Sven Meyer: Zu Jan Wagners Gedicht „hamburg – berlin“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jan Wagners Gedicht „hamburg – berlin“ aus Jan Wagner: Probebohrung im Himmel.

 

 

 

 

JAN WAGNER

hamburg – berlin

der zug hielt mitten auf der strecke. draußen hörte
man auf an der kurbel zu drehen: das land lag still
wie ein bild vorm dritten schlag des auktionators.

ein dorf mit dem rücken zum tag. in gruppen die bäume
mit dunklen kapuzen. rechteckige felder,
die karten eines riesigen solitairespiels.

in der ferne nahmen zwei windräder
eine probebohrung im himmel vor:
gott hielt den atem an.

 

Stehendes Jetzt

I.
Jan Wagners Gedicht „hamburg – berlin“1 schildert eine alltägliche Begebenheit: eine Bahnreise von Hamburg nach Berlin. Der Zug hält auf freier Strecke, irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg, und der Betrachter blickt aus dem Zugfenster auf die umgebende Landschaft, die typischer nicht sein könnte: Zu sehen sind ein Dorf, Baumgruppen, Felder und zwei Windräder. Mehr ist nicht zu beobachten. Wie Wagner aus dieser Momentaufnahme mittels Klangstruktur und Metaphorik ein poetisches Bild mit metaphysischen Implikationen erschafft, soll im Folgenden untersucht werden.
Die formale Beschreibung des Gedichts kann knapp ausfallen. Es besteht aus einer Titelzeile und drei Strophen von je drei Versen Länge mit wechselnder Silbenzahl. Die erste Strophe weist drei Verse zu je 13 Silben auf, die zweite Strophe 14 Silben im ersten Vers und je zwölf in den anderen beiden, und die dritte Strophe beginnt mit zwei Versen à zehn Silben und endet mit dem kürzeren Schlussvers von sechs Silben Länge. Das Gedicht erscheint reimlos und hat kein durchgängiges Metrum. Dennoch liegen keine Freien Verse vor, denn Wagner verwendet Daktylen in der zweiten Strophe („[ein] dorf mit dem rücken zum tag“ und „[in] gruppen die bäume / mit dunklen kapuzen“) sowie im Schlussvers („gott hielt den atem an“) und rhythmisiert das Gedicht dergestalt. Außerdem ist das Gedicht durchgängig durch klangliche Bindungen strukturiert. Wagner, „ein überzeugter und deshalb auch überzeugender Miniaturist“,2 verwendet – wie überall in seiner Lyrik seit dem Debut-Band – Kleinschreibung und gibt dem Gedicht so ein modernistisches Gepräge. Die Orthographie folgt der offiziellen Rechtschreibung, auch die Interpunktion ist regelkonform – mit einer Ausnahme: Wagner verzichtet auf ein Komma im zweiten Vers:

draußen hörte
man auf
[,] an der kurbel zu drehen.

Bisher liegen keine eingehenden Interpretationen des Gedichts vor, wenngleich die besondere Stellung von „hamburg – berlin“ im Buch augenfällig ist: Dessen Titel Probebohrung im Himmel verdankt sich ja einem Vers der dritten Strophe des Gedichts – „in der ferne nahmen zwei windräder / eine probebohrung im himmel vor:“ –, und PROBEBOHRUNG IM HIMMEL ist zugleich der Titel der dritten Abteilung des Bandes, die mit „hamburg – berlin“ beginnt. So erhält die „Probebohrung im Himmel“ dreifache Prominenz: als Buchtitel in Normalschreibung, als Abteilungstitel in Versalien und als Kernmetapher des Gedichts „hamburg – berlin“ in Kleinschreibung. Das Gedicht „hamburg – berlin“ wird deshalb von der Kritik zwar zumeist erwähnt und als beispielhaft für Wagners Lyrik benannt, kaum aber eingehend interpretiert.3

