Sabine Schiffner: Zu Norbert Hummelts Gedicht „strandschrift“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Norbert Hummelts Gedicht „strandschrift“ aus Norbert Hummelt: singtrieb. −

 

 

 

 

NORBERT HUMMELT

strandschrift

was für verweise. welche signaturen
hier sind die muscheln, hier
ist was geritzt, hier was unleserlich
mit einem stock geschrieben. hier
hat ein wattwurm deutlich
seine spuren. an diese bootswand
wurde frisch gepisst. dies
ist der rostige besagte schuh. hier
ist ein zeichen das ich nicht
begreife. hier sind die kiesel
hier ist sand u. tang, anbei ein hund
von dem ich gern erführe, wonach
er scharrt, was er erblicken kann
im windgebeutelten gekrümmten mann
in dessen jacke die zitronenseife.

ich habe windgewelltes gras gesehn
dort zwischen steinen, moos vielleicht u. farn
mein steifer gang, mein schauen
mein ertapptes horchen: dort
sitzt der vogel, dort im rhododendronbusch
u. ruft u. widerruft
seit wann, wie lange
sein jeder ruf bemisst mir noch ein jahr
ich habe mitgezählt
u. mir wird bange

 

Gedicht Begleiter

Nie habe ich so viel Angst davor gehabt zu sterben wie in den ersten Jahren nach dem Auszug aus meinem Bremer Elternhaus. Jene Angst und die Lust am eben anfangenden Leben mögen der Grund gewesen sein, mit dem Schreiben zu beginnen, beziehungsweise das, was ich schon zu Hause hinter verschlossenen Türen begonnen hatte, jetzt auch aus der Tür herauszutragen. Diese Tür hat mir ein Dichter geöffnet, einer von den vielen, die damals in Köln lebten, der Stadt, in die ich zum Studieren ging, einer von denen, die Mitte der Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts erste Zeilen schrieben oder schon bekannt waren. Nach dem Tode von Böll und Brinkmann waren das neben vielen anderen vor allem die Lyriker Thomas Kling, Marcel Beyer und Norbert Hummelt. Unterstützung erfuhren sie unter anderem durch die damals noch an der Uni Köln lesenden und dem Gedicht und der jungen Lyrik zugewandten Professoren wie Karl Otto Conrady und Walter Hinck.
Meine Einführung in diese Welt der Dichter fand auf einer Lesung in der Studiobühne der Universität statt, im Rahmen einer Vorstellung von Texten der Kölner Autorenwerkstatt. Es trat ein junger großäugiger Autor auf die Bühne, der mich vom ersten Augenblick an faszinierte. Es waren nicht nur seine Verse, oft rüpelhaft, dann zart, die mich berührten, es war auch und vor allem seine Art zu lesen, die mir neu war, unbekannt und unerhört, so und in dieser Art hatte ich bis dahin nie jemanden lesen hören. Wenig später lernten wir uns kennen. Norbert Hummelt war der erste Mensch überhaupt, der mich fragte, ob ich auch schreiben würde. Als ich ihm irgendwann einmal mit Ja antwortete, war das wie eine Befreiung, jetzt endlich konnte ich in die Welt hinaustreten.
Bis es jedoch dazu kam, dass meine Zeilen einigermaßen passabel und lesbar wurden, verging viel Zeit, die er begleitete und unterstützte und während der ich mich an seinen viel fortgeschritteneren Gedichten entlanghangelte. Bis heute, etliche eigene Bücher, Lesungen und Preise später, weiß ich, wenn ich wieder einmal seine Gedichte lese, manchmal immer noch nicht, ob ich tatsächlich meinen eigenen Weg gefunden habe, oder noch immer zu nahe an ihm dran bin. Ich brauche nur seinen jüngsten Gedichtband Pans Stunde (2011) aufzuschlagen, schon stoße ich auf das Gedicht „hagebutten“, darin die Zeilen „… da glimmt / etwas; da brennt die hagebutte. als wir hier gingen / hast du mich geküßt. es war uns beiden nicht einmal / bewusst dass sie die späte frucht der rosenhecke ist…“ Schlage ich in meinen Gedichten nach, die ich 2010 geschrieben habe, so finde ich eines mit einem ganz ähnlichen Titel „die hagebutte“:

was ist das fragt er mich und legt die rote frucht
so sacht als seis ein kleines herz
in meine hand…
… als ich ihm antworte dies männlein ist
die frucht der wilden rose
da schaut er mich ungläubig an
als sei ich nicht ganz dicht
dann lacht er mir ins gesicht
das glaub ich dir nicht …

