Michael Braun: Zu Sandra Burkhardts Gedicht „Die Bahn einer Meeresschildkröte“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Sandra Burkhardts Gedicht „Die Bahn einer Meeresschildkröte“ aus Sandra Burkhardt: wer a sagt. –

 

 

 

 

SANDRA BURKHARDT

Die Bahn einer Meeresschildkröte

Bin als Kopffüßler geboren
bedeutet habe Mühe Hänge zu beschreiten denn
ich verliere mein Gleichgewicht und kippe hinten über
schlage mit dem Hinterkopf auf wenn ich Schluckauf habe rolle
ich herum und mit Mnemotechnik behalte ich alles davon ich
bin mit Sumpfkopf geboren was bleibt mir als im Moor spazieren zu gehen
wo ich Mörikes Schlüsselbein fand im Geäst eines Strauchs
öffnete mein Schädelfenster tauschte es
für mein Tränenbein aus für Menschen mit Händen
im Rhythmus der Arbeit skandieren im Ruhestand
im Ruhestand so mancher keine Ruhe fand beim
Frühjahrsputz der Dreck aller Ecken in die Mitte
dann ab mit dem Müll ins Moor
und mit dem Magnetpol 90
Meter pro Tag Richtung Nordwest wandern

 

Die unendliche Reise der Meeresschildkröten

im Atlantischen Ozean ist schon fast zu einem mythischen Topos geworden. Gleich nachdem sie an irgendeinem Strand aus dem Ei geschlüpft sind, beginnen sie mit ihrer großen Wanderung, auf der Flucht vor ihren natürlichen Feinden. Sofern sie sich ins Meer retten können, vergehen 25 Jahre, bis sie ihre Reise beenden, an ihren Geburtsstrand zurückkehren, sich paaren und selbst Eier ablegen. Diesen Mysterien der „Fischbahnen“, den Bewegungsformen des Zackenbarschs, des Zitteraals oder eben der Meeresschildkröte und ihren phänomenalen Erscheinungen im Kraftfeld von Land und Meer hat die junge Leipziger Dichterin Sandra Burkhardt einen faszinierenden Zyklus gewidmet. Das lyrische Ich, das in diesen Gedichten spricht, wählt die Perspektive der Wassertiere, aber die Ich-Figuration bleibt stets fluid, auch die Perspektive des schreibenden Subjekts mischt sich ein, biologische Fakten verbinden sich mit erd- und kulturgeschichtlichen Reflexionen, auch mit Anspielungen und Zitaten aus der Sphäre der Literatur. Der sich im vorliegenden Gedicht als „Kopffüßler“ ausweist, also als Gestalt, die nur aus einem kopfähnlichen Gebilde und aus Beinen besteht, ist in seiner Bewegungsfähigkeit eingeschränkt, gerät bei jeder Gelegenheit „aus dem Gleichgewicht“. Und auch das vorliegende Gedicht tut alles dafür, den Leser und die Leserin aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das lyrische Ich schlüpft in die unterschiedlichsten Rollen, vollzieht an sich selbst die tollkühnsten Verwandlungen, bis hin zu dem Umstand einer imaginär generierten anatomischen Mutation, den Austausch bestimmter Organe des Bewegungsapparats. Und hier kommt zusätzlich ein literarischer Mythos ins Spiel. Vor einiger Zeit war die Fiktion von „Mörikes Schlüsselbein“ ein Nebenmotiv in einem Roman der deutsch-russischen Autorin Olga Martynova. Das „Original“ von Mörikes Schlüsselbein ruht als Reliquie in einer Vitrine im legendären Evangelischen Stift in Tübingen, wobei die Herkunft des gezeigten Knochens ungeklärt ist. „Mörikes Schlüsselbein“ fungiert auch bei Sandra Burkhardt ausschließlich als poetisches Spielmaterial, das hier eingeschmuggelt wird in ein Gedicht über Verwandlungen, das vorangetrieben wird durch immer neue kleine Rätsel, den „Sumpfkopf“, das „Schädelfenster“ oder das „Tränenbein“, die hier in immer neuen Gestalten auf unsicherem Grund wandern.

Michael Braun, Volltext, Heft 4, 2018

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00