Uwe Grüning: Fahrtmorgen im Dezember

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Uwe Grüning: Fahrtmorgen im Dezember

Grüning-Fahrtmorgen im Dezember

STERNE

Die Sterne
sind uns ein seltnes Geschenk,
ich pflück sie
eine Stunde vor Mitternacht,
trag in der Schürze sie,
nähre den Reichtum
und schenk ihn,
stadtwärts schreitend, dem Tau.

In weiße Fenster
sind tote Kerzen gestellt,
ich grüß sie
mit dem Gruße des Lichts.

Zur Mutter Gottes
trag ich die Sterne,
dort mögen sie brennen.
Laß ein Wunder geschehen, Maria,
laß mich aussäen ein Zwielicht,
wachsen laß eine Blüte.

Es wird ein reines Linnen
über dem Flusse gebleicht.
Ich gehe,
find einen Stern noch
in einer Falte verborgen,
laß von der Brücke
ihn fallen hinab.

Ein Schifflein, treibt er,
brennt ein Loch in den Nebel.
Ich eil mich, folg ihm am Ufer
und fisch ihn
wieder vor einem Stein.

Schaufel ein Grab ihm
mit beiden Händen im Triebsand,
setze ein Kreuz ihm,
da ruht er, und aus der Erde
gleißt mir ein seltsames Licht.

Ich grab ihm nach,
finde ihn lebend noch,
preß an die Brust ihn,
wärm ihn, er hat
lange im Sande gelegen.

Aufbrechen will ich, zu sehen,
ob eine Blüte gewachsen ist,
ob ich geliebt bin vor Tag.

Da schenk ich
ihm als Ring meinen Stern.

 

 

 

Nachwort

Vor ungefähr zehn Jahren konnte man in einer Debütanten-Anthologie etwa ein Dutzend Gedichte des damals noch unbekannten Uwe Grüning lesen. Am Beginn dieser schmalen Auswahl stand das Gedicht „Schweigen“, dem wir nun auch im vorliegenden Band – in veränderter Gestalt – wiederbegegnet sind:

Unser Wert
an der Machzahl gemessen
unserer Augen.

Ein Gedanke,
der Lichtjahre stumm macht:
Dilatation
des auf uns zustürzenden Endes.

Du hast noch Zeit,
ein Grab auszuheben
unter den Wolken
.

Du hast noch Zeit,
auszuwerfen die Kinder,
die werden besser
dieses Ende begreifen als du.

Unser Wert
gemessen
an der Unbeweglichkeit unserer Füße.