II.
Der Gedichttitel „hamburg – berlin“ lokalisiert das Geschehen, Ausgangs- und Endpunkt der Reise sind genannt. Anders aber als in der für Bahnstrecken üblichen Schreibweise „Hamburg-Berlin“ rückt Wagner Spatien zwischen den Gedankenstrich und die beiden Städtenamen ein. Durch diese interpunktionelle Justierung gewinnt der Titel eine doppelte Bedeutung. Zum einen kennzeichnet der Gedankenstrich, dass wir es mit einer Bahnstrecke zwischen dem Ausgangpunkt Hamburg und dem Zielort Berlin zu tun haben. Zum anderen fungiert der Gedankenstrich als Streckenstrich im eigentlichen Wortsinn: Er steht für das namenlose In-between, an dem der Zug zum Stehen kommt, und das zwischen den beiden konkret benannten Städten als unkonkreter Ort symbolische Bedeutung beanspruchen kann.
Darüber hinaus verbindet die Bahnstrecke von Hamburg nach Berlin den Herkunftsort Wagners mit seinem Wohnort, so dass die Bahnreise zugleich als Lebensweg des Dichters lesbar ist: „Ich bin in Hamburg zur Welt gekommen“,4 so Wagner in seiner Selbstvorstellung vor der Mainzer Akademie. 1995 zog er nach Berlin, „wo ich seither lebe.“5 Der Halt auf freier Strecke deutet somit zugleich auf ein Innehalten auf dem Lebensweg des Dichters hin, den eine profane Situation zu Assoziationen anstiftet, durch die sie transzendiert wird.
Die erste Strophe beschreibt den unvorhergesehenen Stopp des Zuges („der zug hielt mitten auf der strecke.“) und fasst die so entstandene Bewegungslosigkeit in zwei Metaphern. Die erste Metapher ist dem Bereich des Films entnommen:

draußen hörte
man auf an der kurbel zu drehen

Harald Hartung schreibt in seiner Rede zur Verleihung des Hölderlin-Preises an Jan Wagner 2011:

Wenn draußen – außerhalb des Zuges – nicht mehr an der Kurbel der Bahnschranke gedreht wird, tritt Stille ein: sie erinnert an jene stills, die der Kinematograph erzeugt.6

Hartung interpretiert die Kurbel also als tatsächlich gegeben: Ein Schrankenwärter hat sein Werk getan und die Schranken an einem Bahnübergang, der wegen des stehenden Zuges geschlossen werden musste, heruntergekurbelt. Hartung assoziiert erst die darauf eintretende Stille mit den „stills“ eines Films. Aber auch die Kurbel kann bereits Teil der Filmmetapher sein: Sie steht dann für die Handkurbel eines altmodischen Filmprojektors. Der Reisende hatte während der Fahrt aus dem Fenster geschaut und die vorbeifliegende Landschaft dabei als einen Film, als eine Folge aufeinanderfolgender Bilder wahrgenommen, die dieser Projektor zeigt. Das rechteckige ICE-Fenster bestimmt dabei die Kadrierung dieses Films, also die Wahl des Bildausschnitts. Dreht sich die Kurbel nicht mehr, steht die Welt nicht nur still; sie ist auch still wie in einem Stummfilm, der von einem Kurbelprojektor gezeigt wird: In den schallisolierten ICE-Waggon dringt kein Geräusch von außen, und auch die Fahrtgeräusche des Zuges haben aufgehört. Mit dem Halt des Zuges stoppt auch der Film, und der Reisende sieht nur mehr ein Standbild.
Dieses Standbild, das Bild, das sich aus dem stehenden Zug heraus auf die stille Landschaft bietet, steht im Mittelpunkt der zweiten Metapher:

das land lag still
wie ein bild vorm dritten schlag des auktionators

Mit diesem Vergleich rückt Wagner die Metapher des (Stand-)Bildes aus der Sphäre des Films in die einer Kunst-Auktion. Sobald ein Auktionator seinen dritten Schlag ausführt und das Los dem Höchstbietenden zugeschlagen hat, herrscht wieder Betriebsamkeit. Bevor der Hammer aber endlich fällt, scheint sich die Zeit zu dehnen. Zum Eindruck der Stille und Unveränderlichkeit trägt hier auf der lautlichen Ebene die alliterative Häufung des Konsonanten l bzw. Approximanten [l] bei:

land lag still.