Es klingt, als hätte ich von ihm „geklaut“ und doch ist es nicht so, derjenige, der das nach mir am besten weiß, ist Norbert Hummelt. Obwohl wir schon ganz lange nicht mehr die Gedichte des anderen sichten und besprechen, denken und träumen wir vielleicht zuweilen ähnlich. Man kann es wohl, trotz aller Verschiedenheit der Charaktere, dichterische Seelenverwandtschaft nennen, und es ist für mich ein großes Glück, so einen Menschen zu kennen.
Die Liebe zu den selben Dichtern, die Vorbild, Musen sind, war uns von Anfang an gemeinsam, die Lektüre der Gedichte von Hölderlin, Stefan George und Gottfried Benn verband uns. Ebenso wie durch die gemeinsame Lektüre von Gedichten lernte ich von ihm, mich durch das Hören von Musik anregen zu lassen. Melodie und Rhythmus sind wichtige Grundlagen für das Schreiben, Auslöser für die Inspiration kann aber ebenso gut ein Bild, ein Name, eine Madeleine oder manchmal, das klingt furchtbar profan, ein Stück Seife sein.
Womit ich endlich zu Hummelts Gedicht „strandschrift“ komme, das ich diesem kleinen Essay vorangestellt habe und das mich, seit ich es kenne, begleitet. Was mich an dem Gedicht, als ich es das erste Mal las, ansprach, war sein Titel „strandschrift“, die Assoziation zu meiner norddeutschen Heimat war sofort da. Dann las ich weiter und stolperte erstmals über die Seife, die mich faszinierte und nicht mehr losließ. Die Zitronenseife berührte mich ganz unmittelbar, so sehr, dass ich seitdem immer, wenn ich Norbert Hummelt treffe, ihren Duft wahrnehme. Sie fällt auf und aus dem Gedicht, weil sie in ihrer Künstlichkeit und der Assoziation einer romantischen Fremde (der goetheanischen Vorstellung des Landes, wo die Zitronen blühen), so schier gar nichts mit dem Nordmeeridyll des Gedichts zu tun hat. Aber sie macht es zugleich leuchten. Der Fremdkörper und die Reibung, die er erzeugt, bewirkt, dass man aufhorcht, dass man ihn zu riechen meint.

Entstanden ist das Gedicht in Dublin, ein Aufenthalt Hummelts und seine langjährige Beschäftigung mit James Joyce liegen ihm zugrunde. Im Ulysses kauft der Protagonist Leopold Bloom in Sweny’s Drogerie ein Stück Zitronenseife, dessen Geruch ihn dann den ganzen Roman hindurch begleitet und verfolgt. Hummelt in dessen Tasche die Zitronenseife steckt, portraitiert sich selber in der Strandschrift als Mann mit steifem Gang, mit einer Krümmung, die bei ihm hervorgerufen wurde durch eine Krankheit, die er nicht versteckt, sondern in Verse fasst und sie so zu bannen versucht.
Diese Gedicht wie so viele andere bei Hummelt dient nicht nur der Suche nach dem Begreifen, nach dem Verstehen, er erleichtert mit dem Aussprechen des Schmerzes, der Verletzung, der Krankheit und der Erinnerung auch die manchmal allzu harte Welt. Auf den Prozeß des Festhaltens deuten die programmatischen Zeilen der „strandschrift“ hin:

was für verweise, welche signaturen
… dies ist ein zeichen das ich nicht begreife…

Hummelts Alter Ego geht in der „strandschrift“ mit offenen Sinnen durch die Welt, versucht, das Sichtbare mit Worten fassbar zu machen, mit Hilfe des Worts, durch den suchenden Blick auf die Natur:

… hier sind die muscheln, hier
ist was geritzt, hier was unleserlich
mit einem stock geschrieben, hier
hat ein wattwurm deutlich
seine spuren. an diese bootswand
wurde frisch gepisst

