Peter von Matt: Zu Peter Huchels Gedicht „April 63“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Huchels Gedicht „April 63“ aus Peter Huchel: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Band I: Die Gedichte. –

 

 

 

 

PETER HUCHEL

April 63

Aufblickend vom Hauklotz
im leichten Regen,
das Beil in der Hand,
seh ich dort oben im breiten Geäst
fünf junge Eichelhäher.

Sie jagen lautlos, geben Zeichen
von Ast zu Ast,
sie weisen der Sonne
den Weg durchs Nebelgebüsch.
Und eine feurige Zunge fährt in die Bäume.

Ich bette mich ein
in die eisige Mulde meiner Jahre.
Ich spalte Holz,
das zähe splittrige Holz der Einsamkeit.
Und siedle mich an
im Netz der Spinnen,
die noch die Öde des Schuppens vermehren,
im Kiengeruch
gestapelter Zacken,
das Beil in der Hand.

Aufblickend vom Hauklotz
im warmen Regen des April,
seh ich an blanken
Kastanienästen
die leimigen Hüllen
der Knospen glänzen.

 

Der ungezähmte Dichter

Diese „eisige Mulde“. Volle acht Jahre musste der Mann mit dem Beil in der Hand darin leben, isoliert, von der Polizei rund um die Uhr bewacht, auch von den lokalen Behörden drangsaliert. Der Titel des Gedichts, „April 63“, bezeichnet den Beginn dieser faktischen Gefangenschaft. Der Mann war sechzigjährig und wohnte in Wilhelmshorst bei Potsdam. Ob er je wieder ein menschenwürdiges Leben führen würde, wusste er nicht. Die angeblich demokratische Republik mochte keine Bürger mit eigener Meinung. Verfügten diese zudem über eine unzähmbare Sprache, galten sie als Gefahr für den Staat. Wörter haben Flügel, das wusste schon der alte Homer, und da sich die DDR soeben sorgfältig eingemauert hatte, war alles, was fliegen konnte, staatsfeindlich.
Erst 1971, mit achtundsechzig Jahren, kam Peter Huchel frei, gezeichnet, aber nicht gebrochen, vom Trotz gehärtet, von seinem ungezähmten Wort genährt wie die alten Einsiedler von ihren getreuen Raben. Oder waren es Eichelhäher, fünf junge Eichelhäher? Von diesen spricht das Gedicht. Und damit stehen wir vor dessen Geheimnis. Weil der biographische Hintergrund bekannt ist und der Titel demonstrativ darauf verweist, scheint die Arbeit des Verstehens vorgezeichnet. Das Gedicht arbeitet mit allerlei Metaphern, aber wir wissen ja, was sie chiffrieren, und können also fröhlich dechiffrieren. Doch genau das geht hier nicht. Bei einem Autor wie Huchel wird nicht chiffriert. Chiffrieren und Dechiffrieren sind vielmehr Arbeitsweisen seiner Feinde, der Stasi. Er aber ist ein Dichter, das heißt: er verwandelt. Was er erfährt bis in die Knochen, wird Vision, wird eine zweite, von ihm selbst staunend angeschaute Welt, die sich unberechenbar entfaltet. Sein ungezähmtes Wort ist auch ihm nicht untertan. Es fliegt, wohin es will.
Diese Freiheit wird anschaulich in den fünf jungen Eichelhähern. Warum gerade fünf? Niemand weiß es, aber es ist schön, dass es fünf sind, eine ganze Schar. Der Mann in der eisigen Mulde sieht sie mit Freude. Er betrachtet sie, wie wir das Gedicht betrachten, fragend. Denn merkwürdig ist, dass sie lautlos jagen. Eichelhäher machen ja sonst tüchtig Lärm, sie rätschen und schnarren. Hier aber geben sie Zeichen, ohne dass man etwas hört. Der Mann mit dem Beil wird zum Vogelschauer. Das Orakel, dem er begegnet, ist aber kein Spruch, sondern ein Ereignis. Die Sonne dringt durch den Nebel, „und eine feurige Zunge fährt in die Bäume“. So, in „Zungen wie von Feuer“, fuhr einst an Pfingsten der Geist in die Apostel, „und sie begannen, in fremden Sprachen zu reden“. Im Wort Pfingsten steckt das Wort pente, fünf. Daher die Zahl der Vögel?
Wird der Mann jetzt zum Dichter? Das wäre zu simpel. Auch erreicht ja die Zunge nicht ihn, sondern die Bäume. Seine Arbeit ist Holzhacken, sein Zeichen „das Beil in der Hand“. Das wird zweimal gesagt. Es hat einen bedrohlichen Einschlag. Das Hacken ist so sinnlos wie seine Tage, wie die acht Jahre, wie die gestapelten Pflöcke. Aber im Beil steckt der Trotz. Dank ihm hält er durch und betrachtet täglich mit kalter Verachtung den Stasimann vor dem Haus.
Dichter muss er übrigens nicht mehr werden. Dichter ist er längst. Weil er sich dem Befehl, einen Literaturpreis aus West-Berlin abzulehnen, widersetzte, wurde er in der Mulde, im Schuppen, am Hauklotz isoliert.
Das Pfingstwunder geschieht doch. Die letzte Strophe spricht davon. Sie bändigt ihre Erregung in einem botanisch genauen Schauen. Die sechs Zeilen sind von japanischer Schönheit. In ihnen wird der Trotz zur Hoffnung, die Hoffnung zur Prophetie.

Peter von Mattaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfunddreißigster Band, Insel Verlag, 2012

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00