Marion Tauschwitz: Zu Hilde Domins Gedicht „Graue Zeiten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hilde Domins Gedicht „Graue Zeiten“. 

 

 

 

 

HILDE DOMIN

Graue Zeiten

Es muß aufgehoben werden
als komme es aus grauen Zeiten

Menschen wie wir wir unter ihnen
fuhren auf Schiffen hin und her
und konnten nirgends landen

Menschen wie wir wir unter ihnen
durften nicht bleiben
und konnten nicht gehen

Menschen wie wir wir unter ihnen
grüßten unsere Freunde nicht
und wurden nicht gegrüßt

Menschen wie wir wir unter ihnen
standen an fremden Küsten
um Verzeihung bittend daß es uns gab

Menschen wie wir wir unter ihnen
wurden bewahrt

Menschen wie wir wir unter ihnen
Menschen wie ihr ihr unter ihnen
jeder
kann ausgezogen werden
und nackt gemacht
die nackten Menschenpuppen

nackter als Tierleiber
unter den Kleidern
der Leib der Opfer

Ausgezogen
die noch morgens die Schalen um sich haben
weiße Körper

Glück hatte wer nur
gestoßen wurde
von Pol zu Pol

Die grauen Zeiten
ich spreche von den grauen Zeiten
als ich jünger war als ihr jetzt

2
Die grauen Zeiten
von denen nichts uns trennt als
zwanzig Jahre

Die Köpfe der Zeitungen
das Rot und das Schwarz
unter dem Worte „Deutsch“

ich sah es schon einmal
Zwanzig Jahre:

Montag viel Dienstag nichts
zwischen

uns und den grauen Zeiten

 

Auf das neue Ausländergesetz

und die Verschärfung der Einreisemodalitäten für Emigranten, mit denen der Strom der Zuwanderer gestoppt werden sollte, reagierte Hilde Domin mit dem Gedicht „Graue Zeiten“. Auslöser waren ganz konkret die schwarz-roten Schlagzeilen der Deutschen National-Zeitung, die Hilde Domin an einem Kiosk entsetzten. Offensichtlich und ungeniert lehnte sich die Aufmachung an den Völkischen Beobachter der NS-Propagandisten an. Das 1951 als Deutsche Soldaten-Zeitung gegründete Organ hatte sich ursprünglich vor allem an ehemalige Angehörige der Wehrmacht gerichtet. Seit 1963 erschien es wöchentlich als Deutsche National-Zeitung und fokussierte nun thematisch das gesamte rechte Spektrum. Die Köpfe der Zeitungen / das Rot und das Schwarz / unter dem Worte „Deutsch“ hatten für Hilde Domin ihren Schrecken nicht verloren. Alte Bilder und Erinnerungen an Exil und Flucht waren plötzlich wieder da:

Menschen wie wir wir unter ihnen
fuhren auf Schiffen hin und her
und konnten nirgends landen

Sie selbst hatte zu den Menschen gehört, die gehetzt und auf Schiffen hin und her gefahren worden waren, die nirgends landen, nirgends bleiben sollten. 1940 waren sie und Erwin Walter Palm vor Jamaica auf einem Zuckerdampfer festgesessen. Das rettende Ufer fast in Sprungnähe, wollte man ihnen das Recht verwehren, an Land zu gehen.
Die Palms hatten in England auch von der erbarmungswürdigen Irrfahrt der „St. Louis“ gehört: Mit dem Fluchtziel USA war dieser Dampfer mit mehr als 900 jüdischen Flüchtlingen an Bord im Juni 1939 erst von der kubanischen Regierung am Anlegen gehindert worden. Ohne Aufnahme zu finden, irrte das Schiff durch die Karibik. Sowohl die USA als auch Kanada verweigerten ihre Unterstützung. Das Flüchtlingsschiff war dazu verdammt, wieder nach Europa zurückzukehren. Beim Anblick der Stadt, vor der sie geflohen waren, wählten viele Verzweifelte den Tod: Sie sprangen ins Meer, um den Hitler-Schergen zu entgehen.

Menschen wie wir wir unter ihnen
standen an fremden Küsten
um Verzeihung bittend daß es uns gab.