Aber, sagt das Gedicht, die Welt bleibt fremd und außer mir, das einzige, was mir ermöglicht, sie ein wenig zu verstehen, ist meine Sprache, so lange ich sie habe, bleibt etwas übrig. Diese Sprache, uralt und brandneu zugleich, die uns zu Dichtern macht, beschreibt am Schluss des Gedichts die anfangs meines Essays erwähnte Angst vor dem Tod, die manchmal durch ein sehr persönliches Erlebnis hervorgerufen worden sein kann:

dort
sitzt der vogel, dort im rhododendronbusch
u. ruft u. widerruft
seit wann, wie lange
sein jeder ruf bemisst mir noch ein jahr
ich habe mitgezählt
u. mir wird bange

Auch und gerade wegen dieser Todesbeschreibung ist Hummelts Gedicht zu einem prophetischen Begleiter in meinem Leben geworden. Uns verband eine enge Freundschaft zu der Künstlerin Berit Böhm, die damals, als Norbert Hummelt diese Zeilen schrieb, noch quicklebendig war und erst viele Jahre später ihrem Leben ein Ende setzte. Sie hat mit uns oft über die Endlichkeit des Lebens gesprochen und immer betont, wie wichtig es sei, etwas zu hinterlassen, damit die Kunst über den Tod triumphiere, eine Vorstellung, die ich, während sie sie aussprach, gar nicht mochte. Dem Schrecken, den sie uns mit ihrem Tod verursachte, spüren die letzten Zeilen der Strandschrift nach, als wehes Vorausahnen der Flüchtigkeit des Lebens, geschrieben von einem Anfang Dreißigjährigen. Und abermals erinnerte ich mich an die Zeilen der „strandschrift“, wurden sie Wirklichkeit und erleichterten sie mir die schreckliche Wirklichkeit, das war, als im Jahr 2005 der Dichter Thomas Kling starb.
Wenn ich heute an Hummelts Gedicht denke, dann nie an das Gedicht als Ganzes, immer sind es einige Zeilen daraus, die mir einfallen und oft verweisen diese mich wieder auf andere Zeilen in anderen Gedichten von ihm. Höre ich die Amsel auf dem First des Nachbarhauses singen, dann fällt mir ein, dass auch in Norbert Hummelts „strandschrift“ die Amsel singt, die ja in vielen seiner Gedichte auftaucht, ebenso wie all die anderen Stare, Mauersegler, Elstern und Drosseln und nicht zuletzt der gezähmte Sittich.
Ich bin früher oft mit Norbert Hummelt spazieren gegangen, er zeigte mir die Landschaften seiner Kindheit und Jugend, den Niederrhein, das Bergische, die Eifel. Durch niemanden wie durch ihn hätte ich sie so kennenlernen können, wären sie mir wohl so ans Herz gewachsen. Wenn ich heute einmal wieder in seinen Büchern lese, dann ist mir bei vielen seiner Gedichte so, als seien sie Spaziergänge, dann kann ich auf seinen Spuren wandern. Insbesondere in Pans Stunde, dem letzten Band, kann ich mit vielen Gedichten mitwandern, jetzt aber auch in andere Landschaften als die rheinische.

Denn auch er, der Dichter vom Rhein, ist zuweilen in die Fremde gegangen, ließ sich schon in der „strandschrift“ von der Fremde inspirieren vom ihm unbekannten Meer bei Dublin. Das ist ein weiteres Moment dieses Gedichts, das mich packt, weil es mit meinem Leben zu tun hat. Auch ich bin in die Fremde gegangen, um zu schreiben; die letzten vier Jahre habe ich in dem kleinen Ort Deyà in Mallorca verbracht. Ich bin in die Fremde gegangen, wie es die Gestalten in den von Hummelt und mir geliebten Schumannschen Liedern tun, auch dort ist das Fortgehen gute romantische Tradition (s. auch den Zyklus „in der fremde“ in singtrieb), es dient der Suche nach dem Sehnsuchtsort. In der „strandschrift“ ist es Dublin, in seinen Texten schon beschworen von dem in der Fremde weilenden James Joyce, jetzt erwandert im Gedicht von Norbert Hummelt, in der Gestalt von James Joyce, dem Schöpfer von Leopold Bloom, dem Protagonisten aus Ulysses.
Mein Sehnsuchtsort heißt Deyà und ist nicht nur der Ort, wo ich der Liebe wegen hingezogen bin, sondern er ist auch verbunden mit dem Dichter Robert Graves, der dort gelebt hat und auf dessen Haus ich vom Zimmer meines Hauses in den Olivenhainen hinüberschaue. Dort, in den in Deyà entstandenen Gedichten, greife ich manchmal wie Hummelt in seinem Gedicht auf Zitate und Verweise aus Graves’ Gedichten zurück, stelle mir vor, wie der Dichterer vor mir über die schmalen Bergstraßen gegangen sein mag, und höre denselben Wind und dieselben Geräusche, wie er sie zu Lebzeiten gehört haben muss.