Hier wie in den anderen Gedichten jener Auswahl fiel die Eindringlichkeit auf, mit der sich in einem gleichmäßigen, etwas ermüdenden Gestus ein junger Lyriker von der Gedanken- und Sorglosigkeit manches sich unbefangen gebenden Verses jener Zeit abzuheben bemüht war.
Freilich konnte der etwas oberflächlich Lesende durch diese Gedichte Grünings den Eindruck gewinnen, daß hier ein noch junger Dichter sich seinen Blick auf die Welt verengte, indem er sich einem Endzeit-Gefühl zu öffnen schien, dessen apokalyptische Deutung dem Leser offen stand.
War dem wirklich so? Ging es dem Lyriker tatsächlich um die Apostrophierung einer Endzeit-Stimmung angesichts der Möglichkeit atomarer Katastrophen? Oder sollte hier nicht „einfach“ unsere Sorglosigkeit in Frage gestellt werden, indem sie provoziert wurde?
Die Antwort auf solche Fragen erhielt der Leser von Grünings damals veröffentlichten Gedichten nicht unmittelbar. Erst heute, zehn Jahre später, vermag uns der erste umfangreiche Gedichtband des Lyrikers auf solche und andere Fragen Antwort zu geben. Und vielleicht wird der Leser von Grünings frühen Gedichten bei der Lektüre dieser Sammlung die Erfahrung machen, daß Gedichte vom Typ jener damals veröffentlichten Verse auf eine eigenartige Weise das Wesen dieser Lyrik zugleich offenbaren wie auch verschweigen. Denn wie bei jeder Lyrik von einigem Rang verweist auch dieser Gedichtband mehr auf die Entfaltung einer poetischen Grunderfahrung als auf deren Wandlung. Was aus den vereinzelt veröffentlichten Gedichten Grünings bisher nur zu vermuten war – daß nämlich deren Aussage durchaus nicht in einer pessimistisch getönten Perspektivlosigkeit endet –, schließt sich nun zu einem Bogen. Der Band Fahrtmorgen im Dezember läßt erkennen, daß die „lyrische Provinz“ des 1942 in Pabianice bei Łódź geborenen Dichters auf eine für die Lyrik unserer Zeit erstaunliche Weise die Perspektiven von mythisch entlegenen Zeiten und Räumen bis zum Hier und Heute unserer Gegenwart erfaßt.
In Grünings Gedichten vereinbaren sich Namen und Orte alt- und neutestamentarischen Geschehens mit thüringischen Ortsnamen wie Nermsdorf oder Kloster Veßra; Namen wie die der Komponisten Francesco Landini, Hans Leo Haßler oder Giovanni Battista Pergolesi mit denen moderner bildender Künstler oder Dichter wie Feininger, Isaak Babel, Barlach oder Nelly Sachs. Es scheint, als wolle der Dichter, wie es in einem seiner Gedichte heißt, „die… getrennten Zeiten“ zusammenrücken „wie die fernen Laute im Bogentor einer Muschel“.
Wer beim Lesen dieser Gedichte an den Erkundungen des Lyrikers teilnimmt, sieht sich einer poetischen Wirklichkeit gegenüber, in der bewußt aufgenommene Traditionen orientalischer und europäischer Kulturen ebenso ihr Recht behaupten wie die Benennung des als höchst gegenwärtig Erfahrenen. Mit einer Dichtung jedoch, die sich lediglich auf die Erfahrung als ihre einzige Instanz berufen darf, haben diese Gedichte nur bedingt zu tun. Ebenso schwer ist es, sie mit einem umfassenden Begriff wie „Weltanschauungslyrik“ oder „Erlebnislyrik“ zu belegen. Die von Grüning bevorzugte Landschaft Thüringens atmet in seinen Gedichten ebenso Melancholie wie heitere Gelassenheit:

Es trägt
eine seltene Schönheit das Leben.
Du streifst, ehe sie fallen,
von den Buchenzweigen ein Rot.

Aus den Schichten biblischer und geschichtlicher Überlieferung treten auf eine oft frappierende Weise jüngste Vergangenheit und Gegenwart ins Licht:

Wer vor Mitternacht unseren Reigen verläßt,
den flicht der Henker aufs Rad.
Frau Kriemhild gibt ihren Gästen ein Fest
zwei Jahre nach Stalingrad.

