Volker Hage: Zu Wolf Wondratscheks Gedicht „In den Autos“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolf Wondratscheks Gedicht „In den Autos“ aus Wolf Wondratschek: Chuck’s Zimmer. 

 

 

 

 

WOLF WONDRATSCHEK

In den Autos

Wir waren ruhig,
hockten in den alten Autos,
drehten am Radio
und suchten die Straße
nach Süden.

Einige schrieben uns Postkarten aus der Einsamkeit,
um uns zu endgültigen Entschlüssen aufzufordern.

Einige saßen auf dem Berg,
um die Sonne auch nachts zu sehen.

Einige verliebten sich,
wo doch feststeht, daß ein Leben
keine Privatsache darstellt.

Einige träumten von einem Erwachen,
das radikaler sein sollte als jede Revolution.

Einige saßen da wie tote Filmstars
und warteten auf den richtigen Augenblick,
um zu leben.

Einige starben,
ohne für ihre Sache gestorben zu sein.

Wir waren ruhig,
hockten in den alten Autos,
drehten am Radio
und suchten die Straße nach Süden.

 

Über Wondratscheks „In den Autos“

Wie eine mustergültige Interpretation auszusehen hat, weiß ich heute sowenig wie vor fünfzehn Jahren, als ich in der Schule bei den Aufsätzen immer die Analyse eines Gedichts den anderen Themen vorzog. Auch mein Deutschlehrer konnte es uns nicht erklären. Immerhin wählte er keine Standardlyrik aus, wie sie fertig ,ausgelegt‘ in den Lesebüchern vorkommt, sondern neuere Gedichte, die er selbst nicht immer vollständig zu deuten wußte. Das gab er auch zu und machte damit Mut. Ich kapierte, daß es nicht darauf ankommt, alles zu verstehen, sondern daß es mitunter genügt, genau zu notieren, was an Absonderlichem auffällt. Nicht schamvoll zu verschweigen, was man nicht deuten kann, sondern zu beschreiben, warum man es nicht deuten kann, kurz: Fragen zu stellen, nicht krampfhaft mit Antworten aufzutrumpfen. Allerdings gab es in der Lyrik von damals auch handfeste Entdeckungen zu machen, die einer Interpretation als unumstößliche Befunde Glanz verliehen: Wer z.B. entdeckt hatte, daß in Enzensbergers Gedicht „Bildzeitung“ (Dreiunddreißig Gedichte, S. 6) der irritierende Effekt der Verse „Markenstecher Uhrenkleber“ und „Manitypistin Stenoküro“ durch Vertauschung von Wortteilen zustande kommt, der konnte schon ganz zufrieden sein.
Jede Zeit hat ihre Gedichte. Das ist nicht nur eine Frage der Moden. Es ist auch eine Frage des Stils im weitesten Sinne: des Lebensstils. Wenn Menschen anders miteinander umgehen, verändern sich auch ihre Sprechweisen. Wörter können ungebräuchlich werden („Liebespaar“, „Verlobung“), weil die hinter ihnen stehenden Haltungen an Selbstverständlichkeit einbüßen, neue können auftauchen („Beziehung“, „offene Partnerschaft“), Begriffe, die man vor Jahren nicht oder nicht im heutigen Sinne verwendet hätte. Natürlich folgt die Literatur nicht blind dem Alltagsgespräch, läuft nicht den Themen des Tages hinterher: Sie hat durchaus ihre eigenen Bewegungen, sucht ihre Sujets mal mehr, mal weniger in der Aktualität. Die deutsche Lyrik der siebziger Jahre wendete sich zum überwiegenden Teil von der metaphernreichen, oftmals dunklen und unzugänglichen Lyrik der sechziger Jahre ab und öffnete sich dem Alltag – formal wie thematisch: Der Ton entspricht weitgehend der Umgangssprache (experimentelle Schreibweisen wie Kleinschreibung und Verzicht auf Interpunktion treten zurück), das Erlebte und Erfahrene findet unverblümt Eingang in die Verse. Mit der Hinwendung auf durchaus private Dinge geht zugleich eine Abgrenzung gegen die politische Lyrik einher, die seit Mitte der sechziger Jahre den Studentenprotest vorweggenommen und begleitet hat. Die Gedichte der „Neuen Subjektivität“ markieren eine gesellschaftspolitische Zäsur: Sie beschreiben den Rückzug einer sich aufrührerisch gebärdenden Generation und deren Rückbesinnung auf Probleme des Individuums.