Diesen Moment eines Nunc stans, eines Stehenden Jetzt, fängt das in der ersten Strophe erklärte Standbild ein. Die zweite und die dritte Strophe von „hamburg – berlin“ widmen sich diesem Bild wie eine Ekphrasis einem Gemälde.
Die zweite Strophe beschreibt die alltägliche Landschaft, die sich dem Betrachter beim Blick aus dem Zugfenster zeigt: ein Dorf, Gruppen von Bäumen und Felder. Jedes dieser denkbar alltäglichen Motive gewinnt seine lyrische Qualität durch eine überraschende Bildhaftigkeit. Diese wird durch den Vokalismus der Strophe unterstützt. In allen drei Versen der Strophe finden sich Assonanzen in Form von Clustern gleichklingender Vokale.
Das Dorf liegt „mit dem rücken zum tag“. Hier hat „tag“ metonymische Bedeutung und steht für „Sonne“. Die Sonne bescheint die Gebäude am Dorfrand, die neugierige Blicke auf das dörfliche Leben abschirmen. So scheint das Dorf dem Betrachter den Rücken zuzukehren. Auch Baumkronen erscheinen als „dunkle[] kapuzen“, so dass sich die anthropomorphe Natur in Gestalt der Bäume ebenfalls vom Betrachter abzuwenden scheint. Auffällig ist die Häufung des Vokals [u]:

in gruppen die bäume
mit dunklen kapuzen

Der dunkle Vokal [u] bzw. [u:] korrespondiert mit der Dunkelheit der Baumkronen bzw. „Kapuzen“ und unterstützt so den Eindruck der Abgewandtheit der Bäume.
Die Felder erscheinen in ihrer Gleichförmigkeit als Spielkarten:

rechteckige felder,
die karten eines riesigen solitairespiels

Der gekürzte Vergleich – unter Verzicht auf die Vergleichspartikel „wie“ – verleiht den beiden Versen eine imagistische Qualität, die sich größtmöglicher Knappheit und einer Konzentration auf ein Bild verdankt. Wie in Ezra Pounds berühmtem, zweizeiligen Gedicht „In a Station of the Metro“ (1913) liegt auch hier kein Vergleich, sondern eine Gleichsetzung (equation) vor:

The apparition of these faces on the crowd;
Petals on a wet black bow
7

Der (Halb-)Vers benennt bei Pound wie bei Wagner präzise eine Sache (Gesichter in einer Menschenmenge bzw. Felder) und ein poetisches Bild, mit dem diese gleichgesetzt wird (Blütenblätter bzw. Solitaire-Spielkarten).
Wie zuvor unterstützen auch hier die Vokalqualitäten die Intention, die Gleichförmigkeit der Felder herauszustellen. Fünfmal findet sich in „rechteckige Felder“ der Vokal [e] bzw. [ǝ], der als häufigster Vokal der deutschen Sprache prädestiniert ist, die Ordnung und Aufgeräumtheit der Landschaft zu versinnbildlichen. Wagner erkennt, dass die Vokalqualität den Sinngehalt verstärkt. So ist auch der zweite Teil der Gleichsetzung von Assonanzen bestimmt. Hier rückt der Vokal [i] in den Mittelpunkt:

die karten eines riesigen solitairespiels

Wieder endet die Strophe mit einem unbewegten Bild. „Auch die zweite Strophe wendet die Landschaftseindrücke in die Stille, in das Bild eines Solitairespiels“,8 so Hartung.

