Marion Tauschwitz: Zu Hilde Domins Gedicht „Pícara“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hilde Domins Gedicht „Pícara“. 

 

 

 

 

HILDE DOMIN

Pícara

Ich war der reife Apfel
der fast auf den Boden hängt.
Du brauchtest keinen Finger zu rühren.
Ich sagte: „Öffne deinen Mund
und iß mich.“

Das war in der Schlaraffensaison,
wo die gesottenen Hühner und Enten
mit Messer und Gabel im Rücken
nach deinem Versprechen verlangten
daß du sie zu verspeisen geruhst.

Jetzt bin ich die kleine grüne Frucht
auf dem obersten Zweig
wo der frische Wind bläst.
Die Tauben gurren auf den Dächern
ganz ungebraten.

Und das verschmähte Menü
muß gereift und gepflückt
gefangen und gerupft werden,
wenn und soweit du’s
zu locken zu fangen zu reifen zu pflücken
zu rupfen zu braten verstehst.

 

Im Dezember 1960

schloss Hilde Domin ihren Roman ab und war bereit, ihrem Mann nach Heidelberg zu folgen. Wieder sollte ein Zehn-Punkte-Vertrag moralische Stütze sein und schriftlich fixieren, was Domin gefordert hatte: gegenseitige Freiheit hinsichtlich Stimmung und Zeit.
Hilde Domin hatte sich gewandelt. Das Gedicht Pícara nimmt Hilde Domins Entwicklungs-Prozess auf: der frische Wind bläst Erwin Walter Palm entgegen. Schelmisch scheint der erhobene Zeigefinger zu drohen und provoziert Bilder aus dem Märchen vom Schlaraffenland. Doch seit langem schon war das Leben kein Fingerlecken mehr. Hilde Domin war ihr Anliegen ernst. So ernst, dass sie es zwei Jahre später in ihren Gesammelten autobiographischen Schriften aufgreift:

Früher war ich rundlich und prall, jetzt bin ich grazil. Früher plante ich, jetzt ist jeder Tag immer nur Heute, selbst der Abend ist jedem Morgen unvorstellbar weit weg. Ich, so nützlich, bin unnütz geworden. Und, was das Schlimmste ist, ich bin ein Sohn, der alles umgekehrt tut. Der viel Geduld verlangt und den man manchmal am liebsten hinauswürfe. Jeder Atemzug, den ich tue, ist der eines enfant terrible.
Ich war der reife Apfel der fast auf den Boden hängt
[…]. Jetzt bin ich die kleine grüne Frucht auf dem obersten Zweig […].

Ohne die biographischen Hintergründe zu kennen, erschließen sich weder Gedicht noch Prosatext. Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war nie Kritiker und Gentleman. Da er mit Domins Aussage wenig anfangen konnte, mokierte er sich in einer Rezension von Gesammelte autobiographische Schriften frank und frei:

Früher war sie – lesen wir – „rundlich und prall, jetzt bin ich grazil“. Mit schöner Direktheit informiert uns die Dichterin: […] Hilde Domin scheint […] außerhalb jeder Regel.

