ist ebenso facetten- und kontrastreich wie ihr androgynes Wesen: herrisch, zärtlich, aufmüpfig, fordernd, verletzlich, emphatisch, scharfsinnig, dramatisch, exaltiert, aber nie sentimental. In einer Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1918 formuliert die Russin ihr persönliches Verhältnis zum Phänomen Liebe: „Ich bin keine Heroin der Liebe, ich verliere mich niemals an den Geliebten, immer – an die Liebe.“

Insel Verlag, Klappentext, 2008

 

„Es war alles unaufhaltsam, unabänderlich, tödlich“

1937–1939

Es ist schwer festzustellen, in welchem Maß Serjoscha in den Mord an Ignaz Reiss verwickelt war. Sein sanfter, weicher Charakter macht es unwahrscheinlich, daß man ihn für die zentrale Rolle auswählte, doch er erhielt mit Sicherheit Geld aus einem speziellen, für Spionage bestimmten sowjetischen Fond, und er hatte sich bereits dazu hergegeben, andere Personen, die man ihm als Verräter bezeichnete, zu überwachen; das NKWD setzte ihn unter Druck, die Ehrlichkeit seiner Überzeugung zu beweisen. Während kein Zweifel daran besteht, daß das NKWD letztlich für den Mord an Reiss verantwortlich war, gibt es auch ein Indiz, das auf eine eindeutige Verbindung zwischen Serjoscha und dem Mord hinweist.
Reiss war zwanzig Jahre lang als Spion für die Sowjetunion tätig gewesen, hauptsächlich in Deutschland, doch nach Hitlers Machtergreifung verbrachten er und seine Frau die meiste Zeit in Paris. Er hatte Zugriff auf offizielle Geldmittel, mit denen er deutsche Kommunisten unterstützte, die aus dem Dritten Reich hatten fliehen müssen. Auf diesem Wege lernte er Gertrude Schildbach kennen – und sie war die entscheidende Verbindung zu Serjoscha. Sie war 1934 als echte Emigrantin in Paris eingetroffen. Reiss bezahlte die Miete für ihre Wohnung und benutzte sie gelegentlich für Treffen, ohne Gertrude in irgendeiner Weise für das NKWD einzuspannen. Er kannte Gertrude Schildbach seit 1917 und hielt sie emotional für viel zu labil, als daß er ihr eine Rolle in der Organisation anvertraut hätte. Im August 1936, nachdem die Prozesse gegen die Altbolschewisten – G. Sinowjew, L. Kamenew, L.M. Smirnow und andere – mit Todesstrafen für alle sechzehn Angeklagte geendet hatten, setzten sich in Europa viele wichtige Leute vom NKWD ab. Darunter war auch Ignaz Reiss in Paris, der den Mut aufbrachte, in einem offenen Brief an das Zentralkomitee zu protestieren und seinen Orden zurückzugeben, den er für seine Verdienste um die Partei seit 1919 erhalten hatte. Reiss ging davon aus, daß der Brief auf seinem Weg durch diplomatische Kanäle eine Woche brauchen würde, bis er beim Zentralkomitee ankam, und begab sich, der Gefahr wohl bewußt, mit seiner Frau nach Lausanne.
Währenddessen begannen Befehle einzutreffen, die viele NKWD-Agenten nach Moskau zurückbeorderten. Die Agenten, die diese Befehle befolgten, taten das aus verschiedenen Gründen. Selbst wenn einige von ihnen befürchteten, nach der Rückkehr erschossen zu werden, wagten es die, deren Familien noch in der Sowjetunion lebten, nicht, die Rückkehr zu verweigern, denn 1937 zahlten Angehörige mit ihrem Leben für jeden politischen Fehltritt in der Familie.
Am Morgen des 4. September 1937 trafen Reiss und seine Frau in einem Café in Lausanne mit Gertrude Schildbach zusammen und erhielten von ihr eine Schachtel mit vergifteten Pralinen. Im Café befanden sich weitere Agenten, die darüber wachen sollten, daß Gertrude Schildbach nicht umfiel und Reiss warnte, doch ungeachtet einiger Bedenken, die sie vielleicht hatte, tat sie es nicht. Einer der Gründe für ihre Folgsamkeit war ein junger Mann namens Rossi (ein NKWD-Agent), der mit ihr geschlafen hatte. Dennoch wurde sie von ihm getäuscht, da er auch der Liebhaber eines anderen Mädchens, Renata Steiner, war. Schildbach und Steiner arbeiteten für die gleiche Organisation wie Serjoscha, und Renata Steiner hatte Serjoscha selbst angeworben.
