Marion Tauschwitz: Zu Hilde Domins Gedicht „Mein Herze wir sind verreist“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hilde Domins Gedicht „Mein Herze wir sind verreist“. 

 

 

 

 

HILDE DOMIN

Mein Herze wir sind verreist
Für E.W.P.

Mein Herze
wir sind verreist
nach verschiedenen Weltteilen
Eurydike
meine Hand
deine Schulter berührend
Ich schreibe mit deinem Stift
ich möchte eintreten
durch diese großen Trichter
am Meer
in das Reich
in dem du gehst oder liegst
oder stehst
in dem du jetzt alles weißt
oder alles vergißt

Ich dein schneller dein zu langsamer
Weggefährte
Ich komme hinter dir her
„Langsamer“ sagst du wie immer
„Sei langsam“

So sitze ich hier
hoch über dem Meer
blau grün fern
deinen Stift in der Hand

 

Drei Monate nach dem Tod

ihres Mannes nahm Hilde Domin die Einladung ihrer portugiesischen Freundin Maria José Peixoto Lieberwirth nach Portugal an, die Domin während der Jahre von Palms Krankheit beigestanden hatte. Hilde Domin sollte losgelöst vom erinnerungsschweren Zuhause um ihren Mann trauern können – in einem Haus auf einer Felsklippe hoch über dem Meer. Selbst vom Bett blickte man auf den Atlantik, auf seine Brandung und die typisch bizarren Felsformationen der Algarve. Hilde Domin kletterte täglich den steinigen, schmalen Pfad zum Strand hinab und saß bis weit nach Sonnenuntergang bei den großen ausgewaschenen Felsentrichtern – stumme Zeugen der Ewigkeit. Eingang zur Unterwelt. Durch solch einen Eingang war Orpheus seiner Eurydike gefolgt. Dort unten am Meer schrieb die Dichterin ihr zärtliches Abschiedsgedicht „Mein Herze wir sind verreist“. Sie schrieb es mit dem goldenen Stift Erwin Walter Palms.
Mein Herze wir sind verreist. Mit Mein Herze hatte Hilde Domin ihren Mann in Hunderten von Briefen angesprochen. Mein Herze – wie in den Kantaten Bachs, die sie in Santo Domingo auf geliehenen Schallplatten gehört hatten: „Mein Herze schwimmt im Blut“ oder „Mache dich, mein Herze, rein.“

Das schönste und anrührendste Gedicht… „Mein Herze“ beginnt es. Nicht: Mein Herz. Wann hat ein kleines e so viel Charme, so viel Zärtlichkeit entfaltet?

Harald Hartung, der 2006 in der FAZ den Nachruf auf Hilde Domins Tod schrieb, konnte nicht ahnen, wie viel mehr Symbolik Domins Worte tragen. Greifen sie doch ein letztes Mal den bitteren, jahrzehntelang schwelenden Wettkampf des Paares um die Dichtkunst auf, dem der Tod erst ein Ende gesetzt hatte. Hilde Domins Worte flossen aus Erwins Stift. Damit hob sie den im Dichterstreit ewig Unterlegenen in den Rang des Dichters und damit erfüllte sich, wofür sie ihr Leben lang gekämpft hatte:

Das Glück wäre, Dich in alles dies hineinnehmen zu können.

Mit diesem Abschieds-Gedicht ging Hilde Domin nochmals in das Jahr 1963 zurück. Sie hatte das Gedicht „Brief auf den anderen Kontinent“ vom November 1963 ihrem Mann 1964 nach Mexiko geschickt – und ihn heftig erzürnt.

Sieh Dich nicht um
nach mir
Eurydike,
immer mit dir
die Hand
deine Schulter berührend
unter den fernen Bäumen.

Erwin Walter Palm hatte ihr Unkenntnis der Mythologie unterstellt, wogegen sich Hilde Domin energisch verwahrte:

Eurydike, die arme, geht hinter Dir, doch. Ich klammere sie also ein, damit Missverständnisse vermieden werden. Für wen hältst Du mich denn, dass ich die griech. Mythologie nicht kennen sollte.

