Robert Creeley: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Robert Creeley: Gedichte

Creeley-Gedichte

WARTEN

Hast du die Tage gezählt
von hier bis dann

zu welchem Ende,
was zu entdecken,

das nicht bekannt war
durch und durch?

 

 

 

Sein Maß finden

– Zur Lyrik Robert Creeleys. –

„Ich schaue auf Wörter und auf sonst nichts“, schreibt der junge Robert Creeley in den frühen fünfziger Jahren, „für mein eigenes Seelenheil als Mensch und Poet.“ Oder:

Mich kümmert nur, was das Gedicht als Gedicht sagt – ich bin nicht länger an der äußeren Einstellung (exterior attitude) interessiert, auf die das Gedicht durchaus verweisen mag, wie ein Schild (as signboard).

Und:

Nur das Handwerk bestimmt die Moral eines Gedichts.

Die Sätze lesen sich klar genug. Oder nicht? Ein junger Dichter, offenbar vertraut mit den Traditionen der Moderne, und vielleicht sogar in Kenntnis der in jenen Jahren formulierten kontroversen Positionen Benns und Sartres, optiert für eine poésie pure, die Eigenmächtigkeit der Sprache, der gedichteten Sprache, als der einzigen ihn interessierenden Wirklichkeit. Stimmt das aber so? Ist es nicht vielleicht eine europäische Transposition, die wieder zurückzuübersetzen wäre ins Amerikanische?
Einfache Wörter, einfache Sätze – im Original wie im Deutschen –, aber sie entsprechen sich nur zum Teil. Man würde erwarten, daß der „Autonomie des Gedichts“ eine äußere, ,referentielle‘ Realität gegenübergestellt ist, auf die das Gedicht sich bezieht, doch Creeley spricht von „exterior attitude“, und das ist ebenso schlicht wie dunkel. Die Gegenständlichkeit der Welt ist damit gerade nicht gemeint, kann nicht gemeint sein, wenn man weiß, daß William Carlos Williams’ Gedichtzeile „No ideas but in things“ wie ein Motto über Creeleys Dichten steht: die Überzeugung der Unhintergehbarkeit der Dinge, ihrer Handgreiflichkeit, nicht als Grund und Ursprung von Ideen, sondern als diese selbst – eine pragmatische Entmetaphysizierung und eine Nobilitierung der Dinge zugleich. „Exterior attitude“ meint vielmehr ein Weltverständnis – auch: eine Haltung zur Welt –, worunter alles das sich fassen läßt, was Fremderfahrungen entstammt. Die implizite Gegen-Haltung wäre die innere, die des Gedichts, im und mit dem Gedicht. Das Gedicht ist nicht ,rein‘, ist keine Preziose, kein selbstreferentielles Verweisungssystem; es bezeichnet vielmehr eine Haltung zur Welt als die einzige diesem Autor mögliche Existenzform. Das Gedicht ist der Ort, an dem Creeley sich ,die Welt‘ entwirft, jedoch keine ,autistische‘, keine Innenwelt als Selbstausdruck eines sich wichtig nehmenden Ichs, sondern die von ihm erfahrene – mit dem nur ihm zur Verfügung stehenden Mittel, also seiner Sprache erfahrene – Welt als Weltbild, als interpretierte, als wiedererkennbare.
Charles Olson, der Mentor und wichtigste Freund seit 1950, hat in seinem hellsichtigsten Essay, „Human Universe“ (1951), vom Universum des Menschen gehandelt, das ebenso entdeckbar sei wie das andere, das kosmische, nur im Unterschied zu diesem seiner Entdeckung noch harre. Olson sieht das menschliche Universum doppelt bestimmt: durch den Einzelnen als Organismus und durch den Einzelnen in seiner Beziehung zur Umwelt, der Erde und den Planeten. In diesem Zusammenhang polemisiert er – Jahrzehnte bevor andere das diskutierten – gegen den Logozentrismus der Griechen (ohne ihn so zu nennen): gegen die Verallgemeinerungen des Sokrates, die inhaltsleeren Formen Platos und die Klassifikationen des Aristoteles, mithin gegen das gesamte, gewaltsam und arbiträr gesetzte „universe of discourse“ der Griechen. Olson plädiert nun aber nicht für eine Rückkehr zu den Vorsokratikern, sondern zieht eher die Konsequenz aus Erkenntnissen der neueren Physik: die Harmonie des Universums – des kosmischen sowohl wie des menschlichen – sei post-logisch im Sinne einer Gleich-Gültigkeit widersprüchlicher Erklärungsmodelle; der Mensch sei auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig den Erfahrungen der Innen- und Außenwelt ausgesetzt („exposed – juxtaposed – to experience“), er ignoriere aber beim Schreiben und Handeln diese Totalität auf Grund jahrhundertelang eingeübter Selektionsmechanismen, die nur rational Verarbeitbares passieren ließen – demgegenüber gelte es die Fülle des auf allen Bewußtseins- und Unbewußtseinsebenen Erfahrbaren zu restituieren. Wie das zu machen sei hat Olson in seinem einflußreichen Aufsatz über den „Projektiven Vers“ (1950) gezeigt. Er spricht dort von „Feldkomposition“ (wiederum ein Ausdruck aus der Physik), die er den herkömmlichen fixierten Formen und Gattungen gegenüberstellt: wer ,im Feld‘ komponiere, begebe sich ins Offene, registriere die Wahrnehmungskomplexität und habe dafür zu sorgen, daß in der Komposition eine Wahrnehmung „immediately and directly“ zu einer weiteren Wahrnehmung führe auf allen nur erreichbaren Ebenen – physiologischen und motorischen ebenso wie nervlichen, emotionalen und kognitiven –, wobei einzig das jeweils bearbeitete Material, „the one poem under hand“, die Verfahrensweise vorgebe. Das Gedicht selber sei ein Energietransfer seiner unterschiedlichsten Veranlassungen hinüber zum Leser; es ist also kein Artefakt im Sinne eines abgeschlossenen, selbstreferentiellen Werks, sondern ist nach beiden Seiten hin offen, gleichsam ausgefranst an den Rändern, wie verweisend auf den größeren Zusammenhang der Welt, dem es entstammt, auf den es zielt.
Der wichtigste, ausdrücklich der modernen Physik entnommene Gedanke dürfte Heisenbergs Beteiligungsdiktum gewesen sein: der Beobachter verändert, was er beobachtet; oder schärfer: das Beobachtete entsteht erst durch den Beobachter. Dies lieferte Olson – und mit ihm Creeley – die theoretische Begründung, weshalb es unmöglich sei, eine ,objektive‘, detachierte, die Dinge der Welt abbildende Dichtung zu schreiben. Umgekehrt kann es die Hypostasierung des Schreibenden erklären: weniger als eines subjektiv Empfindenden, eines Privat-Ichs, eines ,Lyrikers‘, vielmehr als eines, der sich als Maß und Maßstab weiß. Der Satz des Protagoras klingt hier zwar an, aber der Akzent liegt nicht auf dem Menschen (noch ist gar gedacht an die Dichter als Gesetzgeber im Sinne Shelleys), sondern auf dem jeweils Einzelnen, der sein Maß gefunden hat. Was aber ist das Maß und woher nimmt er es? Dichtung ist immer Meßkunst gewesen, wobei, wenigstens in der Kritik, die Meinung bestand, Metren seien normierbare, objektive und beliebig benutzbare, gleichsam geeichte Größen. Erst Pound forderte um 1910, der Dichter solle nach dem Ohr, nicht nach dem Metronom, komponieren, und Creeley ist später so weit gegangen zu sagen, jeder Rhythmus sei spezifisch, was sich freilich an großer, das Metrum nur als Schema benutzender Dichtung immer schon zeigen ließ. Olson dachte Pound konsequent zu Ende, als er in seinem Manifest zum projektiven Vers die Gedichtzeile im Atem des Schreibenden begründete. Das hieß, daß das Maß nicht zu lernen war, sondern daß es jeder in sich selber finden mußte. Als Olson in den fünfziger Jahren am legendären Black Mountain College unterrichtete, war genau dies sein Ziel: nicht zu belehren, sondern die jungen Dichter ihre – physiologisch begründete – Stimme finden zu lassen. Wer wie er schrieb, mußte gehen. Am Ende hatte jeder seiner Schüler – Edward Dorn, Joel Oppenheimer, John Wieners, Michael Rumaker, um die bekannteren zu nennen – eine eigene, unverwechselbare Stimme, am deutlichsten gewiß Robert Creeley, dessen ,Ton‘ sehr früh gefunden war und bis heute – durch alle Wandlungen des Werks im Thematischen und Stilistischen hindurch – erkennbar geblieben ist.
Den Creeley-Ton zu beschreiben fällt schwer, weil jede Beschreibung stillstellen würde, was doch in Bewegung ist. Man muß die Gedichte also sprechen und hören, sich in sie hineinbegeben, teilhaben, um den Ton zu erfahren. Dazu ein paar Hinweise. Die Sprache Creeleys ist zugleich einfach und von höchstem Raffinement. Die Sätze sind wie beiläufig hingesagt, nie ,poetisch‘ in irgendeinem geläufigen Sinn, doch oft, vielleicht auf Grund der Rekurrenzen der einfachen Wörter, im geradezu beschwörenden Gestus der Eindringlichkeit gesprochen. Die im Sprechgestus begründete Syntax bildet den Drehpunkt zwischen der Schlichtheit der Umgangssprache und den komplexen Bauformen der Zeilen und Strophen. Unter diesen Bauformen – neben dem Gebrauch, den Creeley von den Lautanklängen oder von der Prosodie langer und kurzer Silben (im Unterschied zu den betonten und unbetonten) macht – ist am wichtigsten die Zeilenbrechung, die stets rhythmisch (auch gestisch oder emotional) gesetzt ist, nie syntaktisch. Im Verhältnis zur Syntax, deren Zäsuren anders liegen, entsteht dadurch ein Effekt, der an die Synkopierungen der Jazz-Musik erinnert (und es verwundert kaum, daß Creeley zu seinen Lehrmeistern auch Charlie Parker und Miles Davis zählt): ein Gegeneinander zweier Systeme, auf verschiedenen Ebenen des Bewußtseins, das gerade durch die immer neuen Einsätze der extrem kurzen Zeilen nie in Gefahr ist, sich einzuschleifen. Der große Lyriker Louis Zukofsky, Pound-Schüler und Creeley-Freund auch er, bestimmte einmal die Grenzwerte seiner Dichtung – und Creeley zitiert das als eine Bestimmung auch seiner Sprache – so: „untere Grenze: Umgangssprache (speech), obere Grenze: Musik“. Das zu übersetzen, stellt vor Probleme, die mit denen ,schwieriger‘ oder ,dunkler‘ Lyrik nicht zu vergleichen sind. Wie läßt sich die Beiläufigkeit des gesprochenen Wortes, die Flüchtigkeit des Hingesagten in einer im Gegensatz zum Englischen vielsilbigen, syntaktisch strenger gefügten Sprache herstellen? Die Übersetzung stimmt dann, wenn der Leser oder Hörer, wie nach dem Hören eines gut gespielten Mozart-Stücks, sagt, das ist so leicht, das kann ich auch.
Das in sich selber zu findende Maß ist die eine Seite des menschlichen Universums; die andere bestimmt sich aus dem, was nach dieser Maßgabe gemessen wird: die Erde und die Planeten, in den Worten Olsons. Olson hat die Amerikaner einmal „die letzten ersten Menschen“ genannt, Spätlinge also, die in keinen gegebenen Weltbezug eintreten können, sondern die sich ihn erst herstellen müssen. Auch Creeley spricht davon, die Amerikaner müßten ihre Welt jeweils erfinden – sich vorstellen und dann ihre Energie an ihre Verwirklichung wenden. Mit solchen Gedanken stehen beide erklärtermaßen in der Tradition der Pioniere: Columbus, Lewis und Clark, die Emigranten auf dem Oregon Trail – sie begaben sich ,ins Offene‘, weil sie eine Vision hatten, der sie folgten; sie erfanden einen Weg und fanden ihn dann. Und eine spezifisch amerikanische, von europäischen Vorbildern gelöste Literatur folgt diesen Spuren: Melville, der Epiker des amerikanischen Raums im Bild des Pazifik, Whitman, der seiner ganz unsublimierten körperlichen Präsenz die unabschließbaren Möglichkeiten seiner freien Langzeilen erfand, ein erster Zeuge eines im eigenen Organismus verankerten Schreibens, schließlich William Carlos Williams, der seine Sprache „aus den Mündern polnischer Mütter“ hatte, was heißen soll, daß ihre Benutzbarkeit, ihre Reduktion auf das Notwendigste und ihre unfigurative Intention die ausschlaggebenden Faktoren waren („no ideas but in things“). Man mag das ruhig auch Pragmatismus nennen; das ist nicht länger ein Schimpfwort: Sprache als Handlung, aber im Sinne der Konkretion, nicht eines Anstatt, und stets im Bewußtsein des Entwurfs einer im Schreiben erst zu entdeckenden Wirklichkeit. Das Stichwort ,Konkretion‘ bedarf vielleicht der Erläuterung, weil die Lyrik Williams’ und Olsons, besonders aber die Creeleys, nicht eben sparsam mit den sogenannten Abstrakta umgeht. Doch dies ist ein Zug, der mit der umgangssprachlichen Grundierung zu tun hat, nicht mit Begrifflichkeit. Es wird dadurch gerade die Pseudo-Konkretheit einer poetischen Kunstsprache vermieden, wie sie dem Lyriker vorschwebt, der meint, die Erkennungsmarke von Dichtung sei ihre Anschaulichkeit. Wer aus dem Fundus gesprochener Sprache schreibt, weiß, daß die Unterscheidung wenig Sinn macht. Selbst im emphatischen Gebrauch sind Wörter wie ,Liebe‘ oder ,Tod‘ (Creeley hat vor ihnen keine Angst) ,realer‘, mithin also auch konkreter als deren künstliche Verbildlichungen. Auch das hat mit Pragmatismus zu tun und bedeutet keinen Widerspruch zur Dinglichkeit der Ideen, von der Williams sprach, im Gegenteil: Ausdrücke wie ,Liebe‘ und ,Tod‘ kommen überhaupt nur ins Gedicht innerhalb der Sprechsituation dessen, der ihm seinen Atem gibt; es ist ein Ausagieren, wenn man will: ein Durcharbeiten in der hergestellten Situation, nie ein distanziertes Benennen, gar Beschreiben. Williams hatte im Vorwort zu seinem Gedichtband The Wedge (1944), der für Creeley eine Art Damaskus bedeutete, geschrieben:

Da jede Rede (speech) ihren eigenen Charakter hat, wird die Dichtung, die aus ihr entsteht, in ihrer spezifischen Form dieser Rede entsprechen… Wenn einer ein Gedicht macht, es macht, sage ich, dann nimmt er Wörter, wie er sie in ihrer Verkettung um sich findet, und ordnet sie… zum intensiven Ausdruck seiner Wahrnehmung und seines Feuers (his ardors), auf daß sie eine Offenbarung in der Sprache (speech), die er benutzt, darstellen mögen.

Creeley, der die Sätze zitiert, fügt hinzu, das sei „eine sehr amerikanische Art sich auszudrücken“ und rühre daher, daß die Amerikaner „diese Wirklichkeit, in der es ihnen zu leben bestimmt ist, nicht nur sich vorzustellen, sondern damit auch erst zu machen“ hätten. Dieses Machen, im Unterschied zum europäischen poiein der fünfziger Jahre, ist also immer gebunden an den, der etwas macht, und an den Kontext, für den er es macht, innerhalb dessen es ,funktionieren‘ soll – wie ein Gerät. Wenn Creeley vom „Handwerk“ als der „einzigen Moral des Gedichts“ spricht, hat er in keinem figürlichen Sinn das Handwerkerethos im Sinn: etwas so zu machen, daß es ,halt‘, daß es benutzbar ist, wie ein roter Schubkarren. Nur so ist auch die spätere Äußerung zu verstehen, Gedichte hätten Bedeutung (meaning), insofern sie durch sich selbst und aus sich selbst existierten. Damit würden auch die Abstrakta nie auf ihre Begriffsgeschichte, ,verweisen‘, was sie im europäischen Kontext wohl täten (und in den Übersetzungen möglicherweise wieder tun, was eine zusätzliche Schwierigkeit, den „richtigen Ton“ zu treffen, bedeutet), sondern immer nur auf ihre Verwendungsweise im Gedicht „under hand“.
Im Zusammenhang mit der Tradition, der er sich zugehörig fühlt, schreibt Creeley:

Amerikanisches Schreiben ist durch eine unbeirrbare Buchstäblichkeit gekennzeichnet… und mit ,Symbolik‘ hat es sich immer schwer getan.