„In den Autos“ von Wolf Wondratschek: ein Gedicht, das für sich selbst spricht? Sichten wir zunächst, was offensichtlich ist. Die erste und letzte der acht unregelmäßigen Strophen sind identisch und umfassen die mittleren sechs wie ein Rahmen (1–5 und 20–24). Die Vergangenheitsform legt nahe, daß es sich um einen Rückblick handelt. Es gibt ein „Wir“ in dem Gedicht und mehrere „Einige“. Schon beginnen die Fragen: Sind das verschiedene Gruppen von Menschen? Handelt es sich um Teilgruppen? Wer ist gemeint? Die Ausgangssituation, sie zumindest, scheint eindeutig zu sein: Ein paar Leute sitzen in Autos und sind auf dem Weg in den Süden. Aber stimmt das so? Sie sitzen ja nicht einfach in den Autos, sondern sie „hockten“ (2), und sie sind anscheinend noch gar nicht nach Süden unterwegs, sondern suchen „die Straße / nach Süden“ (4f.) noch. Die Straße? Führen denn nicht viele Wege nach Rom? Hat man die Straße nicht gefunden und ist vereinzelt aufgebrochen – einige hierhin, einige dahin? Nicht mehr der kollektive Marsch, sondern der Aufbruch in eigener Verantwortung?
Doch ich greife vor. „Wir waren ruhig“, heißt der erste Satz. Ruhig – vor der großen Fahrt? Wäre nicht „unruhig“ eher plausibel? Oder nur „ruhig“, um zu lauschen, was die Suche auf der Radioskala ergibt? Schaut man genau hin, zeigt sich, wie listig der Autor seine Aufzählung angeordnet hat. Betrachtet man die letzten drei Verse (3–5) isoliert, so „drehten“ die Beteiligten am Radio und „suchten“ – was? einen Sender? eine bestimmte Musik? Nein: den Weg nach Süden. Ist dieser Weg also nur eine Illusion, ein Traum? Es sieht so aus – auch wenn der Befund vorerst nicht eindeutig ist; zumindest wird diese Lesart von Wondratschek ermöglicht.. Das Radioprogramm steht für die Sehnsucht nach Weite, nach Ferne, nach Zukunft. Den Beteiligten werden Verben des Stillstands zugeordnet („waren ruhig“ und „hockten“), die Bewegung ist nur eine scheinbare: Drehen am Radioknopf, Suchen – möglicherweise nicht reale Ziele, sondern solche im Reich der Sehnsüchte.
Eine gewagte Interpretation? Sehen wir weiter. Auf die Eingangsstrophe kommen wir am Ende ohnehin zurück. Die folgende Strophe ist die erste von insgesamt sechs, die in betonter Gleichförmigkeit mit demselben Wort anheben: „Einige“ (vgl. 6, 8, 10, 13, 15, 18). Die Literaturwissenschaft nennt das eine „Anapher“, eine Stilfigur, die auch in der Redekunst gern verwendet wird. „Einige schrieben uns Postkarten aus der Einsamkeit“, heißt es z.B. (6). Ein auffälliges Paradoxon: nicht die scheinbar in den Autos Reisenden versenden Grüße, sondern sie (oder nur ein Rest von ihnen?) erhalten Nachrichten. Dies spricht für das Verharren der „Wir“-Gruppe: Nur wenige sind aufgebrochen. Oder ergibt das sechsmalige „Einige“ am Ende das ursprüngliche „Wir“?
Es liegt nun nahe, für jede der sechs Kleingruppen nach Parallelen in der Wirklichkeit zu suchen. Mir ist es beim unbefangenen Lesen des Gedichts immer so ergangen, daß ich zu den einzelnen Strophen Assoziationen hatte und damit zufrieden war. Nun aber, wo ich Farbe bekennen muß, scheint mir das alles gar nicht so eindeutig zu sein. Gewiß, der Zerfall der Studentenbewegung könnte hier gemeint sein. Wondratschek, Jahrgang 1943, stand selbst eine Zeitlang dem ehemaligen SDS nah. Und sind nicht die Auswege und Abwege seiner Generation hier angedeutet: der Rückzug in die Innerlichkeit, die Suche nach Gott oder einem Ersatzheiligen, die Verirrung in den Terrorismus, der Marsch ins private Glück, der Sprung in den Narzißmus oder die Sucht nach Ruhm?
Doch, das alles ist wohl da. Aber wo genau? In welchem Vers? Wer sind die in der „Einsamkeit“ (6), wer die „auf dem Berg“ (8), wer sind die, die „starben, / ohne für ihre Sache gestorben zu sein“ (18f.)? Wondratscheks poetische Methode sorgt für einen Zustand der Unschärfe, des Ungefähren. Seine Figuren sind dem Leben nicht nachgebaut, sondern stehen in einem ironischen Zerrverhältnis zur Realität. Ja, fast ist ein wenig Sarkasmus zu spüren, wenn gerade die „aus der Einsamkeit“ Postkarten verschicken, um andere „zu endgültigen Entschlüssen aufzufordern“ (6f.). Wem das als Bild für den isolierten Zustand der ehemaligen RAF-Truppe und ihren Ruf um Unterstützung erscheint, der wird zumindest über den Weg der Nachrichtenvermittlung irritiert sein müssen.
Und so ist es auch bei anderen Strophen: Sie führen sonderbare Situationen vor und enthalten paradoxe Behauptungen. Warum sitzen einige auf dem Berg? Die Antwort:

um die Sonne auch nachts zu sehen. (9)

Der Kommentar zu jenen, die sich verlieben:

wo doch feststeht, daß ein Leben
keine p
rivatsache darstellt (11f.)

Das hat einen Hauch von Komik, und mir scheint, daß eine Qualität dieser Verse gerade in ihrer Verzerrung und Vagheit liegt. Nicht, weil Ungenauigkeit ein Zeichen guter Lyrik wäre, sondern weil hier ein Denken und Sprechen getroffen ist, vielleicht sogar parodiert wird, das es so und ähnlich gegeben hat (und gibt). Die Hilf- und Ratlosigkeit einer Generation wird in wenigen Zeilen sichtbar gemacht. Leben sei keine Privatsache, der Umgang miteinander müsse verändert, die Beziehungen der Geschlechter revolutioniert werden – aber einige verliebten sich einfach. Was nun?
Das Geheimnis des außergewöhnlichen Erfolges von Wondratscheks Lyrik (seine vier Gedichtbände sind in Zehntausenden von Exemplaren verbreitet) dürfte zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Gründe haben: Zum einen spricht dieser Autor für seine Generation, stellt sich selbst dar, offenbart sich als Betroffener. Zum anderen ist er bissig, sarkastisch, wegwerfend. Seine Poetik ist die des bitteren Nachgeschmacks. Er kann sich Pathos und Sentimentalitäten leisten, denn im Grunde ist er ein Spötter. Er ermöglicht Identifikationen durch Distanz. So sehr er dabei auch mit von der Partie ist – immer ist er zugleich ein wenig draußen, außerhalb des von ihm Beschworenen.
Man kann ein Gedicht isoliert von den anderen Texten des Autors betrachten und analysieren. Doch eigentlich ist das eine künstliche Versuchsanordnung: Zumeist liest man die Gedichte ja im Zusammenhang eines Lyrikbands. Und jeder Leser von Gedichten weiß, daß sich der Zauber mancher Zeile erst durch unterirdische Korrespondenz mit anderen Gedichten des Autors voll entfaltet: Einzelne Wörter oder ganze Wendungen kehren wieder, spielen in fremden Kontexten eine ähnliche oder abgewandelte Rolle. Gewiß: ein Gedicht soll für sich stehen und einstehen können, doch schadet es nicht, einen Blick über den Zaun zu werfen.
Die Motive des Scheiterns, der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit tauchen in Wondratscheks Versen – er nennt sie „Gedichte und Lieder“ – immer wieder auf: unbekümmert wie in den Texten der Popmusik. Und ganz ähnlich, scheint mir, wie man sich von solchen Musikstücken zum Träumen anregen lassen kann, gerade von aus dem Zusammenhang gerissenen Worten und Wörtern, ist auch diese Lyrik offen für die unmittelbare Aneignung: oft genügen Wendungen, einzelne Zeilen, um den Leser zu betören. „Und die Liebesgeschichten, das Leben, der Tod? / Geträumt, verfilmt, vergessen. / […] / zehn Jahre dauerte unsere Zukunft, die jeder nun / allein zu Ende leben wird“ – so heißt es in dem Gedicht „Todesspirale“ aus Wondratscheks drittem Band Männer und Frauen (1978). Das ist Nähe und Ferne zugleich: ein Abgesang auf die Hoffnungen der eigenen Jugend, in gekonnter Naivität zusammengeschüttelt mit ewigen Menschheitsthemen: Liebe, Leben, Tod.
„Was ist aus der Geschichte mit unserer Zukunft geworden?“ (Männer und Frauen, S. 20) – auch diese Frage kehrt wieder, ebenso wie die Motive des Reisens, des Träumens und des Kinos. Die Übergänge von Fiktion und Realität sind fließend. In einem Gedicht aus dem zweiten Lyrikband Das leise Lachen am Ohr eines andern (1976) finden sich die aufschlußreichen Zeilen:

Wir haben unsere Träume wahrgemacht
Wir haben uns im Kino nebenan ein Pferd geliehn
Und sind nach Süden geritten
(S. 62).