Aber das, was ich fast am meisten am Gedicht „strandschrift“ schätze, ist nicht nur sein Inhalt, sondern seine Form, beziehungsweise sein lakonischer Umgang mit dem Reim. Schon als ich die ersten Gedichte von Norbert Hummelt hörte und las, wusste ich, dass ich, die bis dahin keinen Mut zum Reim hatte, auch reimen wollte. Denn erst durch das gereimte Wort am Ende der „strandschrift“ wird dieses besondere Gedicht perfekt. Der Reim kommt überraschend, und er ist groß, aber es kommt kein Pathos auf. Der Schmerz über das Sterben wird gelindert durch die Schönheit des Reims.

Heute sitze ich in meinem Zimmer in Köln, schaue wie eh und je aus dem Fenster und sinne über neuen Texten. Norbert Hummelt hat mich letzte Woche besucht, der Geruch nach Zitronenseife war wieder in meinem Kopf und wir sind weit über die Felder im Kölner Norden gelaufen und haben geredet und die Natur betrachtet. Jetzt fragen wir uns nicht mehr so wie früher nach unseren Gedichten, aber wir zitieren uns. Während wir miteinander reden, fallen uns gegenseitig Stellen aus unseren schon vor Jahren geschriebenen Gedichten ein, die mit uns, mit unserem Leben und mit der Wirklichkeit, so wie sie jetzt ist, immer noch zu tun haben. Wir müssen sie denken und sagen und manchmal müssen wir lachen, weil sie immer noch wirksam sind, die Zauberworte des Gedichts, die, ausgesprochen, immer noch dazu dienen, das Leben irgendwie leichter zu machen.
Ich habe heute viel weniger Angst vor dem Sterben als mit Anfang Zwanzig, und das unter anderem deshalb, weil Norbert Hummelt mit seinem Gedicht „strandschrift“ meine Angst vor dem Sterben gebannt hat.

Sabine Schiffner

Der Kuckucksruf

− Antwort auf Sabine Schiffner. −

In Saloniki wisse er einen, der ihn lese, und in Bad Nauheim, das seien schon zwei, notierte Günter Eich einmal unter der Überschrift „Zuversicht“. Es gehört zu den Eigenheiten der lyrischen Welt, dass ihre wenigen Bewohner einander kennen, und dass sie sich erkennen, wenn sie sich begegnen; Freundschaften können darauf gründen, dass ein bestimmtes Versmaß gemeinsame Freude weckt, ein Tonfall, eine Strophe in übereinstimmender Weise eine Saite anschlägt an jenem Instrument, das jeder in sich selbst zum Klingen bringen möchte. Zur Geschichte einer seit einem Vierteljahrhundert fortdauernden Freundschaft, von der Sabine Schiffner in ihren von meinen Gedicht „strandschrift“ veranlassten Betrachtungen erzählt, habe ich in dem Gedicht „das jahr der seele“ aus Pans Stunde ebenfalls ein Kapitel beigetragen; darin wird, neben den Bezugspunkten George und Stifter, auch die Künstlerin Berit Böhm genannt, die zu unserem Kölner Freundeskreis gehörte und vor zehn Jahren aus dem Leben ging. Weder ein Verlag noch eine Zeitschrift ging aus unseren Begegnungen und Gesprächen hervor, aber ein Gespinst aus Gedanken und Erinnerungen, hellen und dunklen, manchmal tauchen sie wieder auf und werfen eine Strophe ab, einen Vers, ein Gedicht – was man so unternehmen kann gegen die verstreichende Zeit; mehr als Worte hat man nicht in der Hand.