Es war Rossi, der am 2. September das Fluchtauto mietete, und obwohl Madame Poretzky (Reiss’ Frau, die überlebte) behauptete, daß Efron zu den Wageninsassen gehört habe, als Rossi kam, um Renata abzuholen, gehörte Serjoscha mit Sicherheit nicht zu den Mördern. Die französische Polizei verhörte ihn eingehend und ließ ihn wegen Mangels an Beweisen laufen, doch die meisten seiner Freunde wußten, daß er in die Sache verwickelt war, und waren, mit Ausnahme von Vera Suwtschinski, davon überzeugt, daß er in gewissem Grad verantwortlich sei.
Vera war viel mit ihm zusammengewesen, weil sie in der gleichen kommunistischen Gruppe arbeiteten, und sie wies mit Nachdruck darauf hin, daß in der Woche nach dem Mord in seinem Verhalten keine Veränderung zu bemerken gewesen sei. Sie stand kurz vor der Entbindung, und Serjoscha brachte sie am 20. September in das Entbindungskrankenhaus. Trotzdem ist es höchst unwahrscheinlich, daß er zwei Wochen nach dem Vorfall noch immer nichts vom Mord an Reiss wußte. Daß sie zögerte, an seine Verwicklung in die Sache zu glauben, ist verständlich, sie hatte ihn immer gemocht.
Seine eigene Frau wollte es einfach nicht glauben. Marina hatte sich mittlerweile mit seinem Engagement für die sowjetische Sache abgefunden, doch sie hatte keine Ahnung, daß das Geld, das er monatlich bekam, vom NKWD stammte. Als ihn Befehle aus Moskau zur sofortigen Flucht zwangen, war sie wie vor den Kopf geschlagen. Seine übereilte Abreise war an sich schon ein Schock, doch ihr folgte auf dem Fuß eine eingehende Befragung durch die französische Sûreté. Das kam ihr höchst verwirrend vor, und sogar die Ermittler kamen rasch dahinter, daß sie nicht das geringste über Spionage, Politik und Aktivitäten ihres Mannes wußte. Sie hatte keine Ahnung, wer Serjoschas Kontaktleute waren, wußte nicht, welche Rolle er in der Organisation zur Repatriierung exilierter Russen spielte und wies jede Möglichkeit, Serjoscha könne in einen Mordfall verwickelt sein, zurück. Da sie das Bedrohliche der Anschuldigungen nicht begriff, antwortete sie mit Zitaten aus Corneille und Racine. Schließlich kamen der Polizei Zweifel an ihrer Zurechnungsfähigkeit, und man ließ sie ohne große Umstände laufen.
Danach weinte Marina tagelang. Jetzt wußte sie natürlich, daß Serjoscha Geld aus dem für Spionage bestimmten Fond bekommen hatte, doch an seine Schuld mochte sie immer noch nicht glauben. Sogar seine plötzliche Rückkehr in die Sowjetunion überzeugte sie nicht davon. Sie hatte genug erfahren, um zu wissen, daß Serjoscha, da sein Name der französischen Polizei jetzt bekannt war, für den russischen Geheimdienst nutzlos geworden war – und viele Leute in dieser Lage waren in die UdSSR zurückbeordert worden.
Was immer sie auch einwenden mochte, der Zirkel der Emigranten war zur endgültigen Überzeugung seiner Schuld gekommen, und Marina wußte, daß sie nun vollkommen von ihren Landsleuten isoliert sein würde. Sie war vor Entsetzen und Einsamkeit wie betäubt. Dennoch schrieb sie am Tag von Serjoschas Abreise in die Sowjetunion an Anna Tesková, ohne ihre augenblickliche Situation zu erwähnen.
Die wahrscheinlichste Erklärung für dieses Verhalten war Marinas alte Furcht, daß die Dinge wahrer würden, wenn man sie in Worte faßte. Als ihre Tochter Irina gestorben war, war sie drei Wochen lang herumgelaufen, ohne in der Lage zu sein, mit irgend jemandem darüber zu sprechen. Vera Suwtschinski gegenüber äußerte sie in Paris, sie habe das Gefühl gehabt, den Tod endgültig zu machen, wenn sie mit einer Person darüber spreche. Auch jetzt, den Verlust Serjoschas (der in ihrem Leben ein Fixpunkt blieb) vor Augen, fürchtete sie sich, darüber zu schreiben oder zu sprechen.
Von diesem Moment an wußte sie, daß sie keine andere Wahl hatte, als in die Sowjetunion zurückzukehren. Sie verfügte nicht mehr über Serjoschas kleines Stipendium, und seit seiner Entlarvung würden die Emigrantenkreise sie eher zu Tode hetzen als zu ihrem Unterhalt beitragen.
Mark Slonim begegnete Marina im Oktober des Jahres und war beunruhigt, wie plötzlich sie gealtert und wie verhärmt sie aussah, obwohl sie erst fünfundvierzig Jahre alt war. Es war das erste Mal, daß Slonim sie weinen sah. Mur war nicht da, und Slonim erinnerte sich später an ihren Satz:

Ich möchte sterben, doch um Murs willen muß ich leben. Sergej und Alja brauchen mich nicht mehr.1

Während jenes Winters, zwischen November 1937 und Februar 1938, brachte Marina keine Zeile zustande. Selbst das Schreiben eines Briefes an Anna Tesková beanspruchte mehr Kraft, als sie aufbringen konnte. Statt dessen schrieb sie Postkarten: „Mir ist nicht mehr nach Schreiben zumute“, entschuldigte sie sich. Erst im Mai 1938, als der Tschechoslowakei die deutsche Invasion drohte – die Marina als eine persönliche Bedrohung empfand – wurde sie aus ihrer Misere aufgescheucht. Als die Großmächte im September das Münchener Abkommen unterzeichneten und deutsche Panzer im Oktober in Prag einrollten, geriet sie außer sich vor Zorn. Tag und Nacht kreisten ihre Gedanken um die Tschechoslowakei. Sie schrieb an Anna Tesková: 

Ganz Böhmen ist jetzt ein riesiges menschliches Herz, das nur für eins schlägt: für das Gleiche, wie meins. Tiefstes Schmachgefühl für Frankreich, doch das ist nicht Frankreich. Auf den Straßen und Plätzen sehe und höre ich: das ganze wahre Frankreich, sowohl Volksmassen als auch Köpfe, ist für Böhmen und gegen sich selbst.2

Daß Marina so darauf bestand, das Volk auf der Straße repräsentiere das „wirkliche“ Frankreich, bezeichnete einen Wandel in ihren politischen Hoffnungen. Zum ersten Mal in ihrem Leben freute sie sich, in den Straßen Kommunisten gegen die Regierung demonstrieren zu sehen. Zum ersten Mal auch las sie linke Zeitungen. In einer Nachschrift zu einem Brief an Anna Tesková vom 24. September heißt es:

Ich schäme mich nun, zu leben. Jedermann schämt sich nun, zu leben. Denn man kann nicht in Schande leben… Habt Vertrauen zu Rußland!