Mit Nur eine Rose als Stütze war Hilde Domin die Anerkennung der Öffentlichkeit als Lyrikerin zugeflogen. Die erste Rezension von Walter Jens in der ZEIT vom 27. November 1959 lobte die Autorin überschwänglich und hob sie in den Rang von Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Günter Eich, Marie Luise Kaschnitz und Nelly Sachs. Der brillante Rhetoriker und Tübinger Professor der Klassischen Philologie, Mitglied der Gruppe 47, sprach von der „Spur der Meisterschaft in diesem Erstlingswerk“. Domin habe es verstanden zu warten, von ihr müsse man nicht die krause Metaphorik befürchten, um die sich gerade Laien bemühten, um nicht epigonal zu erscheinen. Man könne Vertrauen zu ihrer Sprache gewinnen, die „schwebendleicht wie eine Rose, und die geheimste Zuflucht der aus dem Paradies Vertriebenen, über Länder und Meere Gejagten ist“. Sollte sie sich also eine Karriere als Dichterin versagen, nur um die Eifersucht ihres Mannes zu besänftigen?
Atmet das Gedicht „Die Heiligen“ religiöse Ehrfurcht, so verströmt „Pícara“ pure Lust am Schelmenstreich. Der Leser könnte verführt sein, das Gedicht als Gelegenheitsgedicht beiseite zu legen, weil sich seine Bilder scheinbar gar zu mühelos aufdrängen. Möglicherweise ist „Pícara“ deshalb in der literaturwissenschaftlichen Betrachtung eher vernachlässigt worden.
Greift „Pícara“ ein typisches Problem aus Domins Zeit in Spanien auf? Denn das Werksverzeichnis datiert das Gedicht auf die Madrider Zeit von 1960. Tatsächlich aber lag „Pícara“ als unverändertes Manuskript seit dem Juni 1952 vor, in Haiti geschrieben.
Damit belegt das Gedicht einerseits, wie wenig sich die Beziehungsstrukturen des Paares seit 1952 verändert hatten. Sie durchbrachen nicht den unsichtbaren Kreis um den Ziehbrunnen, in dem wir uns drehn wie in einem Gefängnis. Doch neu ist – und das war bisher nicht bekannt – dass Hilde Domin damals schon ihre alte Haut abgestreift hatte und nicht gewillt war, in die abgeworfenen Hüllen zurückzukriechen. Die entscheidende Kehrtwende hatte Hilde Domin offensichtlich schon 1952 vollführt, nicht erst 1960. Damals fasste sie den Entschluss, den Falken ihres Verstandes nicht ausschließlich für ihren Mann auf die Jagd zu schicken. Sie hatte es satt, der reife Apfel zu sein, gefällig und stets zu Diensten und hatte die Schlaraffensaison damals schon für beendet erklärt.

 

Ein dünnes Bändchen mit 35 Gedichten manifestierte ihren Entschluss. Es unterschied sich deutlich von Erwin Walter Palms erstem Druck. Die Herstellung seines Pocket Guide of Santo Domingo hatte Hilde Domin 1942 persönlich überwacht. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Es war aufwändig gebunden, die bescheidenen Objecte [waren] mit einer Liebe beleckt und bestreichelt und aufgezäumt, dass ihre Einfachheit in neuem Glanz bestach. Die Anstrengung hatte ein dickes Loch in die ohnehin magere Haushaltskasse gerissen.
Hilde Domins kleiner Gedichtband hatte es nicht nötig, „aufgezäumt“ zu werden: In einfacher Handarbeit sind die Doppelblätter mit Fäden zusammengeheftet, Karton zweifach zum Einband verleimt worden. Kein kostspieliger Druck, sondern mönchische Kopierarbeit sorgte für die Vervielfältigung. Die Verfasserin hatte als „Denise Isla“ gezeichnet und in dem Pseudonym schon damals ihr Inseldasein gespiegelt – psychisch und physisch. Das schlanke Bändchen war von New York aus an den Pflugverlag Thal in St. Gallen geschickt worden, der sich gegen eine Aufnahme des Werkes aussprach, auch wenn er die Gedichte durchaus wertschätzte.