Buchstäblichkeit (literalness: also der ,Literalsinn‘, Wörtlichkeit, Direktheit) ist es auch, im Unterschied zu etwas ,Gemeintem‘, die sein eigenes Werk bestimmt. Vom Maß war die Rede, das ihm im Universum seiner eigenen Körperlichkeit gegeben war; von dem damit zu Messenden, dem ihm Angemessenen, auch ihm Zugemessenen als ,Schicksal‘, ist noch kurz zu reden. Die Welthaltigkeit, die Olson mit dieser Stufe des menschlichen Universums meint, ist ganz konkret und ganz partikular: das Verhältnis des vor Augen liegenden zu dem, der es wahrnimmt. Creeley spricht von einem „most scrupulous (Skrupel: ein Meßwort) localism“, also der sorgfältigsten, peinlichsten Gebundenheit des Gedichts an sein ,Datum‘, Ort und Zeit seiner Gegebenheit als Zeugnis einer Präsenz. In den frühen Gedichten ist die lokale Spur, als der Anlaß, meist deutlich sichtbar. In den späteren ist sie oft verwischt, aber sie ist auch hier mitzudenken und läßt sich, manchmal von beiläufigen Wortpartikeln aus, finden. In den letzten Gedichten, als schlösse sich ein Kreis, ist das Datum, geradezu als Anlaß, in die Gedichte eingetragen. Diese letzten Gedichte – sie sind nicht ganz geheuer – bringen zugleich eine neue Dimension ins Spiel: das dem Datum einbeschriebene Gedenken. Der Schreibende ermißt jetzt die Präsenz des Vergangenen und entdeckt in ihm die Wurzeln des ihm Zugemessenen: „Die einfachsten Dinge / habe ich zuletzt lernen müssen“, heißt es in einem Maximus-Gedicht Charles Olsons.
Anlaß, Datum, Ort, Lokalismus – sie stellen die Verbindung dar zu der vom Schreibenden gefundenen, erfundenen Wirklichkeit und bleiben doch zugleich in jedem Gedicht virulent. Wer je Creeley seine Gedichte hat lesen hören, hat erfahren, daß er sie gleichsam noch einmal entstehen läßt, mit einer emotionalen Beteiligung, die betroffen macht und Schichten anspricht, unter denen die kognitive nur eine ist. Das Gedicht verfertigt sich beim Vorlesen und wir haben teil an diesem Akt. Es ist erstaunlich, wie über die Jahre hin solche Aktualisierbarkeit abrufbar geblieben ist. In einem Selbstzeugnis von 1966 heißt es:

Wovon ein Gedicht spricht, ist mir oft nicht so wichtig; ganz entscheidend wichtig aber sind für mich die Grade (the senses) und die Intensität des davon ausgelösten emotionalen Vorgangs.