Marinas persönliche Isolation war jetzt total. Anfang 1938 hatte die Presse den Fall Reiss aufgegriffen, und fast alle Russen, die sie in Paris kannte, behandelten sie wie eine Kriminelle. (Salomea Halpern war eine Ausnahme, doch sie lebte in jenem Jahr in London.) Marinas russische Nachbarn zwangen sie, ihr Heim zu verlassen, und sie mußte in ein billiges Hotel auf dem Boulevard Pasteur, Nummer 13, umziehen. Dort erhielt sie den ersten Brief von Serjoscha.
Am 15. Juni 1938 konnte sie schließlich seinen Wunsch erfüllen, für Serjoschas Eltern und seinen Bruder auf dem Friedhof von Montparnasse einen Gedenkstein aufstellen zu lassen. Das hatte absurde Probleme mit sich gebracht. Die Person, welche die Grabstelle als erste erworben hatte, hatte nach französischer Gepflogenheit mit „Effront“ unterschrieben, und da diese Schreibweise von allen folgenden Dokumenten übernommen worden war, wollte die Friedhofsverwaltung ihr nicht gestatten, den Namen auf dem Grabstein in „Efron “ zu ändern. Es gab andere Schwierigkeiten – mit dem Datum, der kyrillischen Schrift – doch Marina schien aus Serjoschas Brief neue Energien geschöpft zu haben und setzte alles daran, daß der bescheidene Gedenkstein korrekt aufgestellt wurde.
Bald traf auch eine Postkarte aus Prag ein, die bestätigte, daß Anna Tesková zumindest noch lebte. Marina antwortete sofort, voll wehmütiger Erinnerung an die Zeit, da sie, Alja und Mur Prag verlassen hatten, um nach Paris zu gehen. Sie hatte mit der Arbeit an einem Gedichtzyklus begonnen, einem Protest gegen die Invasion; sie bat Anna um ein Buch über die Prager Legenden und wiederholte eine frühere Bitte um eine Photographie der berühmten Statue des Ritters von Prag. Im selben Brief bat Marina, die ihr Herz vorher nie an kostbare Dinge gehängt hatte, um ein Halsband aus Prager Rauchquarz, das sie bis an ihr Lebensende bewahren sollte. Außerdem versuchte sie, wie viele andere, wo immer es möglich war, tschechische Exporte zu kaufen. Sie erwarb sogar ein Tintenfaß aus Emaille, weil es die Aufschrift „Hergestellt in der Tschechoslowakei“ trug.
Vielleicht ist es merkwürdig, daß Marina auf die Besetzung der Tschechoslowakei viel heftiger reagierte als auf jedes andere vergleichbare politische Ereignis. Sie sagte dazu:

Ich glaube, daß die Tschechei mein erster Kummer dieser Art ist. Rußland war zu groß, und ich war zu jung.

Marina verdächtigte alle der Scheinheiligkeit, die ihr Bedauern aussprachen und so wenig taten. Sie hatte nicht den Wunsch, zu einer Gesellschaft von Frauen zu gehören, die, um den Schein zu wahren, ihr Entsetzen über die schlechte Behandlung der Juden zum Ausdruck brachten und von denen sich später herausstellte, daß sie Affären mit Angehörigen antisemitischer Gruppen hatten. Überall umgab sie Feigheit und Komplizentum, und sie fühlte sich in ihrer Entrüstung völlig allein.
In den Kreisen der russischen Emigranten tat sich 1938 sehr viel. In den Theatern wurden Stücke von Mark Aldanow und Nina Berberova gespielt, es fanden auch zahlreiche wichtige Dichterlesungen statt, doch Marinas Name tauchte nirgendwo auf. Man hatte sie ausgestoßen. Merkwürdigerweise erneuerte ihre emotionale Betroffenheit über den Einmarsch in die Tschechoslowakei eine Spur ihrer früheren Kraft, und sie war imstande, an Anna Tesková zu schreiben, daß ihre Einsamkeit sie gar nicht so sehr beschäftige. Die Gedichte, die sie zu dieser Zeit für Prag schrieb, erwuchsen aus ihrem qualvollen Haß angesichts der Vergewaltigung eines Landes, in dem sie sich am glücklichsten gefühlt hatte:

Klage des Zorns und der Liebe!
Salz, das auf Augen ruht!
Oh, und Böhmen in Tränen!
Oh, und Spanien im Blut!

O schwarzer Berg, der du das
Licht verdunkelt hast!
Zeit ist, Zeit, dem Schöpfer
Hinzuwerfen den Paß.

Ich weigre mich zu leben
Im Tollhaus, unter Vieh.
Ich weigre mich, ich heule
Mit den Wölfen nie.

Ich weigre mich zu schwimmen
Als Hai des Lands, stromab
Den Strom gebeugter Rücken –
Ich weigre mich, lehn ab.