Arne Rautenberg, dessen Texte, so Wagner, „an die Tage der Konkreten Dichtung denken lassen“,9 gewinnt auf ähnliche Weise einen semantischen Mehrwert aus der Klangstruktur von Wörtern. Rautenberg erkennt, dass die stehende Wendung „der Ernst des Lebens“, die jeden weniger ernsten Blick auf die Welt und ihre Umstände als unzulässig diskreditieren will, ebenfalls fünfmal jenen strengen Vokal [e] (und keinen anderen als diesen) enthält, und dass die Vokalstruktur die rigide Direktive der Redewendung so zugleich anzeigt und entlarvt. Somit unterläuft Rautenberg diese Wirkung und kehrt sie in ihr Gegenteil, indem er in der Redewendung die Einfalt des fünffachen Buchstabens e durch die Vielfalt der fünf Vokale a, e, i, o und u ersetzt: „DAR ERNST DIS LOBUNS“10 wird so zum hintersinnigen Titel von Rautenbergs Publikation, der den spielerischen Charakter seiner experimentellen Texte beispielhaft ankündigt.

III.
Haben die ersten beiden Strophen noch Stille und Stillstand beschrieben, so lässt sich in der dritten Strophe eine Bewegung ausmachen:

in der ferne nahmen zwei windräder
eine probebohrung im himmel vor

Die Räder des Zuges stehen still, aber die Windräder drehen sich. Wagner schreibt 1998 – dem Zeitpunkt der Erstveröffentlichung des Gedichts – über ein Novum im Landschaftsbild. Vermutlich ist „hamburg – berlin“ das erste Gedicht in deutscher Sprache überhaupt, das sich des Sujets „Windräder“ annimmt.
„Können Windräder bohren?“,11 fragt Jochen Hieber in seiner Besprechung von Probebohrung im Himmel, und tatsächlich scheint hier zumindest eine kühne Metapher, wenn nicht eine Katachrese, ein Bildsprung vorzuliegen. Die Metapher mutet widersinnig an, wenn man meint, die Bohrung müsse vertikal, streng himmelwärts erfolgen. Die Drehbewegung der Windräder erfolgt aber horizontal. Auch wenn sich die Rotorblätter dem Betrachter zuwenden, stellt sich das Bild der „Himmelsbohrung“ nicht ein. Anders ist es, wenn man das Windrad von hinten betrachtet, wenn man also in Richtung des Windes blickt, der das Windrad antreibt: Dann scheint das Windrad tatsächlich zu bohren, und zwar im horizontnahen Himmel – in der Weite, nicht in der Höhe. Die dritte Strophe führt somit die Reihe der abgewandten Dinge fort: Auch das Windrad kehrt, wie schon das Dorf und die Bäume, dem Betrachter den Rücken zu. Das Gedicht „hamburg – berlin“, das „Bewegung, ja Dynamik verspricht, bleibt ganz der Reglosigkeit verschrieben“.12 Lediglich die Rotoren drehen sich um ihre eigene Achse und erzeugen eine Bewegung, die keine weitere auslöst.
Wagner betont die große Bedeutung, die die „Klangstruktur des Wortes“13 für seine Gedichte hat. Der Verzicht auf herkömmliche Endreime stellt die lautliche Besonderheiten des Gedichts und die Nutzung subtilerer Reimformen desto deutlicher heraus. Sind es in der zweiten Strophe die Assonanzen, die Qualitäten der Vokale, die den Sinngehalt des Gedichts verstärkt haben, so stehen in der dritten Strophe die Konsonanten im Mittelpunkt. „Auch Konsonanz ist eine Art zu reimen“,14 sagt Wagner, der sich hierin als Schüler Peter Rühmkorfs erweist. Beide eint ihr Vertrauen auf Reim und Klang sowie das Verständnis, dass Klang und Gehalt im Gedicht eine Einheit bilden. Peter Rühmkorf preist in agar agar – zaurzaurim Reime als „bombensicheres Beschwörungsmittel“15 und betont das „nahezu ungebrochene Vertrauen auf den akustischen Gesellschaftsvertrag“.16 Wagner sieht sich explizit in der Tradition von agar agar – zaurzarim, „dieser großen Verteidigung des Reimes“,17 und sagt im Geiste Rühmkorfs:

Der Reim soll also durchaus eine Brüchigkeit aufweisen, nichts Idyllisches. Er trägt einen Bruch in sich – und das wiederum trägt in die Gesellschaft und in die Politik hinein.18