Dieser emotionale Vorgang entzündet sich nur zum Teil an Sujet und Semantik, dem, wovon das Gedicht spricht; er überträgt sich vielmehr durch die nur locker und improvisiert erscheinende, in Wahrheit festgefügte Struktur, die Rhythmen und Laute in ihrem Verhältnis zu Zeilen- und Strophensprung und zum selten vorhersehbaren Satzbau. Die Strukturen bleiben stabil, sind etwas ,woran man sich halten kann‘, während die Wörter vielleicht schon nicht mehr alle verständlich sind, weil ihre Bedeutung sich gewandelt hat. Dies würde als Unverständlichkeit nur verstanden, wenn sie auf etwas außerhalb verwiesen, auf die „exterior attitude“, von der zu Beginn die Rede war. Aber wenn sie verweisen, dann nicht als Richtungsanzeiger, sondern als „signboard“, also ein Äquivalent aus Zeichen zu dem von ihm Bezeichneten, eine Übersetzung in ein anderes Zeichensystem, wie es am sinnfälligsten eine Landkarte vorstellt.
Nachzutragen bleibt Faktisches. Robert Creeley wurde am 21. Mai 1926 in Arlington, Massachusetts, geboren. Der Vater war Arzt und starb, als der Junge vier Jahre alt war. Mit seiner Mutter und seiner älteren Schwester wuchs er auf dem Land bei West Acton auf. Die Wälder und Felder Neuenglands, seine Sprache und sein Puritanergeist haben ihn geprägt. 1943 begann er in Harvard zu studieren, unter so berühmten Lehrern wie F.O. Matthiessen, Harry Levin und dem Lyriker Delmore Schwartz, aber wichtiger war die Freundschaft mit angehenden Autoren wie Kenneth Koch oder John Hawkes, die sich einig waren in ihrer Ablehnung des mächtigen New Criticism einerseits und der gesellschaftlich orientierten Lyrik der dreißiger und vierziger Jahre (Auden, Spender) andererseits. Von Ende ’44 bis Ende ’45 war er Ambulanzwagenfahrer beim American Field Service in Burma, kehrte dann nach Harvard zurück, gab aber kurz vor dem Ende sein Studium auf. Er lebte, inzwischen verheiratet, in New Hampshire und begann ernsthaft zu schreiben, Lyrik und erzählende Prosa. 1950 faßte er den Plan, eine eigene Zeitschrift zu gründen und trat in Verbindung mit William Carlos Williams und Ezra Pound, der ihm, als alter Praktiker, eine Reihe nützlicher Ratschläge schickte (Creeley hat sie im Vorwort zum Reprint von Black Mountain Review, wieder abgedruckt in Was That a Real Poem & Other Essays, geschildert). Das wichtigste an dem Zeitschriftenprojekt, aus dem nichts wurde, war, daß es ihn in Kontakt mit jüngeren Autoren brachte, die ähnliche Ziele verfolgten wie er und gleichfalls innerhalb der Literaturszene eher chancenlos waren: vor allem mit Charles Olson, dann mit Paul Blackburn, Cid Corman, Paul Goodman, Denise Levertov, um nur einige zu nennen. Das von Creeley gesammelte Material übernahm dann Corman und gründete in Boston die Zeitschrift Origin, die während der nächsten Jahre wichtigster Sammelplatz der neuesten amerikanischen Literatur wurde, die ja keine Medien vorfand, die sie aufnahmen, sondern die sich diese – meist in Form der Little Presses – selbst schaffen mußte. 1950 stellten sich auch erste Kontakte her zu Europa, im besonderen zu Rainer M. Gerhardt, einem jungen Poeten, der in Freiburg i. Br. eine Zeitschrift herausgeben wollte, fragmente, für die Creeley als amerikanischer Editor fungieren sollte. Die Zeitschrift, von der leider nur zwei Hefte erschienen, war der erste Versuch, in Deutschland Klassiker wie Pound und Williams bekanntzumachen, aber gleichzeitig junge Talente wie Olson und Creeley vorzustellen. Creeley zog 1951 mit der Familie nach Europa, zunächst nach Südfrankreich, im Jahr darauf nach Mallorca, wo er einen eigenen Verlag gründete, weil das Drucken dort erschwinglich war: Divers Press. In diesem Verlag druckte er Bücher von Paul Blackburn und Larry Eigner, die Mayan Letters von Charles Olson (eine Redaktion der Briefe, die Olson ihm über seine ,Feldforschungen‘ in Yucatan geschrieben hatte), ein Buch des neben Olson immer wichtiger werdenden Freundes Robert Duncan, einen eigenen Gedichtband und einen Band mit elf Erzählungen, The Gold Diggers. Inzwischen war Charles Olson Rektor von Black Mountain College geworden, diesem großartigsten Experiment interdisziplinären Unterrichtens und Lernens, das in den dreißiger Jahren, nicht ohne die Segnungen John Deweys, entstanden war, sich aber in seiner Endphase (es mußte 1956 geschlossen werden) mehr und mehr zu einer Kunstakademie entwickelte. Lehrer in den bildenden Künsten waren (nach Josef Albers) abstrakte Expressionisten wie Franz Kline und Willem de Kooning; Schüler waren Robert Rauschenberg, John Chamberlain, Cy Twombly. Lehrer in Musik und Tanz waren John Cage und Merce Cunningham. In dieses Ambiente holte Olson sich Creeley, der zwar auch unterrichten, der aber vor allem eine Zeitschrift herausgeben sollte: Black Mountain Review. Creeley versuchte hier alles zu sammeln, was ihn an neueren Tendenzen interessierte, also auch Malerei und Theorie, aber am prominentesten figurierte natürlich die Literatur, nicht mehr nur die alten Freunde, sondern auch die neuen Stimmen, die in New York und San Francisco vernehmlich wurden, wie Allen Ginsberg. Während der insgesamt sieben Nummern der Zeitschrift ging seine Ehe in die Brüche, löste Black Mountain College sich auf, kehrte er Spanien den Rücken, ließ er sich in New Mexico nieder und heiratete wieder. 1957 erschien die erste größere Sammlung seiner Gedichte, zusammengestellt aus früheren Bändchen, The Whip. 1960 erschien die epochemachende Anthologie von Donald Allen, The New American Poetry: 1945–1960 (inzwischen zeitgemäß umbenannt in The Postmoderns), durch die „die ganze Richtung“ einem großen Publikum vorgestellt, von diesem begeistert aufgenommen wurde (als eine Art Vorreiter der Pop-Kultur) und damit praktisch etabliert war. So sah es jedenfalls zunächst aus, bis das Publikum merkte, daß mit diesen Leuten eben doch nicht Staat zu machen war. Creeley fand einen renommierten Verlag, Scribner’s in New York, in dem 1962 sein Gedichtband For Love: Poems 1950–1960 erschien und im folgenden Jahr sein einziger Roman, The Island, der das Scheitern seiner Ehe in Mallorca zum Thema hat. 1964 kam sein erstes Buch auf deutsch heraus, die Sammlung seiner sämtlichen Erzählungen, unter dem Titel Mister Blue, im Insel Verlag (die gleiche Sammlung erschien im Original im Jahr darauf wieder unter dem Titel The Gold Diggers). Der Insel Verlag brachte auch 1965 den Roman auf deutsch. Beide deutsche Prosapublikationen waren eher Achtungserfolge, während ihn die zweisprachige Auswahl Gedichte (edition suhrkamp 1967) weithin bekannt machte. (Diese Auswahl ist in die vorliegende Ausgabe, ergänzt um ein gutes Dutzend der frühen Gedichte, aufgenommen.) 1969 erschien, bei Domberger in Stuttgart, in limitierter zweisprachiger Ausgabe, der Zyklus Numbers, Gedichte zu Serigraphien des Pop-Künstlers (oder Zeichen-Malers, wie er sich selber nennt) Robert Indiana. Seit den sechziger Jahren hat Creeley an zahlreichen Universitäten Amerikas gelehrt, seit 1967 als Professor für Englisch an der State University of New York at Buffalo, seit 1978 an derselben Universität als Gray Professor of Poetry and Letters. Er hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten, darunter einen Rockefeller Grant und zweimal das begehrte Guggenheim Fellowship. 1982 erschienen seine Collected Poems (1945 bis 1975) in der University of California Press; 1984 seine Collected Prose ebendort. Über seine Poesie schrieb William Carlos Williams:

Das subtilste Gespür für das Maß, das ich überhaupt kenne, außer aus den Versen Ezra Pounds.

Und John Ashbery:

Robert Creeleys Dichtung ist so fundamental und nötig wie die Luft, die wir atmen; so gastlich, klar und offen wie unser ganzer Kontinent. Er ist ungefähr das beste, was wir haben.

Klaus Reichert, Nachwort

 

 

Robert Creeleys Rang

als einer der bedeutendsten heutigen Lyriker in den USA – neben John Ashbury und Allen Ginsberg – ist unbestritten. Er begann in den fünfziger Jahren als Mitglied der legendären Dichtergruppe um Charles Olson am Black Mountain College hervorzutreten, einer Gruppe, die sich um die Erneuerung der amerikanischen Poesie im Geiste Whitmans und William Carlos Williams bemühte: es ging um die Erfindung eines eigenen, authentischen Idioms innerhalb der uneuropäischen Züge der amerikanischen Tradition.
Creeley war von Anfang an präsent mit einer eigenen Sprache, einem eigenen Ton. Seine Gedichte sind zugleich einfach und von äußerstem Raffinement. Sie wirken wie beiläufig hingesagt und sind doch in einer unauflöslichen, geradezu klassischen Weise „komponiert“. Es sind intime Sprechgedichte, gerichtet an ein Du oder die wechselnden Formen eines Ichs; Gedichte, die die haarfeinen Risse in den elementaren und selbstverständlich gewordenen Beziehungen zwischen Menschen, wie sie sich aussprechen in den nichts-(oder nichts-mehr-)sagenden Wendungen der Alltagsrede, thematisieren; Gedichte über Liebe und Verlorenheit, denen das neu gefundene, unnachahmliche Maß seiner Sprache die Verzweiflung nimmt.

Residenz Verlag, Klappentext, 1988

 

Frauke Hamann: „Wörter, ihr seid immer bei mir“. Lesung von Robert Creeley am 30.1.1995 in Hamburg.

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDbKLfG + PennSound +
MAPS 1, 2 & 3Internet Archive + Poets.org + Kalliope
Porträtgalerie
Nachrufe auf Robert Creeley: Tagesspiegel ✝︎ NZZ

 

Robert Creeley liest sein Gedicht „After Lorca“.

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