Ablehn ich, daß ich höre,
Ablehn ich, daß ich seh.
Auf diese Welt des Irrsinns
Gibt es nur eins: ich geh.
3

Indem sie von dem „Paß“ spricht, den sie Gott hinwerfen will, bezieht sich Marina auf Iwan Karamasow in Dostojewskis Die Brüder Karamasow, der die Möglichkeit einer Erlösung zurückweist, wenn sie durch das Leid eines einzigen Kindes erkauft würde.
Eine ernsthafte Grippe schwächte sie erheblich. Träume von Prag erfüllten ihre Tage mit Sehnsucht. Es gelang ihr, für den dreizehnjährigen Mur einen Weihnachtsbaum zu beschaffen; sie tauschten Weihnachtsgeschenke. Doch es herrschte Kälte zwischen ihnen. Der einzige Lichtblick für Marina im Jahr 1939 war vielleicht ein Grußtelegramm Aljas zum Neujahrstag.
Am 31. Mai 1939 war die Entscheidung, in die Sowjetunion zurückzukehren, getroffen, obgleich Marina nur wenigen Leuten erzählte, daß sie ein Visum beantragt hatte. Sie konnte nicht viel mitnehmen, und außerdem war das Geld knapp, und sie mußte viele Dinge verkaufen. Sie brachte geraume Zeit damit zu, ihre Notizbücher auszusortieren. In der übrigen Zeit brachte sie Murs Kleider in Ordnung. Anfang Juni 1939 machte sie sich mit Mur auf, um sich von Mark Slonim zu verabschieden, dessen Haus zu den wenigen gehörte, in denen sie noch willkommen war. Bis zur Abreise waren es nur noch wenige Tage, und mit großer Traurigkeit gedachten Marina und Slonim der sorglosen Tage, die sie einst zusammen in Prag verbracht hatten. Marina las Slonim ihr letztes Gedicht, „Der Autobus“, vor, das Slonim in bezug auf Sprache und Humor besonders brillant fand. Es war ein langes Gedicht von großer Virtuosität, wie man aus dem Anfang ersehen kann:

Über Gerümpel und Abfallstreifen
Hüpfte der Bus wie ein Asphaltteufel.
Durch Gassen, enger als Anmerkungen
Hat teuflisch er den Kurs gewunden:
Geschüttelt wie ein Beifallssaal.
Geschüttelt wir: nach Teufelsart.
Hast Graupen du unterm Strahl gesehn?
Erbsen, die sich im Kochtopf drehn!
Bald geklumpt und bald getrennt!
Getreide, das im Mörser springt
Palmsonntagstänzer im Fuselschwung
Zähne im geschüttelten Mund!
Jeder geschüttelt auf seine Art:
Das Ganze dann zum Lüster geschart:
Die Greisin mit Perlenglas und Knochen
Das Mädchen mit Brüsten, vorgekrochen
Geschmückt mit einer Perlenkette.
Die Mutter mit Säugling, weich gebettet
Der seinen Gutgenährten schwang.
Wie die Geige von ihrem Klang
Erzitterte alles. Das Schütteln gebar ein Lachen
Das Lachen einen fröhlichen Kasten
Schamlos geschüttelter Birnen:
In die Kindheit gepurzelter Stirnen.
4

Mur hörte zu und wirkte gelangweilt. Marina vertraute Slonim ihre Befürchtungen an: Was würde sie in Moskau erwarten? Würde man ihr Werk veröffentlichen? Das erregte das Interesse des gähnenden Mur, und er wies sie zurecht:

Wirklich, Mama, du wirst es nicht glauben, aber es wird alles ganz prächtig werden!

Marina und Slonim unterhielten sich bis Mitternacht, obgleich Mur seine Mutter zum Aufbruch drängte. Sie zögerte den Abschied immer wieder hinaus. Schließlich verabschiedeten sie sich auf dem Treppenabsatz, und dann sah Slonim stumm und schweigend zu, wie sie den Lift betraten. Als er sich in Bewegung setzte, ihre Gesichter unter ihm hinabtauchten und er sie aus den Augen verlor, hatte er die Vorahnung, daß es ein Abschied für immer gewesen war.5
Mur war nicht nur zu aufgeregt, um die Gefühle seiner Mutter wahrzunehmen, sondern war ganz seinen eigenen hingegeben. Er war ein untersetzter, gutaussehender Junge von vierzehn Jahren, der immer sehr darauf aus war, sich etwas Hübsches zum Anziehen zu kaufen, während Marina sich abrackern mußte, um sie beide überhaupt am Leben zu erhalten. Während Marinas letzter Monate in Paris kam wenigstens noch ein Brief von Serjoscha an, und darin klagte er über nichts mehr als über seine Sehnsucht nach dem französischen Kino. Vielleicht als Reaktion auf diese unerwartete Bemerkung, begann Marina öfter als gewöhnlich ins Kino zu gehen, und diese Besuche gehörten bald zu ihren wenigen Vergnügungen. Während der letzten Wochen trug Marina ständig ihr tschechisches Halsband, als verfüge es über schützende Zauberkräfte. Ein Tagebucheintrag vom 23. April 1939 verzeichnet einen Traum von Zauberkräften, aus dem Marina getröstet erwachte:

Traum. 23. April ’39: Ich gehe einen schmalen Bergpfad hinauf. Landschaft von St. Helena: rechts ein Abgrund; links eine steile Felswand. Nirgendwohin kann man ausweichen. Vor mir auf dem Pfad – ein Löwe. Ein riesiger. Mit einem Gesicht, das selbst für einen Löwen gewaltig ist. Ich bekreuzige mich dreimal. Der Löwe läßt sich auf den Bauch fallen und kriecht zwischen Abgrund und mir vorbei. Ich gehe weiter. Vor mir – ein zweihöckriges Kamel. Ebenfalls überlebensgroß, ungewöhnlich groß, selbst für ein Kamel. Ich bekreuzige mich dreimal. Das Kamel schreitet über mich hinweg (Ich unter dem gewölbten faltigen Bauch). Ich gehe weiter. Vor mir – ein Pferd. Es wird mich ohne Zweifel in den Abgrund stoßen, denn es ist in vollem Galopp. Ich bekreuzige mich dreimal. Und das Pferd fliegt durch die Luft – über mich hinweg. Ich bewundere die Anmut seines Luftgalopps.
Und – die Straße in die andere Welt. Ich fliege, auf dem Rücken liegend, die Füße nach vorn, den Kopf abgewendet. Unter mir – Städte. Zuerst in großem Maßstab und deutlich zu erkennen ( ein Spiral-Galopp), dann – Haufen weißer Steine. Berge, Meerengen – ich fliege unaufhaltsam weiter; mit einem Gefühl von Heimweh und letztem Lebewohl. Mit einem Gefühl, als wenn man um die Erde fliegt, sich leidenschaftlich und hoffnungslos an sie klammernd, und dem Wissen, daß die nächste Umkreisung im Weltraum sein wird. Dieselbe totale Leere, die ich in meinem Leben so fürchtete – auf der Schaukel, im Lift, auf dem Meer, in meinem Inneren.
Es gab einen Trost: es war alles unaufhaltsam, unabänderlich, tödlich. Und es würde nicht schlimmer werden. Ich erwache, und meine Hand liegt auf meiner Brust, auf dem Herzen… Ja, natürlich
6

In diesen letzten Wochen vor ihrer Abreise war Marina abgestumpft. In einem Ende, gleich welcher Art, liegt auch eine Art Frieden, doch mit ahnungsvoller Furcht sah sie dem entgegen, was sie erwartete, als könne sie bereits im Geist voll Schmerz auf jene zurückblicken, die sie, wie Anna Tesková, so sehr geliebt hatte. Ihr einziger Trost war die Erinnerung an die heißgeliebte Landschaft des Landes, in das sie nach so langer Zeit zurückkehrte: zum Wacholderbaum, zur Kiefer und dem Vogelbeerstrauch, die sie so lange vermißt hatte.
Marina Zwetajewa und ihr Sohn verließen Paris am 12. Juni 1939. Während sie auf die Abfahrt des Zuges nach Le Havre wartete, begann Marina einen Brief an Anna Tesková:

Liebe Anna Antonowna! (Ich schreibe auf dem Handteller, daher die kindliche Schrift.) Ein riesiger Bahnhof mit grünen Fensterscheiben: ein schrecklicher grüner Garten – was da nicht alles wächst! Zum Abschied saßen Mur und ich nach alter Sitte ein paar Minuten, bekreuzigten uns zum leerstehenden Platz der Ikone (sie ist in gute Hände gekommen, seit 1918 lebte und reiste sie mit mir – na ja, irgendwann trennt man sich von allem: ganz! Und das ist eine Vorübung, damit es dann nicht schrecklich, ja nicht einmal sonderbar ist…). Ein Leben von 17 Jahren ist zu Ende. Wie glücklich ich damals war! Die glücklichste Periode meines Lebens aber ist – merken Sie es sich – Mokropsy und Všenory und noch – mein vertrauter Berg. Seltsam, gestern begegnete ich auf der Straße dessen Held, den ich Jahre nicht sah, er überfiel uns von hinten und hakte sich ohne Erklärung bei Mur und mir ein – ging in der Mitte –, als wäre nichts gewesen. Und ich traf noch – ebenso ein Wunder – den alten verrückten Dichter mit Frau – bei Bekannten, wo er ein Jahr lang nicht war. Als ob es alle ahnten. Dauernd traf ich – alle. (Eben höre ich laut hallend: Express de Vienne… und ich mußte an die Türme und Brücken denken, die ich nie mehr sehen werde.) Man schreit: En voiture, Madame! – das ist an mich gerichtet, so als wollte man mich von allen bisherigen Aufenthaltsorten meines Lebens abschneiden. Unnötig zu schreien, ich weiß es selbst. Mur hat sich (bei diesem Wort hat sich der Zug in Bewegung gesetzt) mit Zeitungen eingedeckt.
Wir nähern uns Rouen, wo einst menschliche Dankbarkeit Jeanne d’Arc verbrannt hat. (Eine Engländerin hat ihr 500 Jahre später an ebendieser Stelle ein Denkmal errichtet.) Wir haben Rauen passiert – Ráčte dále! ich werde auf Nachrichten von Ihnen allen warten, übermitteln Sie der ganzen Familie meinen heißen Gruß, ich wünsche Ihnen allen Gesundheit, Mut und ein langes Leben. Ich träume von einer Wiederbegegnung in Murs Heimat, die mir heimatlicher als die eigene ist. Ich drehe mich bei ihrem Klang um wie bei meinem Namen. Erinnern Sie sich, ich hatte eine Freundin, Sonetschka, alle sagten zu mir: „Ihre Sonetschka“ – Ich fahre fort mit
Ihrem Halsschmuck und einem Mantel mit Ihren Knöpfen, und auf dem Gürtel ist Ihre Spange. All das Bescheidene und Wahnsinnig-Geliebte nehme ich mit ins Grab oder lasse mich damit zusammen einäschern. Auf Wiedersehen! Jetzt ist es schon nicht mehr schwer, jetzt ist es bereits Schicksal. Ich umarme Sie und alle die Ihren, jeden einzeln und alle zusammen. Ich liebe Sie und bewundere Sie… Ich glaube an Sie wie an mich selbst.7

Der Brief trägt den Poststempel: Le Havre-Gare, 16 Uhr 30, 12. Juni 1939.

(…)

Elaine Feinstein, aus Elaine Feinstein: Marina Zwetajewa. Eine Biographie, Frankfurter Verlagsanstalt, 1990

 

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

 

Zwiesprachen VI: Katharina Schultens spricht über Marina Zwetajewa am 24.1.2016 im Lyrik Kabinett, München

 

 

Katharina Kohm: Die Begegnung an der Naht. Zu der Vortragsreihe Zwiesprachen VI: Katharina Schultens über Marina Zwetajewa am 25.1.2016 im Lyrik Kabinett
signaturen-magazin.de

Zum 70. Todestag der Autorin:

Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011

Zum 75. Todestag der Autorin:

Doris Liebermann: Vor 75 Jahren – Dichterin Marina Zwetajewa gestorben
Deutschlandfunk Kultur, 31.8.2016

Fakten und Vermutungen zur Autorin + NachlassInternet Archive +
Kalliope

 

Vom Übersetzen. Basler Gespräche III am 2.12.2014 mit Ilma Rakusa

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin KLG + Interview +
DAS&D
Laudatio: 1, 23 + Lesung + Archiv
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Dirk Skibas AutorenporträtsBrigitte Friedrich Autorenfotos
shiyan 言 kou 口

 

Ilma Rakusa – Verleihung des Schweizer Buchpreises 2009.

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