Durch Reime, folgert Wagner, werde der Dichter in neue „bildliche und metaphorische Bereiche“19 gezwungen.
Die Plosive [p] und [b] und der Vibrant [r] im Wort „Probebohrung“ evozieren die hämmernden und vibrierenden Geräusche einer Bohrung. Wagner erkennt also eine onomatopoetische Qualität des Wortes „Probebohrung“ und nutzt sie, wobei er auf die suggestive Wirkung des Wortklanges vertraut. Doch anders als etwa Ernst Jandl, dessen „Sprechgedichte“ sich der Bearbeitung des Wortmaterials verdanken, der „zerlegung des wortes und zusammenfügung seiner elemente zu neuen, ausdrucksstarken lautgruppen (schtzngrmm, ode auf N)“,20 nutzt Wagner vorhandene, unverdächtige Wörter und stellt eine bestehende Klangqualität heraus, statt eine neue zu erzeugen. Es handelt sich also nicht um Lautmalerei im Sinne einer Klangnachbildung. Wagners dichterische Leistung besteht stattdessen darin zu erkennen, dass das Wort „Probebohrung“ – zufällig – eine onomatopoetische Qualität hat, so dass die Lautung des Wortes – und somit sein natürlicher Klang – den intendierten Sinn des Verses unterstützen kann. Wagner versetzt das Wort „Probebohrung“ aus dem ihm angestammten, technischen Bereich in einen lyrischen und gebraucht es wie ein Readymade, das, obwohl unverändert, in einem anderen Kontext eine neue Bedeutung gewinnt.
Das beharrliche Bohren, das in den Lauten [r], [p] und [b] anklingt, kontrastiert mit dem Nasal [m] und dem Approximanten [l] im nachfolgenden „im Himmel“. Der „Himmel“ ist der Ort Gottes sowie der Toten. Der komische Effekt, der sich aus dem Aufeinandertreffen der profanen mit der himmlischen Sphäre ergibt, entspringt dem Stilmittel Bathos: der Begegnung des Erhabenen mit dem Lächerlichen. Insbesondere der Laut [r] bereitet den größtmöglichen Kontrast zu den weichen Lauten von „im Himmel“ im zweiten Teil der Metapher vor. Jandl hat die Qualität des Konsonanten r so beschrieben:

aller ingrimm rollender rrr gilt der humorlosigkeit21

Kontraste zeigen sich ebenso in den Vokalqualitäten: In den betonten Silben von „probebohrung im himmel“ steht der mittlere, hintere, lange Vokale [o:] in „probebohrung“ dem hohen, vorderen, kurzen Vokal [i] in Himmel gegenüber. So klingen das niedere Irdische und das hohe Himmlische in den Vokalen an. Die dritte Strophe liefert damit, so Hartung, die „metaphysische Pointe“22 des Gedichts: „In dieser Metapher [d.i. „Probebohrung im Himmel“, S. M.] kollidiert unsere Technologiehybris mit dem Gottesgedanken“.23 Tatsächlich aber eröffnet erst der Schlussvers die gesamte metaphysische Implikation des Gedichts. Das Nunc stans der ersten Strophe hat ein gewichtigeres Nunc stans in der dritten Strophe erst vorbereitet:

gott hielt den atem an

Eine Probebohrung ist ein Unterfangen mit ungewissem Ausgang; eine Probebohrung im Himmel desto mehr. Hält Gott aus Sorge, entdeckt zu werden, den Atem an, wie die Auktionäre im Moment der Entscheidung, vor dem dritten Schlag des Auktionators, den Atem anhalten? Volker Sielaff schreibt:

Die verhaltene Ironie der ersten beiden Verse ermöglicht das stille Pathos des dritten.24

