Einsamkeit

Vor Jahren hat H. ein erfolgreiches, inzwischen mehrfach nachgedrucktes und in verschiedene Sprachen übersetztes Werk über »Einsamkeit und Gesellschaft« veröffentlicht. Noch heute gilt er, obwohl – oder weil – jenes Buch sein einziges geblieben ist, in breiten Kreisen als Experte in Sachen Einsamkeit und wird immer wieder von Lesern, die sich selber als einsam bezeichnen, um Rat gefragt. Dabei scheint es, wie H. nun im Vorwort zur neusten Auflage berichtet, so zu sein, daß die Leser in ihrer überwiegenden Mehrheit den Autor als ihresgleichen ansprechen, offenbar in der zweifelsfreien Annahme, daß einer, der über Einsamkeit schreibe, seinerseits einsam sein müsse.

Dieses Mißverständnis ist ebenso trivial, wie es fruchtbar sein könnte. Es beruht auf der nach wie vor üblichen Gleichstellung und somit auf der Verwechslung des Autors mit seinem Gegenstand; es wird aber auch genährt durch die allgemein verbreitete Vorstellung, daß einer, der schreibt, stets transitiv schreibe, indem er über etwas (Bestimmtes) schreibt oder es beschreibt. Die ohnehin fluktuierende Demarkationslinie zwischen Primär- und Sekundärliteratur, zwischen Text und Kommentar wird hier, bewußt oder unbewußt, vollends verwischt. Und tatsächlich hat, wer von seinem Friseur, seinem Briefträger oder dem Nachbarn im Strandkorb nach seiner beruflichen Tätigkeit gefragt wird und das Schreiben als eine solche ausgibt, mit Sicherheit die Zusatzfrage zu gewärtigen, »worüber« oder »für wen« er denn schreibe.

H. also hat ein Buch über die Einsamkeit geschrieben; und gerade dies läßt darauf schließen, daß er bei dessen Niederschrift nicht einsam – wenn auch möglicherweise allein – gewesen ist. Er hatte ja doch sein vorgegebenes Thema und ein vorgefaßtes Ziel, etwas, das außerhalb seiner selbst lag: von der Einsamkeit konnte es handeln, weil es sich dabei um die Einsamkeit der andern handelte; weil die Einsamkeit sein Gegenstand, nicht aber sein Problem war; weil die Position, von der aus er über die Einsamkeit schrieb, diesseits der Einsamkeit lag.

(Grundsätzlich einsam bleibt demgegenüber die Position dessen, der intransitiv schreibt. Das Schreiben um des Schreibens willen, wie es vor allem im Tagebuch, gelegentlich auch in der Poesie, in der Philosophie praktiziert wird, ist die einsame Geste schlechthin; eine irre, eine subversive, folglich »verbotene« Geste; eine Provokation. Der in solchem Verständnis einsame Autor kann, weil er schreibt wie er lebt, nicht mehr beschreiben, wie er lebt; er lebt, weil er schreibt; sein Ort und sein Wort sind eins: Einsamkeit als schon immer – für immer – verlorener Posten.)

Der einsam Schreibende kann nicht aus seinem Text heraustreten – er kann aber auch nicht sterben darin. Darin lag Amiels Triumph: daß sein viele tausend Seiten umfassender Text erst nach seinem Tod allmählich lesbar wurde und in dem Maß, wie man ihn las, zu werden begann.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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