Obwohl Grünings Verse kaum Anlaß bieten, Autobiographisches zu entschlüsseln (es sei denn, man nähme ein Gedicht wie „Exhumierung“ in jenen Erfahrungsbereich, den die Kindheit seiner Generation am Rande des Krieges gestreift hat: „Wir schürfen / die Gräber auf der Gefallenen,/ schürfen sie auf für die Toren: es ist / ihnen unzureichend die Antwort, / die uns der Tod gab“), ist seine Lyrik erkennbar von jener Auseinandersetzung geprägt, die man als moralische und intellektuelle Problematisierung eines Lebensgefühls bezeichnen könnte, in dessen Zentrum die Frage nach der Sinngebung des Lebens steht. Grüning hat es sich dabei weder mit seinen Fragen noch mit seinen Antworten leicht gemacht.
Vergleicht man seinen Entwicklungsweg mit dem anderer Lyriker seiner Generation, die Germanistik, Publizistik oder Theaterwissenschaft studiert haben, so fällt auf, daß es sich bei ihm um keinen „homme de lettres“ handelt. Uwe Grüning ist in mancherlei Hinsicht ein Sonderfall in der jüngeren Lyrik der DDR, obwohl seine Biographie kaum Außergewöhnliches aufweist.
Seit seinem zweiten Lebensjahr in der Nähe Glauchaus in Sachsen lebend, ist er in seinen Erfahrungen nicht durch die großstädtischen Zentren unseres Landes geprägt worden. Obwohl in seinem Elternhaus das herrschte, was man gemeinhin ein „musisches Klima“ nennt, entschloß er sich nach dem Abitur 1960 überraschend, ein technisches Studium in Ilmenau aufzunehmen. Er studierte Fertigungstechnik, wurde Diplomingenieur und promovierte. Heute lebt er als Fachschullehrer in Jena. Etwa seit seinem neunten Lebensjahr Gedichte schreibend, veröffentlicht er seit Mitte der sechziger Jahre in Zeitschriften und zahlreichen Anthologien der DDR vorwiegend Lyrik, aber auch kürzere Prosa. Mit einer „Replik“ auf eine Rezension zur Lyrik Erich Arendts machte er auch als Essayist auf sich aufmerksam.
Grüning selbst sieht zwischen seinem Beruf und dem Schreiben keinen Widerspruch. Die Ausübung einer technisch-wissenschaftlichen Tätigkeit bringt es im Gegenteil mit sich, daß in seinem Weltbild keine Befangenheit dem gegenüber ist, was die Naturwissenschaften in unserem Jahrhundert entdeckt und entwickelt haben. Andererseits ist er alles andere als ein „schreibender Ingenieur“. Sein Beruf erlaubt ihm eine gewisse Unabhängigkeit als durchaus produktiver Schriftsteller. Davon zeugt u.a. auch das Manuskript eines Romans, an dem er zur Zeit arbeitet.
Die Mitteilung derartiger Fakten vermag allerdings nur dann wesentlich zu werden, wenn die im Spannungsraum zwischen „Beruf“ und „Freizeit“ entstehenden Gedichte ihrem Gehalt und ihrer Sprachführung nach über das hinausweisen, was man allgemein mit dem Begriff der „Selbstverständigung“ bezeichnet. Gerade dadurch, daß sich Grünings Gedichte wesentlich von solchen Texten unterscheiden, die, sich im Vorfeld der Literatur bewegend, als ihren einzigen Ausweis eben den der Selbstverständigung bereithalten, machen sie auf sich aufmerksam.
Die Adressaten seiner Lyrik sind gewiß nicht unter denen zu suchen, die sich mit Ephemerem zufrieden geben dürften. Das bedeutet freilich nicht, daß seinen Gedichten „Gelegenheitsmomente“ im Sinne Goethes fremd sind. Aber es geht ihm in seiner Auseinandersetzung mit der Gegenwart um mehr als nur darum, Antworten für Tag und Stunde bereitzuhalten. (Daß Grünings Hinwendung zu den großen Themen und Namen biblischer und literarisch-künstlerischer Tradition auch Gefahren innewohnen, soll dabei nicht verschwiegen werden. Hier wäre an eine innere gestische und sprachliche Ermüdung zu denken, die vor allem die Lektüre der großen biblischen Zyklen erschwert.)
Obwohl Grünings Gedichte christlicher Thematik weithin verpflichtet sind, muß man es für verfehlt halten, den Autor mit dem Etikett eines christlichen Dichters zu versehen. Seine Hoffnung, die Wirkung seiner Dichtung betreffend, ist nicht auf eine bestimmte Leserschicht gerichtet. Er selbst hat in einem Gespräch formuliert:

Wenn das Gedicht gut ist, wenn es wesentliche Fragen aufgreift, so wird es seinen Adressaten finden. Wenn es nicht gut ist, dann wird es, bei welcher Thematik immer, keinen erreichen.

Eine derartige, Selbstbewußtsein und Bescheidenheit gleichermaßen vereinbarende Bestimmung dessen, was der Dichter von sich und seiner Lyrik erwartet, erlaubt es, zum Wesentlichen einer Dichtung zu gelangen, die sich nicht allein als sprachlich-formale Leistung versteht, sondern vor allem von einem Impuls bestimmt wird, zu dessen Voraussetzungen das Bekenntnis zu einer humanen, wenn auch nicht „heilen“ Welt gehört. „Diesem Leben verfallen“ zu sein, „dieser Welt / voll unendlich viel Hoffnung“, wie es im Gedicht „Am Rand eines Jahres“ heißt, bedeutet ja, im lyrischen Sprechen immer wieder den „eigentlichen“ Gegenstand aufzusuchen, der die Existenz dessen, was unserem Leben einen Sinn gibt, gewährleistet.
Was gerade das Gedicht „Schweigen“ nicht preisgab, sondern eher verbarg, ist Grünings Suche nach einer Sinngebung des Lebens. Setzte sich dieses Gedicht einem solchen Sinn geradezu antithetisch entgegen, so bemüht sich der Lyriker in anderen Gedichten immer wieder um dessen Formulierung:

Aber es wird nichts erlassen,
nämlich: es ist das Wesen der Gnade,
daß nichts erlassen wird.