Womöglich ist dieses Pathos aber weit weniger still, als es den Anschein hat, und beruft sich auf eine lange literarische Tradition. Nicht nur durch die Wörter „Himmel“ und „Gott“, sondern auch durch einen Textverweis, einen intertextuellen Bezug, verweist das Gedicht auf die Sphäre der Metaphysik. Denn die Bibel kennt eine Geschichte, zu der die dritte Strophe von Wagners Gedicht deutliche Parallelen zeigt: Die Bohrerspitze, die Wagner in den Turbinen der Windräder sieht, ist nicht die erste Spitze, die in den Himmel getrieben wird und Gott infrage stellt: Der „Turmbau zu Babel“ (Gen 11, 1–9) schildert die Absicht der Menschen folgendermaßen:

Wohlauf, laßt uns einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen! (Gen 11, 4)25

Bekanntlich führt das Vorhaben zu keinem guten Ende für die Menschen:

Wohlauf, lasset uns herniederfahren und ihre Sprache verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe! Also zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder, daß sie mußten aufhören die Stadt zu bauen. (Gen 11, 7–8)

Deutlich sind Parallelen zwischen der biblischen Verfehlungsgeschichte und der Lesart, die Wagners Gedicht anbietet: technologische Hybris als Grund menschlichen Scheiterns, und Sprachverlust als Folge. Der Halt auf freier Strecke, den der Zug außerfahrplanmäßig machen muss, erscheint so betrachtet als Vorbote eines größeren technologischen Scheiterns; die im Gedicht beschworene Stille als Ankündigung eines Sprachverlusts. Bemerkenswert ist zudem eine formale Parallele: Neun Verse umfasst Wagners Gedicht „hamburg – berlin“, neun Verse lang ist auch die Geschichte „Turmbau zu Babel“.
Vor dem Hintergrund dieses Bibelbezugs gewinnt auch das Stehende Jetzt eine höhere Bedeutung für Wagners Lyrik: Nunc stans ist die Zeitform Gottes.26 Auf die Bedeutung des Nunc stans für Wagners Lyrik hat bereits Iain Galbraith hingewiesen. In „elegie für knievel“, 2010 im Gedichtband Australien veröffentlicht,27 heißt es:

wie hier, in yakima, washington,
mit diesem zerbeulten mond überm stadion
und tausenden, denen der atem stockt:
fünfzehn, zwanzig busse und das rad
steht in der luft.

Galbraith lenkt das Augenmerk des Lesers auf „das Schlussbild dieser modernen heroischen Elegie mit seinem aufgeladenen nunc stans in der letzten Zeile.“28 Dieselbe Spannung zwischen scheinbarem Stillstand und notwendigem Fortschreiten ruft auch das gleichfalls in Australien veröffentlichte Prosagedicht „frombork“ auf, in dem es über zwei Arten von Singvögeln aus der Gattung Luscinia im Fromborker Domgarten heißt:

wir hören ihren gesang, und doch sind sie da
[…]
während die erde stillsteht, vorwärtsrast
29

Auch im letzten Gedicht von Probebohrung im Himmel, „im norden“, findet sich, wiederum im Schlussvers, die Gottesreferenz in Verbindung mit einem Nunc stans:

im langen riedgras kauern die kirchen aus weißem
rauhen stein: aus schmalen fenstern blicken
sie unverwandt und trotzig in den himmel,

wartend darauf, daß gott zuerst blinzelt.30

Hartung schreibt:

Jan Wagner als Analytiker einer durchrationalisierten technischen Welt, als metaphysischer Dichter – das ist der halbe Wagner: Denn Kritik und Metaphysik ergreifen uns nur dort, wo der Gedanke sinnlich wird und wir die Fülle der Welt erfahren. Wagner ist ein Dichter solcher Fülle.31

Auch das Bild des Solitairespiel in der zweiten Strophe von „hamburg – berlin“ offenbart vor diesem Hintergrund metaphysische Implikationen: Wer könnte spielen, dem „die karten eines riesigen solitairespiels“ nicht zu groß wären, und wessen Standort wäre hoch genug über der Erde, mithin im Himmel, so dass sich dieses Spiel überblicken ließe? Gott würfelt nicht, aber vielleicht spielt er Karten, scheint Wagners Gedicht anzudeuten.