Wie viele Exilanten hatten am eigenen Leib die bittere Erfahrung gemacht, ausgezogen […] / und nackt gemacht zu werden. Davon waren die Palms verschont geblieben, doch die ersten Berichte über die Gräuel in den Konzentrationslagern hatten Hilde Domin und Erwin Walter Palm in Santo Domingo erreicht und entsetzt. Damals war ihnen bewusst geworden, dass sie zu den Glücklichen gehörten, die nur von Pol zu Pol gestoßen worden waren.
Immer tiefer tauchte Hilde Domin beim Schreiben des Gedichts in ihre Erinnerung ein – bis in die Anfangszeit ihres Exils in Italien. Damals war ihnen in Florenz Erwin Walter Palms Studienfreund aus Heidelberg begegnet. Grußlos war er an den jüdischen Flüchtlingen vorbeigeeilt, als hätte er sie nie gekannt. Er hatte um seine wissenschaftliche Stelle in Italien gefürchtet, gestand er den Palms voller Scham Jahrzehnte später.

Menschen wie wir wir unter ihnen
grüßten unsere Freunde nicht
und wurden nicht gegrüßt.

In Santo Domingo waren sie selbst unter Druck geraten, nachdem Trujillo die Universitätsangestellten wissen ließ, dass der auch von den Palms sehr geschätzte Historiker Don Americo Lugo zur unerwünschten Person erklärt worden war, dessen Umgang man gefälligst meiden sollte. Don Americo hatte Kritik an der Politik des Diktators geübt. Die Palms brachen den Kontakt zu ihrem Freund nicht ab. Monatelang wurden sie daraufhin vom Staatssicherheitsdienst observiert, Hilde Domin sogar zu Trujillo vorgeladen. Erwin Walter Palms Anstellung an der Universität wurde durch Trujillos Einspruch immer weiter hinausgezögert.
Schwer trugen die Palms an dem Wissen um die Deportation von Erwin Walter Palms Stiefmutter, Onkel und Großmutter, die in Theresienstadt bzw. Majdanek ermordet worden waren. Die grauenhaften Bilder der ausgemergelten nackten Leichen in den KZs suchten Hilde Domin viele Jahre in ihren Träumen heim.

die nackten Menschenpuppen
nackter als Tierleiber
unter den Kleidern
der Leib der Opfer
ausgezogen
die morgens die Schalen um sich haben
weiße Körper.

Hilde Domins Bilder sind drastisch, ohne Faktisches zu liefern. Die „unspezifische Genauigkeit“ seiner Sprache macht das Gedicht „Graue Zeiten“ zeitlos und zum dauerhaft gültigen Sprachrohr für Geschundene und Verfolgte. Es spricht für die Opfer eines jeden Krieges in jeder Zeit.
So hatten die Verse auch dreizehn Jahre später nichts von ihrer eindringlichen Brisanz verloren, als die ersten Vietnamflüchtlinge auf ihren desolaten Booten an Küsten strandeten, die sie nicht aufnehmen wollten. Unzählige der sogenannten „Boat People“ fanden im chinesischen Meer den Tod. Merkwürdig, dass bei den Nachrichten über die verzweifelte Lage der 2.500 vietnamesischen Flüchtlinge auf dem kleinen Frachter vor Singapur sich niemand erinnert zu fühlen scheint: Haben wir nicht all das schon einmal erlebt in den späten 30er Jahren, mit allen Einzelheiten?, fragte Hilde Domin verbittert angesichts der täglichen Meldungen im Fernsehen und zog gegen einen Leitartikel in einer Heidelberger Zeitung zu Felde, in dem der Redakteur ernsthaft vorgeschlagen hatte, „dies Schiff ohne Hafen mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen und die hohen Kosten aufzubringen, das gesamte Schiff zur Küste Vietnams zurückzuschleppen“. Die Zeitung hielt es gar für ein „Gebot der Stunde“, den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Hilde Domin griff in ihrem flammenden Appell „Schiff ohne Hafen“ auf das 1966 geschriebene Gedicht zurück. Der Aufruf war so eindringlich, dass der WDR ihn am 23.11.1978 sendete. Nur einen Tag später ordnete der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht an, eintausend Menschen von dem Schiff aufzunehmen. Hilde Domin war ehrlich genug, sich den Anstoß für diese Großherzigkeit nicht auf ihre Fahnen zu schreiben. Sie vermerkte beim Abdruck des Appells in ihren „Gesammelten Essays“, dass sie später erfahren habe, dass die Empörung seiner Kinder Ernst Albrecht zu seinem Entschluss bewegt hatte.
Eindringlich ist das Gedicht geblieben, und es ist auch heute noch geeignet, die Zivilcourage eines jeden Einzelnen einzuklagen.

Marion Tauschwitzaus Marion Tauschwitz: Hilde Domin – Das heikle Leben meiner Worte, VAT Verlag André Thiele, 2012

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