Lothar Schöne: Zu Wolf Wondratscheks Gedicht „Adam Jr.“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolf Wondratscheks Gedicht „Adam Jr.“ aus Wolf Wondratschek: Chuck’s Zimmer. –

 

 

 

 

WOLF WONDRATSCHEK

Adam Jr.

Adam las die Bibel
Eva kaute Obst
Gott schlief die meiste Zeit
Es war so
Jeder kannte jeden
Die Schlange war der Chef im Garten Eden

Das Paradies war offensichtlich reine Nervensache
Ich weiß jetzt auch nicht so genau wie’s weitergehen soll

Gott träumte schlecht
Er sah die Schlange die es mit der Mutter trieb
Aus war die schöne Theorie
Vorbei der Traum
Die Affen paarten sich mit dem was übrigblieb

Das Paradies war offensichtlich reine Nervensache
Ich weiß jetzt auch nicht so genau wie’s weitergehen soll

Gott wachte auf
Ich kam im Ruhrgebiet zur Welt
Die Sache hat sich seitdem zugespitzt
Sonntags sitzt Gott im Irrenhaus
Teilt Würfelzucker aus
Und glaubt er sei der Held

Das Paradies war offensichtlich reine Nervensache
Ich weiß jetzt auch nicht so genau wie’s weitergehen soll

 

Die entgleiste Schöpfung

Mit Protest und Aufruhr, Subkultur und Widerstand, all den Stempeln, die man dem Autor Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre aufdrückte, hat dieses Gedicht nichts zu tun. Die erste Strophe teilt lediglich einen Zustand mit – auf lakonische und, wie die erste Zeile zeigt, auch auf ironische Weise. Der Ton der Langeweile ist dabei nicht zu überhören, einer mißgestimmten, mißmutigen Langeweile (Eva aß nicht, sie „kaute“ Obst, und jede Emphase durch ein hinweisendes „So war es“ wird vermieden, statt dessen die träge, fast bedauernde Inversion „Es war so“). Zugleich wird ein Begriff, eine Instanz eingeführt, von der in der Literatur der siebziger Jahre nicht allzu häufig die Rede ist: Gott. Im ganzen Gedicht taucht der Name viermal auf, in Zusammenhängen, die wenig schmeichelhaft sind. Denn dieser Gott schläft, träumt schlecht, wacht schließlich auf und sitzt zum Schluß im Irrenhaus. Ein äußerst passives Verhalten also, auch wenn er offenbar das Irrenhaus Welt alle sieben Tage aufsucht, um Zucker zu verteilen. Und doch ist er der innere Bezugspunkt aller drei Strophen. Um ihn geht es, er ist stets das Subjekt, der Ausgangspunkt aller Aussagen, und selbst die beiden Refrainzeilen beziehen sich auf das unklare, ungewisse Verhalten eines das Paradies vernachlässigenden Gottes.
Wolf Wondratschek arbeitet mit Sätzen, die wie Blitzlichter aufleuchten, nur für einen Augenblick, schon geht ein anderes an. Dabei schneidet er die Zeilen häufig wie Szenen im Film hintereinander („Gott wachte auf / Ich kam im Ruhrgebiet zur Welt“). Er argumentiert nicht, er entwickelt keine Beweiskette, er verknüpft seine einfachen Aussagen nicht zu einem logischen Zusammenhang – das ist Aufgabe des Lesers.
Und nicht trotz, sondern gerade wegen dieser scheinbar simplen Machart, dieser unartifiziellen Sprache, die ungenau sein will und umgangssprachliche Wendungen („reine Nervensache“, „es mit der Mutter trieb“) geradezu aufsaugt, trifft das Gedicht das Lebensgefühl vieler, die damals glaubten, die Welt auf ein besseres Gleis schieben zu können. Resignation, Ratlosigkeit, ja Hoffnungslosigkeit sind die begrifflichen Entsprechungen für die zweite Zeile des Refrains.
Aber diese pessimistischen Vokabeln sind nicht etwa durch ein privates Unglück hervorgerufen; das Gedicht teilt nichts Geringeres mit als eine ungeheure Fehlentwicklung der gesamten Menschheit. Schon im Paradies ist alles schiefgegangen, aus den Fugen geraten, schon dort war die Schlange der „Chef“. Und der Schuldige ist niemand anderes als jene Instanz namens Gott. Sie hat versagt, weil sie die Zeit nach der Schöpfung verschlafen, weil sie nicht auf die Schöpfung aufgepaßt hat.
Aber wie lautet eigentlich der Vorwurf? Schläft man aus Interesselosigkeit oder aus Zutrauen in das eigene Werk? Wer hat eigentlich wen enttäuscht und wessen Zutrauen nicht gerechtfertigt? „Die Affen paarten sich mit dem was übrigblieb“: Hier begann die Tragödie. Und sie endet dort, wo diese Instanz Würfelzucker austeilt: eine mitleidige, besänftigende und auf jeden Fall unzureichende Wiedergutmachung.
Das Gedicht entpuppt sich also als eine große Anklage – des Lebens schlechthin und von Anfang an. Und nur der Ton, die laxe und leichtfüßige Diktion, scheint zu verhindern, daß es sich zu einer Litanei auswächst, obwohl das Merkmal einer Litanei im ursprünglichen Wortsinn des Wechselgebets zwischen Geistlichen und Gemeinde vorhanden ist: der Refrain lädt zum Mitsprechen oder Mitsingen geradezu ein. Auf jeden Fall aber macht das Gedicht seinen zwar nicht neuen, aber doch gewaltigen Inhalt durch seine Form gewissermaßen zugänglich, man könnte auch sagen, konsumierbar.
Und wo bleibt das lyrische Ich? Es erwähnt sich, außer im Refrain, nur kurz:

Ich kam im Ruhrgebiet zur Welt
Die Sache hat sich seitdem zugespitzt.

Seit dieses Ich zur Welt kam, einer relativ kurzen Zeitspanne gemessen an der Zeit, die das Gedicht durcheilt, hat sich die Situation also verschlimmert. Das macht, zumindest für den Autor, sein Gedicht so dringlich. Aber ist es eigentlich weniger dringlich für den Leser? Und ist es auch nur einen Deut weniger dringlich geworden, wenn wir es heute lesen?

Lothar Schöneaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986

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