IV.
„hamburg – berlin“ kann in mehrfacher Hinsicht – auf den Ebenen von Motivik, Metaphorik, Strophen-, Reim- und Klangformen – als Blaupause für spätere Gedichte Jan Wagners gelten. Nicht nur steht es, wie beschrieben, am Beginn einer Reihe von Gedichten, in deren Zentrum das Motiv des Nunc stans steht. Auch die Gedichtform – drei Strophen à drei Verse – verwendet Wagner mehrmals, etwa in den Gedichten „kleinstadtelegie“32 und „früher sturm“33 in seinem zweiten Band Guerickes Sperling. „früher sturm“ weist aber auch über die Strophenform hinaus Parallelen zu „hamburg – berlin“ auf. Auffällig ist, wie beide Gedichte die gleichen landschaftlichen Begebenheiten beschreiben und metaphorisch aufladen, und diese sogar in den entsprechenden Strophen verhandeln. In der jeweils ersten Strophe der beiden Gedichte heißt es „das land“ („hamburg – berlin“) bzw. „übers land“ („früher sturm“), in der zweiten Strophe „rechteckige felder“ bzw. „gelbes heimwärtsleuchten der felder“ und „in gruppen die bäume“ bzw. „das schwanken jedes baumes“, Wie in der dritten Strophe von „hamburg – berlin“ „ein dorf“ die Besiedelung der Landschaft kennzeichnet, so zeigen in der dritten Strophe von „früher sturm“ die „straßen“ die Anwesenheit von Menschen an. Wo schließlich in „hamburg – berlin“ in der dritten Strophe der Wind die Windräder antreibt, vernehmen wir in „früher sturm“ in der dritten Strophe „draußen das heulen des sturms“. Diese augenfällige Parallele verdient eine gesonderte Betrachtung an anderer Stelle.
Das Motiv der Bahnfahrt greift Wagner gleichfalls mehrmals wieder auf, und auch die Verbindung von Himmel- und Bahn-Metaphern findet sich nicht nur in „hamburg – berlin“. Im Gedicht „des toten lenins reise nach tjumen“ heißt es:

das dunkel im waggon, das dunkel draußen.
das leise rattern der schienen, dann ein pfiff

von vorne, von der lok, der jubelnd versuchte,
sich in den spalt zwischen himmel und erde zu zwängen:

der ural gab uns an die ebene frei.34

– und noch einmal, als Reprise in der Coda:

das dunkel im waggon. das dunkel draußen.
das leise rattern der schienen

Im Gedicht „in mitteleuropa“ ist „das quietschen eines güterzuges, morgens: / ein keil, der sich in den unreifen himmel treibt“.35
Michael Braun zufolge liegt ein Missverständnis vor, wollte man Wagner bloß „als formbewussten Naturidylliker, der die ganze Flora und Fauna durchbuchstabiert“,36 interpretieren. Wagners Naturbetrachtungen sind gleichwohl die Basis seiner Poetologie, denn von ihr ausgehend entwickelt er seine reflektierte Technologiekritik. Ähnlich wie in der Physikotheologie Barthold Heinrich Brockes’ gewinnt Wagners Lyrik ihre Bedeutung durch die Transformation des Gesehenen in poetische Bilder und die Transzendierung des Alltäglichen. Das Spannungsverhältnis zwischen der Profanität einer beschriebenen Situation und den ihr eingeschriebenen metaphysischen Implikationen macht „hamburg – berlin“ für diese Methode beispielhaft. Wagners Lyrik erweist sich in Probebohrung im Himmel und besonders in „hamburg – berlin“ als „Schule des Sehens“,37 die sich im Blick aus dem Zugfenster zwischen Halt auf offener Strecke und Weiterfahrt bewährt. Jan Wagners Modus vivendi ist die Weltbeobachtung. Sie richtet sich auf die Erde wie auch den Himmel.

Sven Meyer, aus: Christoph Jürgensen, Sonja Klimek (Hrsg.): Gedichte von Jan Wagner. Interpretationen, mentis Verlag, 2017

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