Virgilio Giotti: Kleine Töne, meine Töne / Pice note, mie note

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Virgilio Giotti: Kleine Töne, meine Töne / Pice note, mie note

Giotti-Kleine Töne, meine Töne / Pice note, mie note

ALBUMBLÄTTER

IV

Wie eine rote Tschinelle
ging am makellosen Himmel
die Sonne unter
zwischen einem alten Boot und Kränen.

Groß und schön versank sie
hinter der Linie des Meers:
meine traurige Stadt
schaute ihr dabei zu.

Sie lag in Schutt und Asche,
totenstill. Geschwind gingen
die Leute auf der Uferstraße,
aaaaadie sich verdunkelte.

 

 

 

Über den Triestiner Dichter Virgilio Giotti

1
Wenn für die in der italienischen Literaturgeschichte so genannte „letteratura giuliana“ – ein Begriff, unter dem die in früheren Jahrhunderten in der Region „Venezia Giulia“ von Autoren aus Triest, Gorizia, Istrien, Dalmatien geschriebene Literatur zusammengefasst wird – kein Ort als literarisches Zentrum genannt werden kann, weder Capodistria noch Triest noch Gorizia, so ist die sogenannte „Letteratura triestina“ des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts deutlich vom „spiritus loci“ der Stadt Triest und ihres Hinterlandes geprägt.
Die Vertreter dieser Triestiner Literatur waren keineswegs, wie in früheren Epochen, Epigonen der Literaturen anderer Regionen Italiens, sondern vitale, eigenständige Erneuerer, deren Beitrag zur modernen italienischen Literatur und zur Weltliteratur in seiner Bedeutung längst erkannt worden ist. In den Werken von Italo Svevo, Umberto Saba, Scipio Slataper, Giani Stuparich, Biagio Marin – um nur einige Namen zu nennen, die inzwischen auch im deutschsprachigen Raum durch Übersetzungen bekannt geworden sind – findet, trotz Unterschieden in weltanschaulich inhaltlicher und literarisch stilistischer Hinsicht, das durch seine ethnische, kulturelle und politische Vielgestaltigkeit charakterisierte geistige Klima Triests seinen gültigen dichterischen Ausdruck.
Als Schlüsselfigur in dem auch durch ökonomische und politische Faktoren begünstigten Prozess der Entstehung einer Triestiner Literatur gilt der Kaufmann Ettore Schmitz, der als Autor unter dem Namen Italo Svevo berühmt geworden ist. Seine beiden ersten Romane Una vita (1892) und Senilità (1898) stehen beispielhaft am Anfang. Svevos Auseinandersetzung mit der Kultur des deutschsprachigen Raums, mit Schopenhauer, Nietzsche, Freud und anderen, die er im Original lesen konnte, war ein wesentlicher Impuls, der von seinen Zeitgenossen in Triest, von Saba, Slataper, Carlo Michelstaedter, Roberto Bazlen aufgenommen und in ihrer literarischen Produktion fruchtbar wurde.
Ein weiterer die Entstehung der Triestiner Literatur fördernder Faktor war die Beziehung vieler Triestiner Autoren vor dem ersten Weltkrieg zu der dem antipositivistischen Denken des Philosophen Benedetto Croce nahestehenden Gruppe junger Intellektueller in Florenz, die sich um den Literaten Giuseppe Prezzolini und die Zeitschrift La voce (1906–1914) scharte. Diese Zeitschrift war ein Orientierungspunkt für Autoren wie Slataper, die Brüder Stuparich, Enrico Elia, den Kafka-Übersetzer Alberto Spaini, aber auch in entschieden auf Distanz gehende Weise, für Michelstaedter, Marin, Saba und Virgilio Giotti.
Die Triestiner Autoren waren aber keine verspäteten Nachahmer. Sie waren, als Vermittler zwischen der Kultur Italiens und der Mitteleuropas, Begründer einer neuen Tradition, die wesentliche Themen der Literatur des 20. Jahrhunderts vorwegnahmen und exemplarisch behandelten.