Hier – in einem Liebesgedicht – ist der „Süden“ erkennbar als Chiffre der Sehnsucht, der Wünsche. Schon im ersten Band Chuck’s Zimmer (1974) heißt es in ebensolchem Zusammenhang unter dem bezeichnenden Titel „Das alte sentimentale Gefühl“:

wir sollten in den Süden fahren (S. 45).

Die Erfahrung der Wirklichkeit ist durchsetzt mit Klischees aus Filmen und Liedern, den Mythen der Gegenwart. „Ich fuhr einen alten Chevy“,1 erfahren wir aus einem wahrscheinlich autobiographischen Gedicht von einer Amerika-Reise des Autors (Männer und Frauen, S. 62) – selbst die Wahl des Fahrzeugs hat noch einen Bezug zu diesen Mythen. Und schon erhält das Hocken „in den alten Autos“2 einen anderen Beigeschmack. Ein letztes Zitat, fast wie ein Motto – aus einem Gedicht, das im zweiten Band unmittelbar auf den Text „In den Autos“ folgt:

Man möchte leben können vom Atmen, den alten Filmen,
vom Rock ’n Roll
[footnote]Hervorhebungen von mir. – Volker Hage[/footnote] (Das leise Lachen, S. 11). 

Damit ist einiges abgesteckt, wenn wir nun am Ende unseres Gedichts noch einmal auf die Eingangszeilen stoßen: unverändert beschließen sie das Gedicht, wie eine elegische Klammer. Oder kann man es auch anders lesen? Durchaus. Peter Rühmkorf hat folgende Interpretation gegeben:

Was uns am Anfang des Gedichtes noch so vag und zag und unentschieden erschien, dieser Singsang vom Aufbrechen und vom planlos beiläufigen Herumprobieren (hocken – drehen – suchen), das klingt im zweiten Durchgang beinah wie ein kleiner Trutzgesang. Ohne daß der Autor auch nur ein einziges Wörtchen an seiner Introduktion geändert hätte, lesen sich die un- und fast unterbetonten Aussagesätze auf einmal wie erklärte Ausrufesätze mit einem dick unterstrichenen Wir zu Beginn und einer erwartungsvoll in die Zukunft hineingepünktelten Hoffnungslinie beim Ausklang. (Frankfurter Anthologie, S. 269)

Liest Rühmkorf da – bei aller Bewunderung vor seinen schönen Formulierungen – nicht etwas viel Hoffnung in Wondratscheks Verse hinein? Für mich steckt in der Wiederholung eher Resignation als Hoffnung, eher Wehmut als Erwartung. Auch der Titel bleibt ja ambivalent: „In den Autos“ – das schwebt zwischen Bewegung und Stillstand. Ja, hieße es „Südwärts“ oder „Auf der Reise“! Im übrigen: die letzte Strophe steht wie die erste in der Vergangenheit. Es ist ein Rückblick, kein Ausblick.
Oder spricht der Sprecher im Gedicht aus einer fiktiven Zukunft zu uns? Beschreibt er unsere Gegenwart von einem imaginierten Außenstandpunkt? Dann wäre es nicht mehr nur ein Generationsgedicht, sondern vielleicht sogar eines über unser Zeitalter: „In den Autos“ – das ist ja tatsächlich fast schon unser Leben. „Ruhig“ sind wir, weil zufrieden, scheinbar zufrieden. Der Griff zum Autoradio verdeckt unsere Nervosität. Das Auto verschafft uns Mobilität – potentiell: jederzeit können wir die Straße nach Süden suchen. Doch wir hocken nur in unseren Autos: auf der Fahrt zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Kino. So muß man dieses Gedicht nicht verstehen, aber auch diese Gedanken gehören zu ihm, sind von diesen Versen ausgelöst, wenn sie auch ihren Umrissen etwas grob folgen. Das aber gehört ja zum Reiz von Lyrik, von Literatur überhaupt: daß sie immer wieder zu uns selber führt. 

3

Volker Hage, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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