Oder in dem Gedicht „Der alte Barlach“:

Wer in den Stein sät,
muß tausend Jahre geduldig sein.

Aus der Beziehung, in der ein Gedicht wie „Schweigen“ zu derartigen Versen steht, wird erst ersichtlich, daß das eigentliche Thema von Grünings Lyrik jene Sorge um die Zukunft ist, die auf Geduld baut.
Mehr auf diese Geduld bauend als auf Veränderungen dringend, läßt Grünings Lyrik ihre potentiellen Grenzen erkennen. Aber entscheidend wie für jede Kunstausübung ist auch für das Schreiben von Lyrik jener Weltgewinn, der in der Dichtung mit dem Gewinn an sprachlicher Prägnanz und Eindeutigkeit, die wiederum Vieldeutigkeit in sich schließen kann, Hand in Hand geht. Das Ineinandergehen von Sprach- und Weltgewinn in der Lyrik Grünings steht eng im Zusammenhang mit der Ausgewogenheit einer Sprache, die auf Saloppheiten und gewollte Modernismen verzichtet. Diese Lyrik – keiner modischen Epigonalität, mag diese sich nun auf Brecht oder Bobrowski berufen, hörig – erhält ihre Bestimmtheit aus dem Sinn jener von Karl Kraus gedichteten Sentenz, daß auch er nur „einer von den Epigonen“ sei, „die in dem alten Haus der Sprache wohnen“.
Dennoch steht Grünings Sprache um nichts weniger als die seiner dichtenden Zeitgenossen im Strom zeitgenössischer Dichtung und profitiert vom Erlebnis moderner Lyrik von Trakl bis zu Nelly Sachs und Bobrowski ebenso, wie sie sich der Luthersprache verpflichtet weiß. Gegenwart zu erhellen, sich selbst und dem Leser bewußt werden zu lassen, was uns geformt hat, um auf das uns Formende zurückwirken zu können – in diesem Kreis bewegt sich auch diese Dichtung.
Die Welt, von der die Lyrik Grünings getragen wird, ist keine Welt eines strahlenden Optimismus. Zurückgenommen in den Bereich einer von sprachlicher Musikalität beherrschten Sachlichkeit, spricht hier eine Dichtung, die unsere Treue gegenüber Menschen und Dingen in Zweifel zieht. Hölderlins Gedanke, daß auch die „geistigen“ Dichter weltlich sein müssen – ein Gedanke, zu dem sich Grüning bekennt –, wird in seiner Lyrik nicht zuletzt durch die Differenz betont, die in seinen Gedichten zwischen poetischer und philosophischer Sprache besteht. Anschaulichkeit und Abstraktion bestimmen im Wechsel die Gestalt seiner Gedichte. Aber bei allem Bemühen um eine geistige Durchdringung von Zeiten und Räumen unternimmt Grüning nicht den Versuch, die Dinge, „wie sie wirklich sind“ (Brecht), zum abstrakten Weltbild zusammenschrumpfen zu lassen.
Das behutsame Auseinandernehmen des poetischen Gegenstandes in einem Gedicht wie „Kastanie“ läßt erkennen, wie tief dieser Dichter dem Konkreten verpflichtet sein kann. Aber es verweist auch auf eine Sprechweise, die nicht verschweigt, daß Grüning kein Dichter der lauten Stimme und der Akklamation ist. Seine Gedichte richten sich eher an einen gleichgestimmten, aufnahmebereiten Leser, als daß sie ihn mit agitatorischen Mitteln vom Standpunkt des Autors überzeugen wollen. Eine Schlußwendung wie „Daß wir nicht treu sind, / du weißt es“, ist nicht gesetzt, um die Abgeschlossenheit des Gedichtes zu betonen, sondern sie fordert, über sich hinausweisend, geradezu im Gegensinn den Widerspruch des Lesers heraus. Ein solcher Schluß erscheint als Resultat eines Vorgangs, der mit dem Gedicht entsteht und eine Bewegung schafft, die sich dem Leser mitteilt – sei es als innere Bewegung des Gedichts oder als zusammenfassendes Bild. Was sich hinter der Benennung der Dinge verbirgt, offenbart sich in einer solchen Schlußsentenz: Sichtbar wird der Charakter einer Weltaneignung durch das lyrische Subjekt, der unverstellt dem inneren Auftrag des Dichters entspricht. Von den Schalen zum Kern vorgedrungen zu sein: Ein solches Gleichnis exemplifiziert dieses Gedicht stellvertretend für viele andere dieses Lyrikers. Grünings Absage an eine forcierte Modernität bringt es mit sich, daß sich seine Verse, besonders in den Schlüssen der Gedichte, zu einprägsamen Sentenzen abrunden:

„Tapfer / wie Tage sind, wenn sie schwinden.“
„Daß wir nicht treu sind, / du weißt es.“
„Im gleichen Abteil / fahren wir mit den Verstorbenen. // Sie haben ihr Leben, / einen geschlossenen Schirm, / gegen das Fenster gelehnt.“
„Über fasernde Blüten / senkt sich / mit schweigenden Stimmen das Jahr.“
„Wer weiß, / ob ein Toter noch knien kann, / der über Eiswüsten heimzog, / hungernd nach Gnade.“

Nicht um einen Katalog seiner Bildwelt aufzustellen, zitieren wir hier diese zufällige Zusammenstellung einiger Verse, die, ohne jede Absicht, fast wieder ein neues Gedicht ergeben. Auffällig wird hier jedoch ein die Lyrik Grünings beherrschendes ästhetisches Prinzip: der Montage-Charakter seiner nahezu unmetaphorischen Verse. Und der Gehalt dieser vom Zufall bestimmten Reihung gibt Auskunft über eine poetische Verfahrensweise, die es liebt, mit gnomenhaften Sentenzen ein Gedicht zu eröffnen oder zu schließen. Ganz auf das Bild gestellt, das sie beschwören, wollen solche Verse nicht mehr aussagen, als was sie meinen. Sie stellen die Übereinstimmung des Dichters mit einer Welt her, zu der Leid und Tröstung, Schmerz und Gnade gleichermaßen gehören.
Ist in der Naturlyrik Grünings dieses Moment der Übereinstimmung von Subjekt und Welt besonders auffällig, so bestätigen auch die drei von religiöser Thematik bestimmten Zyklen dieses Bandes die Einheitlichkeit eines Stils, der sich nicht nur durch die Bevorzugung daktylisch-anapästischer Sprechtakte bemerkbar macht, sondern auch durch die melodischen Führungen einer Sprache, die Grünings Abhängigkeit von der Musik alter Meister bezeugt. Diese Musikalität seiner Verse erhält dadurch besonderes Gewicht, daß der Dichter selbst den Sinn des Gedichts nicht allein in dem erblickt, was mit Worten und Sätzen ausdrückbar ist, sondern in seiner Gesamtheit:

Läge sein Sinn (der des Gedichts, H. C.) ausschließlich in der herkömmlichen und gebräuchlichen Bedeutung der Wörter und Sätze – es bedürfte des Gedichtes nicht, und was es zu sagen glaubt, könnte besser in Prosa gesagt werden. Nicht semantische Bezüge allein sind für das Gedicht wesentlich, sondern im gleichen Maße das, was es von anderen Sprachformen scheidet: Rhythmus, Klangfarbe, das Zueinanderstehen der Worte, die Mikrostruktur und vieles andere mehr.

Diese Aussage erhellt freilich noch nicht die weltanschaulichen Intentionen des Dichters, obwohl sie diese einschließt, der sich ja nicht nur der Sprache der Lutherbibel verpflichtet weiß, sondern auch deren Botschaft. Obwohl er durch zahlreiche direkte und indirekte Zitate, Anlehnungen und Entstellungen seinem nicht bibelfesten Leser den Zugang zu seinen religiösen Zyklen erschwert, ist es nicht seine Absicht, die biblischen Mythen: neu zu deuten. Über das religiöse Verständnis hinaus dringen die Gedichte dieser Zyklen auf die Vergegenwärtigung der mythischen Überlieferung, was sie auch für den religiös nicht gebundenen Leser interessant macht.
Wie in dem Jeremia-Zyklus geht es Grüning auch in den beiden anderen Zyklen dieses Bandes darum, die Prophetien des Alten Testaments ebenso wie die früheste Geschichtsschreibung der abendländischen Kultur auf die Vergangenheit der jüngsten Geschichte zu projizieren. Erinnert sei nur daran, daß sich beispielsweise der Zyklus „König von Babylon“ nicht nur auf das Alte Testament beruft, sondern auch auf die „Anabasis“ des Xenophon. Eine Aufarbeitung von Tradition und Geschichte erfolgt so in einem zweifachen Sinn: Die Polarität von mythischer Überlieferung und geschichtlicher Erfahrung bestimmt den Gestus einer Sprechweise, die sich nicht scheut, Ereignisse und Leiderfahrungen der neueren Geschichte immer wieder direkt mitzubenennen:

Sie lassen die Toten liegen
mit Kronen aus Stacheldraht
im Eise der Beresina,
im Winter von Stalingrad.

Im Jeremia-Zyklus steht die Gestalt des Propheten als ein Memento des Widerstandes mitten im Strom unserer eigenen geschichtlichen Erfahrungen. Die vom Dichter gesetzten Zeichen sind dabei unübersehbar: Nicht nur, daß Jeremia das „Symbol eines Menschen“ ist, „der für seine Wahrheit und Wahrhaftigkeit gelebt hat“ (Grüning), ist dabei von Bedeutung, sondern vor allem jene über den Mythos hinausweisenden Bezüge, die diese „Lebensbeschreibung eines Landesverräters“ – so der Titel des ersten Gedichtes des Zyklus – zum Zeugnis der menschheitsgeschichtlichen Kontinuität einer Ethik machen, die im Widerstandskampf gegen den Faschismus ihre Krönung erfahren hat. Und wie Baruch – dem der Überlieferung nach Jeremia seine Worte diktiert haben soll – im letzten Gedicht nach dem Tode des Propheten spricht: „Jeremia ist tot – eine große Stimme. / Wer wird dein Wort jetzt ertragen, das letzte?“, so richtet der Dichter in seinem Requiem für Nelly Sachs seine Worte direkt an den Leser: „Auch die Wahrheit altert, wenn wir sie nicht täglich / mit unserem Schweigen erneuern.“ – Der in diese Verse aufgenommene Gedanke, daß jene, die geschwiegen, sich nicht ergeben haben, mag als Definition eines „schweigenden Widerstandes“ unsere Zustimmung finden oder nicht: Für den Dichter Uwe Grüning ist das an den Leser gerichtete Wort eine Möglichkeit, sich für eine Welt, in der „zum Trauern nicht Grund ist“, zu engagieren.
Dieser Auswahlband der Lyrik Uwe Grünings ist nur ein Ausschnitt eines begonnenen Dialogs, der zu jenen „aufgebrochnen Gesprächen“ gehört, die hinweisen auf unser Leben, ein „Leben, stet, um zu bleiben / eine Spanne Friedens bei uns.“
Dank einer in unserer Zeit leider selten gewordenen Wahlverwandtschaft zwischen Dichtung und bildender Kunst erfährt dieses Buch eine Bereicherung: durch Holzschnitte des 1950 in Halle geborenen Valentin Rothmaler, Sohn des Botanikers Werner Rothmaler. Der junge Künstler, der in Berlin als Drucker tätig ist, studierte in den Jahren 1968/69 und 1971 bis 1973 an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Berlin-Weißensee. Zwischen diesen Studienjahren absolvierte er eine Lehre als Schriftsetzer. Gediegenes handwerkliches Können verbindet sich in seinen Arbeiten mit Anregungen des deutschen Expressionismus. Enge persönliche Beziehungen seines Vaters zu Lyonel Feininger und zu Alexander Camaro mögen dazu beigetragen haben, daß Rothmaler, der schon früh in seinem Elternhaus mit den Arbeiten dieser Künstler in Berührung kam, in seinen Holzschnitten die Auseinandersetzung mit seinen Vorbildern offen zur Diskussion stellt.
Neben harten Schwarzweiß-Akzenten bevorzugt er Übergänge, in denen die Randzonen der schwarzen Flächen gleichsam aufgerauht werden. Dadurch werden die dem Holzschnitt eigenen Kontraste gemildert, ohne jedoch „aufgeweicht“ zu werden. Die prismatischen Lichtbrechungen der Feininger-Bilder erfahren eine Umsetzung ins Grafische. Ohne daß die Anregungen, die Rothmaler durch Grünings Texte erfahren hat, zu übersehen wären, sind die acht Blätter des Zyklus’ jedoch nichts weniger als nur Illustrationen einer durch die Dichtung vorgeprägten Bildwelt. In der Verarbeitung der literarischen Anregungen ganz selbständig, ist jedes dieser Blätter eine in sich geschlossene Auseinandersetzung mit einer aus Tradition und eigenen Bildvorstellungen gewonnenen Bildhaftigkeit.
Wie auch Grünings Lyrik die ständige Auseinandersetzung mit der Sprache und den Motiven ihrer Vorbilder sucht, so lassen Rothmalers Blätter die unverstellte Auseinandersetzung mit Kirchner, Beckmann, Rohlfs, aber auch mit Munch oder Barlach erkennen. Noch – und das zeigen diese Blätter sehr deutlich – ist die Suche nach den unverwechselbaren eigenen Ausdrucksmöglichkeiten dieses jungen Grafikers nicht abgeschlossen. Nicht nur ihrer Wirkung, sondern auch ihren Intentionen nach sind Rothmalers Holzschnitte Dialoge, die, ganz im Sinne Grünings, ja in direkter Parallelität zu dessen Lyrik, wie Gespräche wirken, die zwischen Kunst und Realität geführt werden. So ergänzen sich im Wechselspiel gegenseitiger Anregungen die Arbeiten von zwei noch jungen Künstlern auf überraschende Weise.