2
Eine der interessantesten, aber auch liebenswertesten Gestalten der Triestiner Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Virgilio Giotti. Er wurde als Virgilio Schönbeck 1885 in Triest geboren. Der Vater war österreichischer Herkunft, die Mutter eine Italienerin aus dem Veneto. Ihren Namen, Ghiotto, verwendete der Dichter als Pseudonym. Nach dem Besuch der Klasse für Dekorative Malerei an der Triester „Scuola Industriale“ übersiedelte Giotti 1907 nach Florenz, um dem österreichischen Militärdienst zu entgehen. Er lernte dort im Kreis um die Zeitschrift La voce namhafte italienische Autoren kennen: Ardengo Soffici, Dino Campana, Federico Tozzi… Aber er fühlte sich, wie auch sein Freund Saba, als „di un’ altra specie“ – als einer von anderer Art als die „vociani“. In Florenz veröffentlichte Giotti seinen ersten Gedichtband: Piccolo canzoniere in dialetto triestino. Dort traf er auch eine Russin aus Moskau, die er später heiratete und mit der er drei Kinder hatte. 1919 kehrte er mit seiner Familie nach Triest zurück. 1920 veröffentlichte Saba, in einer Reihe seiner Libreria antica e moderna, Giottis nicht in „triestino“ geschriebenen Gedichtband mit dem für sein Gesamtwerk emblematischen Titel Il mio cuore e la mia casa.
Giotti – hager, grauhaarig, mit Pfeife und einer Baskenmütze aus Wolle – war im damals noch regen Literaturleben Triests eine populäre Figur. Die intellektuelle Elite Triests – der alte Svevo, der Maler Bolàffio, der junge Giorgio Voghera, Bobi Bazlen – traf sich in Sabas Antiquariat in der via San Nicolò oder im legendären Café Garibaldi. Für seine Freunde Marin, Stuparich, Pier Antonio Quarantotti Gambini war Giotti eine „einzigartige, unverwechselbare Persönlichkeit des alten und neuen Triest.“ Er verdiente seinen Lebensunterhalt als Handlungsreisender für Spielzeug, als Zeitungs- und Buchhändler, später als Spitalsbediensteter. Er war sein Leben lang arm. Er kannte das Dasein der „kleinen“ Leute, das er, wie Saba, mit bemerkenswert engagierter Mitmenschlichkeit zum Gegenstand seines Dichtens machte. Giottis Alter war umdüstert vom Tod seiner beiden Söhne an der russischen Front und der davon herrührenden Geisteskrankheit seiner Ehefrau.
In einem Essay über Giotti schrieb Pier Paolo Pasolini, dass er nirgendwo in der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts eine „Dimension des Schmerzes“ kenne, die der vergleichbar wäre, die aus den Appunti inutili des alten Giotti und aus so vielen seiner Gedichte spreche. In einer dieser „Unnötigen Notizen“ ( 6.8.1947) schrieb Giotti:

Wie schön wäre ein schönes Haus, ein Garten, sauber, ganz still, frisch; und dort denken und schreiben. Etwas, das ich nie gehabt habe und nie haben werde. Und wenn ich es heute plötzlich hätte, wäre mein Unglück um kein Gran geringer.

Giotti starb im September 1957, vier Wochen nach dem jähen Tod seines Freundes Umberto Saba. Erst 1986 erschien bei Edizioni Lint Trieste die kritische Gesamtausgabe seiner Werke: Opere. Colori – Altre poesie – Prose.

3
Giotti, dessen dichterisches Werk in Italien bei zeitgenössischen Dichtern, z.B. Montale, Saba u.a., und bei der Literaturkritik (Pasolini, Maria Fubini, Bruno Maier u.a.) ein bemerkenswertes und positives Echo gefunden hat, ist außerhalb Italiens unbekannt geblieben. Das hat seine Ursache vor allem darin, dass Giotti einen Großteil seines Werks im Dialekt geschrieben hat.
Von einem psychosoziologischen Gesichtspunkt her ist Dialekt seit jeher eine Sprache der Identität und des Widerstands gewesen, des Protests gegen eine abgenützte, erstarrte Hoch- und Literatursprache, gegen politische Unterdrückung – im Italien des 19. und 20. Jahrhunderts vor allem gegen die Habsburger Monarchie und gegen den Faschismus –, gegen soziale Missstände, gegen die Massen- und Konsumgesellschaft…
Wie Biagio Marin, der den Gradeser Dialekt verwendete, brach Giotti aber mit seinen in „triestino“ geschriebenen Texten mit der Tradition der damaligen italienischen Dialektdichtung. Er wagte den Schritt vom „Komischen“ der herkömmlichen Dialektdichtung zum „Sublimen“, das üblicherweise der hochsprachlichen Literatur vorbehalten ist. Auf Grundlage des Triestiner Dialekts erarbeitete sich Giotti eine höchst persönliche, raffinierte und rational gefilterte Sprache, der nichts mehr volkstümlich Mundartliches anhaftet. Wie Marin, für dessen Werk unter anderen Goethe, Heine, Rilke Vorbilder waren, orientierte sich Giotti an Autoren und Strömungen der hochsprachlichen Literatur, an Giovanni Pascoli, an den „vociani“, am sogenannten „crepuscolarismo“, dessen Hauptvertreter Gozzano das alltägliche Leben zum Gegenstand der Dichtung machte. Der genial nachempfundene Triester Dialekt wird für Giotti zu einem „außergewöhnlich poetischen Ausdrucksmittel (…): archaisch und zugleich höchst modern, makelloses expressives Vehikel, exemplarisches Modell des Widerstands, den die individuelle Erfahrung – zu allgemeiner lyrischer Gültigkeit erhoben – gegen die Atrophie der sozialen Entfremdung und ihre fälschliche Verallgemeinerung leistet“ (Claudia Magris ). Für den Lyriker Giotti wurde der Dialekt derart zur „Sprache der Poesie“ schlechthin. Pasolini berichtet, dass Giotti, der auch innerhalb der Familie konsequent die italienische „koiné“ benützte, einmal von einem Freund gefragt wurde, warum er nicht seinen Dialekt spreche – worauf der Dichter erwidert habe:

Aber wieso denn, wollen Sie, dass ich für die Alltagsbeziehungen die Sprache der Poesie verwende?

