Michael Krüger: Zu Christine Lavants Gedicht „Der Mond kniet auf“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Christine Lavants Gedicht „Der Mond kniet auf“ aus Christine Lavant: Die Bettlerschale. –

 

 

 

 

CHRISTINE LAVANT

Der Mond kniet auf

Der Mond kniet auf. Im Laub der Feuerbohnen
verstummt die Grille, langsam füllt der Tau
die gelben Teller aller Sonnenblumen.
Mit langen Fingern greift das Grummetgras
der Nebelkatze, die am Fluß sich streckt,
ins graue Fell. Das Schilf verbirgt die scheuen
Schwärme der Vögel, die nicht weiterkönnen.
Manch einer ruft sehr lange vor sich hin;
das klingt so traurig, daß der Weidenzweig,
vor dem ich stehe, über mir erzittert.
Vielleicht ist’s Tau, vielleicht Zykladenschaum,
was jetzt herabtropft über meine Wangen.

 

Frau Hiob

Wer schreckhaft veranlagt ist, sollte sich zum nächtlichen Spaziergang nicht gerade Christine Lavant als Begleitung wählen. „Hochsommernacht und so voll Frost“, ruft sie aus, als wollte sie die Ordnung der Welt und alle Naturgesetze auf den Kopf stellen. Die Schöpfung, so ihr vernichtendes Fazit, ist verfehlt. Und wir sind unfähig, mit diesem Provisorium umzugehen.
Christine Lavant ist die letzte deutschsprachige Dichterin, die es mit Gott persönlich aufgenommen hat, im Vergleich zu ihr sind alle „katholischen“ und „protestantischen“ Dichter sanfte Sozialarbeiter. „Das war mein Leben, Gott, vergiß das nicht“, herrscht sie ihn an, „sag keins der lauen Worte deiner Frommen! / Ich will ja nicht in ihren Himmel kommen!“ Die Lavant, von Armut und Krankheit zeitlebens gezeichnet, ist Häretikerin – und zugleich voller Demut und Liebe. Sie liebt ihren Gott, aber es scheint fraglich, ob Gott die Liebe dieser aufbegehrenden und fordernden Dichterin erwidert hat.
Christine Lavant, während des Ersten Weltkrieges in Kärnten geboren und 1973 in Wolfsberg gestorben, gehört noch immer zu den unbekannteren deutschsprachigen Dichterinnen, trotz des Fürspruchs von Ilse Aichinger und Thomas Bernhard. Dabei steht ihr 1956 erschienenes Buch Die Bettlerschale gleichrangig neben der im selben Jahr veröffentlichten Anrufung des Großen Bären von Ingeborg Bachmann: Es war das Jahr, in dem Benn und Brecht starben, die beiden agnostischen Dichter, die den Himmel leer geräumt hatten.
In diese pragmatisch gewordene Welt, als deren negative Chronisten bald Beckett und Ionesco gefeiert wurden, ragen die naturmystischen Versenkungen der Christine Lavant wie unzeitgemäße Zaubersprüche. Man kann sich kaum vorstellen, daß sie „gemacht“ wurden; eher schon, daß eine dunkle Inspiration sie hervorgebracht hat. „überhaupt ist mir das Dichten so peinlich“, hat sie einmal geschrieben, weil sie offenbar selbst am tiefsten von dem überrascht war, was sich auf dem Papier versammelte. Dabei sind nicht nur die Vorbilder erkennbar, Rilke und Trakl vor allem, sondern es wird auch die Arbeit des Gehörs deutlich: Die vielen Doppelvokale (auf, Laub, Tau, grau, traurig) und die versteckten Reime zwingen den Leser, der Stimme der Dichterin in die schattigen Bezirke ihrer Einbildungskraft zu folgen. Ich kann mir gut vorstellen, daß viele heutige Leser diese exzentrische, schwermütige Poesie ablehnen.
Ich selbst dagegen werde immer wieder von ihrem magisch-lockenden Lyrismus eingefangen, gerade weil er eine Welt beschwört, die mit unserer Realität nichts, aber auch gar nichts gemein hat. Auf jeden Fall muß man immer an die arme Frau aus dem Lavant-Tal denken, wenn man, auf langen Spaziergängen, plötzlich sieht, wie das Grummetgras der hingestreckten Nebelkatze ins graue Fell greift.

Michael Krügeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2002

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