Heinz Czechowski, Nachwort

 

Die Unruhe in den siebziger Jahren

(…) Uwe Grüning (*1942), geboren in Polen, als die Schlacht um Stalingrad die Geschichte kippte, später beheimatet in Thüringen, Doktoringenieur, Fachschullehrer in Jena, lebt seit 1982 in Greiz. In der Auswahl 74 vermeldete ihn B. Jentzsch zum erstenmal. Tief aus der Geschichte ragende Landschaft und christliche Motive fielen auf. Seit seinem ersten Gedichtband Fahrtmorgen im Dezember (1977) wußte man endgültig: Da kam einer den langlangen Weg frühster Geschichtsschreibung einher: Ur, Babel, Gomorrha, die Propheten Jeremia und Daniel, Johannes der Täufer, der Kreuzträger Simon, die Jünger von Emmaus. Da kannte einer die uralten Mythen und berief sich auf sie. Da kannte einer aber auch Trakl, Arendt und die Sachs und Bobrowski vor allem. Er kannte Rimbaud, die Achmatowa und die Zwetajewa. Und er war Techniker, Ingenieur neben dem musischen und philosophischen das wissenschaftlich-techniche Element. Er wußte um die Gefahren einer ungebremsten Zivilisation und um die Möglichkeit einer Erdendzeit. Das alles machte Grüning zu einem Sonderfall, der aus der Phalanx der Schreiber der siebziger Jahre herausfiel. Zwar war ihm die Thüringer Landschaft besonders nah, aber in ihr exstierte auch ein Parzifal. In seinen Herbstgedichten funkelten Sentenzen auf: Am Durchlittenen altert der Mensch, Unser Volk, das keine Heimat hat, und Zeiten und Begebenheiten rückten zusammen wie ferne Laute , im Bogentor der Muschel:

Wenn König Etzel die Halle verläßt,
lobpreisen wir Folter und Rad:
Frau Kriemhild gibt ihren Gästen ein Fest
zwei Jahre nach Stalingrad.

Die Gäste kommen über den Rhein:
Herr Gunter, es gibt kein Zurück!
In Schädelbechern kredenzt man Wein
aus Dachau und Ravensbrück
1

Zwischendurch immer wieder Bannung des Faschismussyndroms, wie es durch die Historie geistert. Zuweilen die Sprache sehr hoch angebunden im Rationalen. So zog er durch Zeiten und Räume. Und manchmal hoben die Aussagen ab in abstrakte Gefilde

Wir, Enkel von Babylon
und Söhne von Tyros…

Manche Gerechtigkeit
herrscht unter Lebenden.
Aber die Lebenden
zeugen von einem Recht
.2