Wie ist der Titel des Gedichts zu verstehen? Ein seichtes Schelmenspiel? „Pícara“ bedeutet auf Spanisch „Schlingel, Schelm“. Doch auch diesmal birgt der Titel mehr Tiefe, als das erste Lesen vermuten lässt. La pícara Justina heißt der Roman, den der spanische Dominikanermönch Andrés Péres de León 1605 nur unter dem Pseudonym Francisco Lopez de Ubeda zu veröffentlichen wagte. Zu frivol und anzüglich, zu gewagt – so urteilten Kritiker über die gewählte Thematik und die Sprache. Dass obendrein zum ersten Mal eine Frau zur Protagonistin eines Werkes erhoben wurde, galt als unschicklich. Auch Miguel de Cervantes tadelte den Autor dafür. Pícara Justina ist eine durchtriebene Lebenskünstlerin. Eine Landstreicherin. Obwohl ihre Umwelt ihr jede Moral absprach, war sie im tiefsten Innern tugendhaft und bemüht, sich ihre Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit zu bewahren. Der gewählte Ehemann entpuppte sich als wenig würdig, war er doch ein betrügerischer Spieler – La Pícara hatte sich für den Falschen aufgeopfert.
Der Vorspann der deutschen Übersetzung beruft sich ausdrücklich auf das spanische Original und diente Hans Christoffel zu Grimmelshausen als Quelle für seine „Landstörzerin Courage“. In den dominikanischen Bergen gehörte Grimmelshausen zu Hilde Domins Lektüre.
Grimmelshausen zeichnet mit seiner Landstörzerin ein weibliches Schicksal im Treiben des Dreißigjährigen Krieges nach und schuf mit der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage eine Figur, die Brecht zu seiner Mutter Courage inspirieren sollte. Sie ist eine Frau jenseits der traditionellen religiösen und moralischen Normen, zu keiner Zeit bereit, ihre Identität aufzugeben. Bei Grimmelshausen durchläuft sie alle männlichen Berufssparten. Sie ist Rittmeisterin und Hauptmännin, avanciert gar zum Leutnant und bewährt sich als Musketier, bis sie schließlich zurück in die Rolle der Marketenderin fällt – in jeder Rolle bewährt sie sich meisterlich – Simplicissimus zum Verdruss.
Wo ist die Verbindung zu Hilde Domin? Sie war „die Lebenspartnerin, […] [Sie war] nur Ehefrau, nur Frau, nur Sekretärin, nur Managerin, nur Beschützerin, nur Freundin, die ihn motivierte und ihm Kraft gab. […] Für die ärgerlichen Rechnungen, das noch lästigere Geld beschaffen, die täglichen Einkäufe – für die ganze Alltagsroutine war Hilde zuständig. Sie führte den Haushalt, kopierte Manuskripte, löste dringende Probleme und lächelte dabei liebenswert, während das enzyklopädische Werk ihres Mannes immer umfangreicher wurde.“ Die junge Ivelise Prats Ramírez, die spätere Kultusministerin der Dominikanischen Republik, gab diese Beschreibung, als sie sich 1988 anlässlich des Todes von Erwin Walter Palm an das Paar erinnerte.
Wie Grimmelshausens Landstörzerin, die trotz ihres Leids nicht resigniert und niemals aufhört, sich durch das Positive an einer Situation motivieren zu lassen, vertraute auch Hilde Domin auf die Anrufbarkeit des Anderen. Nicht im Stich zu lassen – Plädoyer für ein menschliches Miteinander. Eine Mindestutopie, die ihre Jungfräulichkeit schon im Paradies verspielt hatte. Nach dem Sündenfall blieb der Garten Eden verschlossen, die Schlaraffensaison war beendet. Die Metaphern ergänzen sich. Die des unschuldigen Gartens greift Hilde Domin in ihrem Roman Das zweite Paradies auf:

Als die Tür ins Helle wieder aufging, und sie sich von neuem miteinander in einem Garten fanden, sagte sie laut und nachdrücklich: „In diesem Garten gelten andere Spielregeln als früher.“

Das zweite Paradies und die Endfassung von „Pícara“ entstanden zeitgleich 1960 in Madrid.

Als Hilde Domin 1983 in der Heidelberger Heiliggeistkirche den Weihnachtsgottesdienst besuchte, machten ihr die Worte aus dem Lukasevangelium, einer Offenbarung gleich, dieses Weihnachtsfest unvergesslich.

Und der Engel mit dem Schwert gab in dieser Nacht die Paradiespforte wieder frei. „Die Tür zum Paradies“ hiess es. Das Paradies und ob man zurück kann. Ich hatte es mir nie überlegt, dass es ja weiter bewacht und verboten ist. Um so aufregender diese nie gehörte Botschaft. Das war für mich die Weihnachtsbotschaft: dass in dieser Nacht der Cherub den Wachposten räumte.

Dem Cherub ähnlich rief Hilde Domin schließlich ihren Wachposten vom Eingang zum Paradies ab und öffnete sich dem Leben im Zweiten Paradies. An der Seite von Erwin Walter Palm.

Marion Tauschwitzaus Marion Tauschwitz: Hilde Domin – Das heikle Leben meiner Worte, VAT Verlag André Thiele, 2012

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