Peter von Matt: Zu Friedrich Dürrenmatts Gedicht „Siriusbegleiter“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Friedrich Dürrenmatts Gedicht „Siriusbegleiter“ aus dem Band Friedrich Dürrrenmatt: Das Mögliche ist ungeheur. –

 

 

 

 

FRIEDRICH DÜRRENMATT

Siriusbegleiter

Von den Dingen, die ich sah
bist du mir besonders nah

Fühle aller Welten Schluß
Was da kommen wird und muß

Ein vollkommner Diamant
Hast du Raum und Zeit verbrannt

Deiner ungeheuren Schwere
Bleibt allein der Weg ins Leere

Dein dir anvertrautes Leben
hast du wieder weggegeben

Erdenkleiner Sternengreis
Heiß wie Feuer, weiß wie Eis

Deine Härte ist der Tod
Unsrer Herzen, der uns droht

 

Vom Sonnenschicksal

Friedrich Dürrenmatt war dem Kosmos verfallen wie Rilke den Rosen und Thomas Mann den Wagnerklängen. Ein Sog ging vom Weltraum aus und zwang ihn immer wieder hinter das Teleskop. Und wenn er über den Neuenburger See hinweg zum Hochgebirge blickte, sah er in den weißen Zacken nicht die riesige Natur, sondern nur eine zarte Kulisse vor der maßlosen Wirklichkeit der fahrenden Sonnen und schleudernden Galaxien. Seit Jean Paul hat es keinen deutschen Dichter gegeben, der so auf die Tatsächlichkeit des Weltalls bezogen war und es immerzu mit Augen sehen wollte und den Abgrund aushielt. Jean Paul versuchte verzweifelt, das astronomische Wissen seiner Zeit mit dem Schöpfergott zusammenzudenken, und im Scheitern gewann er das siderische Licht seiner Prosa. Dürrenmatt bezichtigte den Kosmos mit wütendem Hohn seiner Leere, und doch liebte er ihn am meisten um dieser Leere willen – als wäre sie die hohle Fußspur des alten Gottes.
Wie wenig ihm der Kosmos bloße Idee, wie durchaus konkret er ihm war, zeigt dieses Gedicht. Es versucht, das Allergewaltigste mit der Schlichtheit von Kinderversen aufzufangen. Worum es geht, ist das Schicksal der Sonne, auch der unsern. Dürrenmatt hat dieses Schicksal immer wieder zur Sprache gebracht, am ausführlichsten im „Winterkrieg in Tibet“. Da denkt einer tief im Innern des Himalaja „über die Sterne nach“ und schreibt an die Höhlenwand, wie die Sonnen entstehen und wieder enden.
Aus Gas und Nebeln kondensiert sich eine „Ursonne“. Sie wird rot und riesig. Dann stabilisiert sie sich zu einem „Gelben Zwerg“. Um ihn können auch Planeten kreisen: Es ist das Stadium unserer Sonne. Eines Tages bläht sich der Gelbe Zwerg wieder auf und explodiert und erfreut als Supernova die Astronomen, falls es irgendwo im Weltall solche gibt. Die Planeten brennen aus, und nach ungeheurem Lichtverschleudern endet die Nova als „Weißer Zwerg“: erdenklein, aber von extremer Dichte, diamanthart.
Der „Siriusbegleiter“, von dem das Gedicht handelt, ist einer der bekanntesten Weißen Zwerge am Osthimmel. Dürrenmatt muß ihn oft ausgespäht und meditierend betrachtet haben. Als winziger Punkt schwebte hier vor ihm der fünfte Akt eines kosmischen Trauerspiels – die „schlimmstmögliche Wendung“ im Sonnenschicksal.
Das Gedicht ist bewegt von unverstelltem Gefühl. Wieso diese herzliche Zuneigung gegenüber dem „Sternengreis“? Wird dieser denn nicht in seiner Härte zuletzt zum Gleichnis menschlicher Verödung, zur Metapher dafür, daß uns die Liebe verlorengehen kann wie der Sonne das „anvertraute“ Planetenleben? Soll man das schlechthin Lieblose noch lieben?
Das ist genau der Punkt. Dürrenmatt denkt nicht moralisch, sondern als Dramatiker. Das Furchtbare geschieht der Sonne. Sie erleidet die Zerstörung, die sie anrichtet. Das aber ist eine Formel für das Tragische. Alle hurtigen Weltdeutungen, die mit der Scheidung von Gut und Böse arbeiten, heben sich darin auf. Der gleichzeitig naive und erschreckende Reim: „Schluß“ – „muß“ ist dem Ganzen wie ein Siegel aufgeprägt.
So, in Abfolgen bitterer Notwendigkeiten, hat Dürrenmatt gedacht und denkerisch gespielt und Stücke erfunden. Und all das Bittere, Furchtbare, Unausweichliche, dem gegenüber er sich so gern in ein aristophanisches Gelächter flüchtete, trat ihm in diesem Sternchen aufs Mal vor Augen, rührend klein und ganz einfach. Dieser trügerischen Einfachheit entspricht die trügerische Einfachheit der Verse.

Peter von Matt, aus Peter von Matt: Die verdächtige Pracht, Erstdruck Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.6.1994

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