Recht, Gerechtigkeit. Wahrheit. Weisheit, Glaube, Zuversicht, Hoffnung, Glück, Frieden, Fruchtbarkeit. Traum, Gott, Gnade, Demut, Gier, Geiz, Grauen, Haß, Qual, Zorn, Gleichgültigkeit, Unbarmherzigkeit, Tod. Da liebte einer die Abstrakta und Absoluta, und manchmal umstellte er sie mit einem Text, und der war dann kaum noch zu fassen. Der Griff nach allzu großen Dimensionen, der Schritt in Siebenmeilenstiefeln, der Verzicht auf Konkret-Sinnliches – eben die Schwächen, die anfangs noch auf einen Dichter lauern. Dann wieder die Flucht in die verrätselte Metaphorik. Doch wußte man: Er sagte Nebukadnezar und meinte die Hitler und Stalin aller Zeiten und in jeder Größenordnung innerhalb der Machtpyramiden

1. Wie ein Vieh
aawerde ich abfressen
aameine sieben Jahre im Finstern
2. im großen Babel
aadas sich vollgesoffen
aamit seinen Gewaltigen.
3. Mir wird wachsen das Jahr wie ein Fell,
aawie Vogelklauen die Hände.
4. Ich werde willig sein,
aaein Ochse im Pflugjoch,
aaund werde
aatragen das volle Mal seiner Erde.
5. Wie ein Vieh
aawerde ich abfrieren meine Winter im Dunkeln
6. und meine Sommer
aaausschlüpfen lassen im Glutsand.
7. Das ist die Last,
aadie geredet hat über mich das Gesetz
.3

Oft war in seinen Texten von Mauern die Rede, die zu Staub verfielen, oder Schutt nur blieb. Dann wieder der Zweifel:

Es stürzen die Mauern nicht,
und doch geht die Erde vorüber.

Eine Sprache, die sich ostentativ gegen das Rotwelsch der Parteiphraseologie aufbaute und auf Begriffe aufmerksam machte, die in Schulungsbriefen nie vorkamen und selbst in der Literatur oft ausgespart blieben. Der Schriftstellerverband tat sich auch schwer mit der Aufnahme dieses Sonderlings in seine Reihen Es gab immer wieder geheime Ordres, ihn draußen zu lassen. Eine dicke Akte belegt inzwischen die gegen ihn eingeleiteten operativen Maßnahmen in den Weimarer Beiträgen 8/83 wurde er als problematisch eingestuft wegen seiner äußersten Ablehnung; und damit waren nicht etwa seine Formbesonderheiten gemeint, die daktylisch-anapäsuschen Sprachtakte; oft im Gebetsgestus und in eigenartiger Musikalität verfaßt, sondern eindeutig seine Gegenposition, die Antiutopien, Mutationsphantasien und Endzeitvisionen, das Bewußtsein um eine gefallene Schöpfung

Es wird kalt auf Erden, mein Täubchen
Der Wind jagt, ein Nachthund,
um unser Leben mit jappendem Maul…
ehe antritt
sein bißchen Heimfahrt der Mensch…

Da braucht es
eines Platzes zum Schlafen und
eines Erdenflecks Grabstart im Schnee.

Es wird kalt auf Erden4

Oder der Menschheit ganzer Jammer Hinter Tannroda

Wieviel Gleichgültigkeit in der Welt ist,
wieviel
Unbarmherzigkeit, wieviel Blindheit!
5

Da fühlte sich einer unbehaust, setzte elegisch Widerhaken, und nirgends eine barmherzige Lösung. Ein unbequemer, warnender, hoffnungsloser Humanismus sprach sich da aus, weitab von DDR-landesüblicher Wahrung und Wertung, von Zweckoptimismus und Lebenslüge. Eine seiner letzten Nachrichten aus der DDR:

Ich bin so müd von der Distel
langmütigem Blühn
und vom Reifgarn des Dunkels
und von der Januarsonne
dunklem, sterbenden Rot.
Ich bin so müd…6

(…)

Edwin Kratschmer: Dichter · Diener · Dissidenten. Sündenfall der DDR-Lyrik, Universitätsverlag – Druckhaus Mayer GmbH Jena, 1995

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Christian Bergmann: Periphere Lexik in der Lyrik Uwe Grünings
Ostragehege, Heft 25, 2002

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Jan Brachmann: Stiller Hochmeister
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.1.2022

Volker Müller: Uwe Grüning feiert seinen 80. Geburtstag
Freie Presse, 15.1.2022

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG
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