In ihrem Antwortbrief schickte sie ihm das Gedicht gleich noch einmal zu.
Orpheus, dessen Gattin Eurydike am giftigen Biss einer Schlange gestorben war, hatte sich in die Unterwelt begeben, um den Gott Hades zu bewegen, sie wieder ins Leben holen zu dürfen. Seine Bitte wurde ihm gewährt, unter der Bedingung, dass sich Orpheus beim Aufstieg in die Oberwelt nicht nach Eurydike umsehen durfte. Doch der Barde traute ihrem leisen Schritt nicht, blickte sich um und machte damit Eurydikes Rückkehr in das Reich der Lebenden zunichte.
Hilde Domin empfand sich in den Sechzigerjahren von Erwin ähnlich zurückgelassen. Kontinente weit entfernt, nicht nur räumlich in verschiedenen Weltteilen – damals wie im Tod. 1964 hatte sich Hilde Domin sogar von Erwin Walter Palm in das Schattenreich verstoßen gefühlt. Sie hatte seinen fehlenden Beistand beklagt, als die Wellen der kritischen Literaturszene über ihr zusammenschlugen. Ja, sie unterstellte ihm sogar, den Schattenkrieg gegen sie aus Neid auf ihren literarischen Erfolg angezettelt zu haben:

Der Winter, die Krankheit, der Schattenkrieg, den Du hast inszenieren lassen u der mein Leben frisst. Merkwürdig schwer die Rettung, man kann nur beten.

Auch in der Mythologie hatte Orpheus versagt und Eurydike nicht aus der Unterwelt befreit.
Nun nahm Hilde Domin in dem zärtlichen Abschiedsgedicht genau dieses Motiv auf:

Mein Herze
wir sind verreist
nach verschiedenen Weltteilen
Eurydike
meine Hand
deine Schulter berührend.

Doch die Rollen hatten sich vertauscht. Eurydike blieb in der Oberwelt zurück, während Orpheus in das Schattenreich vorausgegangen war. „Langsamer“ sagst Du wie immer. „Sei langsam“. Erwin Walter Palms handgeschriebener Zettel mit diesen mahnenden Worten hing bis nach Hilde Domins Tod an ihrer Zimmertür: „Sei langsam“. Der Tod hatte den unwürdigen Kampf um das An-erster-Stelle-Gehen beendet. Die einst gehegte Hoffnung, dass Orpheus seine Eurydike aus dem Schattenreich führen könnte, hatte sich überlebt. Eurydikes Hand auf seiner Schulter war kein Akt der Hilflosigkeit, sondern zärtliches Zeichen ihrer Gefolgschaft. Ich werde in hellem Licht an Deiner Seite leben und schreiben und gesund werden und Dich lieb haben – prophetisch muten Hilde Domins Zeilen aus einem Brief von 1963 an.
Lag in Erwin Walters Tod Befreiung? Ein Theologe aus Ludwigsburg berichtete von einem langen Telefonat, das er mit der Dichterin unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes geführt hatte. Sie erzählte ihm darin von der liebgewonnenen Tradition des „Bibelstechens“, das beide seit Beginn ihrer Freundschaft pflegten: Mit einer Miniaturausgabe des Eiffelturms tippten Erwin Walter Palm und Hilde Domin am Neujahrsmorgen auf eine Bibelstelle, aus der sie Omina für das kommende Jahr lasen. Hilde Domin hatte unmittelbar nach Palms Tod diesen Brauch aufgegriffen und war im Alten Testament auf den Psalm 124 gestoßen: „Der Retter Israel“: Unsere Seele ist entronnen wie ein Vogel dem Netz des Vogelfängers; das Netz ist zerrissen, und wir sind frei, liest man im siebten Vers des Psalms. Wie im Orakel zu Delphi lässt die Auslegung offen, wer der Befreite war.
Wenn Hilde Domin in Portugal in Momenten der größten Verzweiflung aus tiefer Trauer weit ins offene Meer hinausschwamm – Warnungen, Wellen und Strömung ignorierend –, so dass die Freunde fürchteten, ihre Kräfte könnten für den Rückweg nicht ausreichen, gab sie sich dem Schicksal nicht preis, eher schwamm sie sich frei. Hilde Domin wusste um die Begrenztheit des irdischen Lebens. Sie würde ihrem Mann nachfolgen. Doch in der verbleibenden Zeit wollte sie aus dem gemeinsamen Brunnen der Worte schöpfen: mit seinem Stift in der Hand.

Marion Tauschwitzaus Marion Tauschwitz: Hilde Domin – Das heikle Leben meiner Worte, VAT Verlag André Thiele, 2012

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