Das Gedicht „strandschrift“ entstand im Juni 1995, als ich erstmals in Dublin war, und seine erste Strophe verdankt sich einem Gang am Strand von Sandymount, auf den Spuren der Proteus-Episode des Ulysses; im dritten Romankapitel erlebt der Leser den inneren Monolog des Stephen Dedalus, der am Morgen des 16. Juni diesen Strand abläuft und seine Wahrnehmungen in philosophische Kategorien überführt: „Signatures of all things I am here to read, seaspawn and seawrack, the nearing tide, that rusty boot.“ Diesen Signaturen nachzuforschen, das Gelesene mit dem Sichtbaren abzugleichen und auf diese Weise eine neue Schrift zu erstellen, diesem Vorhaben, wenn man es so nennen will, widmet sich die erste und die längere der beiden Strophen, an deren Schluss die von Leopold Bloom erworbene Zitronenseife genannt wird, von der ich allerdings nicht geahnt habe, dass sich ihr Duft auf mich persönlich übertragen hat. Als Leser des eigenen Gedichts ist mir gleichwohl nicht klar, wer das eigentlich ist, der „windgebeutelte gekrümmte mann“, von dem an dieser Stelle die Rede ist, jedenfalls eine synthetische Figur, mit der ich mich nicht ganz decke und von der ich mich nicht ganz lossagen kann. Wäre das Gedicht an dieser Stelle zu Ende, dann wäre es mir heute fern und käme mir, wie soll ich sagen, ein wenig zu literarisch vor. Es ist aber die zweite Strophe, die es ohne die erste nicht gäbe und von der ich mich auf eine anhaltende Weise gemeint und vertreten fühle. Vertreten, weil ich hier das Gefühl habe, in der Spur des sprechenden Ich von neuem gehen zu können, und gemeint, weil die Vogellaute, die darin erwähnt werden, mir auf mich gemünzt scheinen. Es sind jedoch keine Amsellaute, die ich hier vernehme, sondern Kuckucksrufe. Im dunklen u-Gebüsch dieser Zeilen („im rhododendronbusch / u. ruft u. widerruft / (…) sein jeder ruf…“) habe ich versucht, den Namen und den Ruf des Kuckucks hörbar zu machen, von dem der Volksmund sagt, dass er einem die noch verbleibenden Lebensjahre abzählt. Diesse Vorstellung kann ich niemals abwehren, wenn ich einen Kuckuck höre, und bald, im Juni, ist es wieder soweit.

Wenn ein Gedicht auch nur einem Menschen dazu verhelfen kann, die Angst vor dem Tod wenigstens etwas kleiner zu machen, dann hat sich das Schreiben dieses Gedichts gelohnt. Für mindestens zwei Menschen, einen, der schrieb, und einen, der liest. Ich weiß nicht, ob Sabine Schiffner mir zu Beginn unserer Freundschaft oft von ihrer Angst erzählte; solche Gedanken sind nicht leicht zu äußern und sie lassen sich vielleicht auf andere Weise mitteilen; etwa, wenn man gemeinsam im „Jahr der Seele“ liest. Ich erinnere mich jedoch sehr gut, und es war auf einer Wanderung in der Eifel, dass mir Sabine Schiffner von ihrem Widerwillen gegenüber all dem Grünen und Blühen in der Natur erzählte. Ein bisschen viel, das alles mitanzusehen zu müssen, dieses Werden und Vergehen, das uns die Pflanzenwelt da zumutet, diese hohe Dosis memento mori. Mich zog es dagegen an – ich wollte schon damals immer in den Wald, vielleicht weil ich hoffte, jemandem wiederbegegnen zu können. Und dann diese Hagebutten, spät im Sommer, am Wegrand, sie leuchten so, dass man hinsehen muss.

Norbert Hummelt

Die Texte wurden entnommen aus: die horen, Heft 246, Wallstein Verlag, 2. Quartal 2012

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00