Marion Tauschwitz: Zu Hilde Domins Gedicht „Ein blauer Tag“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hilde Domins Gedicht „Ein blauer Tag“. 

 

 

 

 

HILDE DOMIN

Ein blauer Tag

Ein blauer Tag
Nichts Böses kann dir kommen
an einem blauen Tag
Ein blauer Tag
die Kriegserklärung
Die Blumen öffneten ihr Nein
Die Vögel sangen Nein
ein König weinte
Niemand konnte es glauben
Ein blauer Tag
und doch war Krieg

Gestorben wird auch an blauen Tagen
bei jedem Wetter
Auch an blauen Tagen wirst du verlassen
und verläßt du
begnadigst nicht
und wirst nicht begnadigt
Auch an blauen Tagen
wird nichts zurückgenommen
Niemand kann es glauben:
Auch an blauen Tagen bricht das Herz

 

„Heidelberg 1989“ –

Hilde Domins Werksverzeichnis weist das Gedicht als eines der letztgeschriebenen aus. Die Vermutung, dass Erwin Walter Palms erster Todestag der Anlass war, lag nahe und unterstützte diese Sicht.
Heute wissen wir es besser. Ein Lebenskreis schließt sich.
Es klingt nach dem Stoff für einen Roman, wie Hilde Domins Originalbriefe aus den 40er Jahren 1995 den Weg zurück zu ihr fanden: Ein deutsches Ehepaar lebt zwei Jahre in New York. Der Mann nimmt dort eine Gastprofessur wahr, seine Frau lernt beim „Damenprogramm“ andere, an Ort und Stelle ansässige Professorengattinnen kennen und freundet sich besonders mit der älteren, belesenen Edith Baron an. Nach der Rückkehr nach Deutschland halten die beiden Frauen in einem regen Briefaustausch ihr Gespräch aufrecht. Leseerfahrungen werden diskutiert, man spricht über Lieblingsschriftsteller, es fällt von deutscher Seite der Name „Hilde Domin“.
Edith Baron war von London aus in die USA emigriert. In London hatte Hilde Domin die Literaturwissenschaftlerin im Hause ihrer Tante kennengelernt. 1941 nahmen die beiden Frauen ein Briefgespräch auf, das vom intensiven geistigen Austausch lebte. Baron beurteilte, korrigierte und wurde, ohne es zu ahnen, zur zuverlässigen Lektorin der ersten Gedichte Hilde Domins. Edith Baron bewahrte ihre kostbare Korrespondenz auf dem Dachboden ihres Ferienhäuschens auf.
Viele Briefe von ihr lagern auf dem Speicher meines Ferienhäuschens, schreibt die Amerikanerin deshalb der deutschen Freundin und daran erinnert sich diese, als sie 1995 die Nachricht vom Tod der alten Dame erhält. Sie setzt sich mit deren Tochter in den USA in Verbindung und bietet an, den Kontakt zu Hilde Domin herzustellen. Die Tochter Edith Barons ist erleichtert, dass sie die intimen Briefe wieder den Händen ihrer Verfasserin anvertrauen kann.

Zwischen den Briefen der amerikanischen Freundin findet sich ein Manuskript. Das ursprüngliche Manuskript von „Ein blauer Tag“.
Es ist auf März 1959 datiert.
Im März 1959 hatte sich Hilde Domin ins Tessin zurückgezogen, um die Gedichte für ihren ersten Gedichtband zusammenzustellen. Sie ließ dort auch ihr Leben Revue passieren.

Nichts Böses kann Dir kommen an einem blauen Tag.

Trügerische Hoffnung. Der 3. September 1939 war ein Sonntag, ein herrlicher Spätsommertag, und er brachte das Böse. Das junge Ehepaar Palm und die Eltern Löwenstein saßen mit ihren englischen Vermietern vor dem Radiogerät auf einem Hügel in Minehead und erwarteten die angekündigte Kriegserklärung von Großbritannien an Deutschland. Die Worte des britischen Königs Georg VI. sollten sich fortan nicht mehr vom tröstlichen Blau eines herrlichen Tages trennen lassen: „In this grave hour“ bedauerte der Monarch gegenüber seinem Volk, den Krieg „on such a beautiful blue day“ erklären zu müssen.

Ein blauer Tag
die Kriegserklärung.
[…]
ein König weinte.
Niemand konnte es glauben.
Ein blauer Tag
und doch war Krieg.

War es nicht auch ein herrlicher, blauer Tag, als der Krieg ausbrach? – auch in ihrem Roman Das zweite Paradies scheint die Erinnerung an die Natur die politische Dramatik zu dominieren. Dabei änderte die Kriegserklärung das Schicksal Tausender nach England geflohener Emigranten, die nun plötzlich zu alien enemies erkläre wurden. Stefan Zweig teilte die Flüchtlingserfahrungen jener Tage in England mit Hilde Domin. Im Juni 1940 fanden sie sich auf demselben Schiff, der „Skythia“, und flohen aus Europa. Auch Zweig bewegte die Unvereinbarkeit der lieblichen Natur und der trostlosen Politik:

Es war wieder Krieg. […] Von draußen kam das unbekümmerte Zwitschern der Vögel, die in leichtfertigem Liebesspiel sich tragen ließen vom lauen Wind.

Die englischen Hausbesitzer versuchten, der „grave hour“ die Bedrohlichkeit zu nehmen. Sie zollten dem herrlichen Herbsttag Respekt und luden ihre deutschen Mieter ein, mit ihnen im Auto auf den nahen Hügel zu fahren, um von dort aus gemeinsam das Spektakel eines unvergleichlichen Sonnenuntergangs hoch über dem Bristol Channel zu genießen – als könnten Flora und Fauna dem Wahnsinn des Krieges die Stirn bieten:

Die Blumen öffneten ihr Nein,
Die Vögel sangen Nein

„Wie die großartige Natur doch die Dummheit der Menschheit vergessen machen kann“ – Stefan Zweig empfand nicht anders, als er sich am 5. September 1939 seinem Tagebuch anvertraute.
Jenes unruhige Amalgam aus Sehnsucht nach Frieden und unmittelbarer Bedrohung hatte sich tief im Gedächtnis der jungen Hilde Domin festgesetzt. Es blieb explosiv unter der dünnen Haut des Vergessens und brach in jeder vergleichbar schmerzlichen Lebenssituation aus der alten Wunde hervor. Auch zwanzig Jahre später noch: Das Jahr 1959 besiegelte das Ende der Liaison von Hilde Domin und dem Leiter des S. Fischer Verlags. Das Frühlingsblau des Tessins konnte damals keinen Trost für sie bereithalten.

Auch an blauen Tagen wirst du verlassen.

Mit Erwin Walter Palms Tod hatte Hilde Domin endgültig den Verlust ihrer Liebe und die unabänderliche Vertreibung aus dem zurückeroberten Paradies zu beklagen. Am 7. Juli 1989 jährte sich Erwin Walter Palms Tod zum ersten Mal. Dieser Tag war ein heißer Sommertag.

Gestorben wird auch an blauen Tagen
bei jedem Wetter.

Wie schon 1939 widersetzte sich die Natur nicht den widrigen Lebensereignissen.
1939 – 1959 – 1989 – drei Schicksalsjahre, die wenig sanft mit Hilde Domin umgegangen waren, selbst wenn ein blauer Himmel sie überspannte:

Auch an blauen Tagen
bricht das Herz.

Marion Tauschwitzaus Marion Tauschwitz: Hilde Domin – Das heikle Leben meiner Worte, VAT Verlag André Thiele, 2012

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