In Giottis Gedichten lebt Triest: Triest als „fantasma poetico“ (Pasolini) mit seinen Menschen, seinem Volksleben, den Vororten, dem Hafen, den Gassen, den kleinen Bars und Läden, mit seinem „mar“ (Meer) und seinem „ziel“ (Himmel), seinen Farben und Schatten…
Giotti hatte nur wenige Themen in seinen oft erzählenden Gedichten: zumeist Situationen aus dem alltäglichen Leben der kleinen Leute, die aber als Epiphanien erlebt werden, als flüchtige Momente eines aus nichts gemachten Glücks, einer jähen Verzauberung, und liebevolle, gleichsam aquarellierte Schilderungen alltäglicher Szenerien, die Zeugnis von Giottis Nähe zur Malerei ablegen, der „in Dichtung die Malerei und ganz besonders die impressionistische Malerei nachahmen wollte“ (Pasolini).
Giottis Werk gliedert sich in 4 Abschnitte, die den Sammlungen seiner Gedichte entsprechen: Piccolo canzoniere in dialetto triestino (1914), Caprizzi, canzonete e storie (1928), Colori (1941/ 1943), Sera (1946) und Versi (1953). Von Sammlung zu Sammlung verlieren die für Giotti charakteristischen Farben allmählich ihre Leuchtkraft, verblassen, verlöschen… Und es bleibt in den letzten Texten nichts als der schlichte, verhaltene Grundton des Leids, die gelassene Verzweiflung des alten Mannes.

Hans Raimund, Vorwort

Anmerkung des Übersetzers

Bei den vorliegenden erstmaligen Übertragungen der Gedichte Virgilio Giottis ins Deutsche wurde wohlweislich darauf verzichtet, die in „triestino“ geschriebenen Texte in einen äquivalenten Dialekt des deutschsprachigen Raums, etwa in den Wiener Dialekt, zu „verpflanzen“, sind doch die jeweiligen Dialekte, als Identitätsträger und Ausdruck einer spezifischen Mentalität, ihrem Wesen nach allzu verschieden voneinander. Die Übertragungen sind nicht mehr als ein erster Versuch, in einem behutsam umgangssprachlichen Deutsch etwas vom Inhalt und – allerdings leider nur wenig – vom Ton und der hohen, vor allem im Syntaktischen raffinierten Verskunst der Originaltexte zu vermitteln.

 

 

Virgilio Giotti

ist eine der interessantesten Gestalten der Triestiner Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein dichterisches Werk hat in Italien bei zeitgenössischen Dichtern und bei der Literaturkritik ein bemerkenswertes und positives Echo gefunden, außerhalb Italiens ist es unbekannt geblieben. Das hat seine Ursache vor allem darin, dass Giotti einen Großteil seines Werks im Dialekt geschrieben hat.
Giotti wagte mit seinen in triestino geschriebenen Texten den Schritt vom „Komischen“ der herkömmlichen Dialektdichtung zum „Sublimen“, das üblicherweise der hochsprachlichen Literatur vorbehalten ist. Er erarbeitete sich eine höchst persönliche, raffinierte und rational gefilterte Sprache, der nichts mehr volkstümlich Mundartliches anhaftet. In Giottis Gedichten lebt Triest: Triest als fantasma poetico (Pasolini) mit seinen Menschen, seinem Volksleben, den Vororten, dem Hafen, den Gassen, den kleinen Bars und Läden, mit seinem mar (Meer) und seinem ziel (Himmel), seinen Farben und Schatten…
Giottis Werk gliedert sich in vier Abschnitte, die den Sammlungen seiner Gedichte entsprechen. Von Sammlung zu Sammlung verlieren die für Giotti charakteristischen Farben allmählich ihre Leuchtkraft, verblassen, verlöschen… Und es bleibt in den letzten Texten nichts als der schlichte, verhaltene Grundton des Leids, die gelassene Verzweiflung des alten Mannes. Das Buch enthält außerdem seine Tagebuchaufzeichnungen Appunti inutili (Unnötige Notizen), die 1959 posthum erschienen sind.

Drava Verlag, Klappentext, 2013

 

Virgilio Giotti auf dem Psychosemitischem Buchblog von Florian Hunger

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Archiv
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Hans Raimund im Interview mit Gerhard Winkler für die Literatur-Edition-Niederösterreich am 13.4.1999 in Hochstraß.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Virgilio Giotti – LiberPress-Gedächtnispreise 2014.

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