Yordanka Beleva: Der verpasste Moment

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Yordanka Beleva: Der verpasste Moment

Beleva/Bergmann-Der verpasste Moment

ABSCHIED AM TELEFON

jeden moment spuckt das meer den überflüssigen
aaaaafisch aus
zum gleichweit entfernten tod der ufer
bevor die fliegen die steilhänge der losen rückgrate
aaaaaerklettern
wird sich jemand über die restkalorien freuen

ein sommelier wird in den sich trübenden schuppen
eine weinkarte erkennen

jetzt aber wollen wir seine zeit nicht verschwenden

 

 

 

 

Nachwort

Der verpasste Moment ist unwiederbringlich verloren, nicht aber die Erinnerung daran. Yordanka Belevas Lyrik bringt uns die versäumten Chancen als gedankliche Möglichkeitsräume zurück. Sie füllt sie mit exemplarischen Geschichten und Gefühlen. Dem verpassten Moment entspricht das Dazwischen. Und so begegnen in den Gedichten zahlreiche Zwischenräume: konkrete wie der zwischen Tür und Angel, emotionale wie die Distanz zwischen Liebenden, abstrakte wie die Leerstellen zwischen den Buchstaben („Porta Lingua“).
Aus den Lücken entwickelt die Dichterin ihre lyrischen Sujets, die sich aus dem Fehlen oder der Umstellung eines einzigen Buchstabens ergeben können. Der Tod – der vielleicht einzige Moment, den wir Menschen nicht verpassen können – lauert dann in einer scheinbar harmlosen grammatikalischen Kategorie: dem Aorist, einer bulgarischen Vergangenheitsform, für die es im Deutschen keine Entsprechung gibt. „aorta wird aorist“, wie die wörtliche Übertragung dieses Gedichts „Vom Ende als Sprachübung“ lauten würde. Zwischen pulsierendem Leben und absoluter Abgeschlossenheit liegen nur wenige vertauschte Lettern. Für die Übersetzung ist das Spiel mit den Buchstaben eine Herausforderung, der wir – in Absprache mit der Autorin – so frei begegnen, wie diese selbst ihre Texte gestaltet. Und so wird aus dem „aorta-aorist“, der den meisten deutschen Leser:innen nichts sagen wird, ein „interpunktierender puls“.
Oder aber die Autorin leitet ihre Geschichten aus einer wörtlich verstandenen Metapher ab, folgt einer „mäandernden Etymologie“, wie die bulgarische Literaturkritikerin Marija Kalinova formuliert. Im Widmungsgedicht an den geliebten Großvater („Befjo D. Kirov“) ist dies die Farbe „weiß“ („bjalo“), die in ihrer Helligkeit für dessen lichtes inneres und äußeres Wesen steht. Aber auch für den Krebs, der die Lunge befallen hat, die im Bulgarischen „weiße Leber“ („bjal drob“) heißt. Und die auch im Familiennamen der Autorin – Beleva – noch anklingt. Eine genauso spannungsgeladene Klangverwandtschaft besteht zwischen „bjalo“ und „belja“. Letzteres kann sowohl „Unglück“ als auch „Kinderstreich“ bedeuten, oder das Schälen eines Stücks Obsts, im Gedicht „Vater und ich setzen Weinstöcke“ eine Orange. Um diese Klang- und Sinnspuren fühlbar zu machen, erhalten wir einige bulgarische Originalwörter und stellen diese den Gedichten in einer Art Mini-Alphabet voran.
Yordanka Beleva (*1977) ist studierte Philologin und promovierte Bibliothekswissenschaftlerin. Sie verfasst neben Gedichten auch Prosa und wurde für beide Gattungen in Bulgarien vielfach ausgezeichnet.
Das Bibliophile prägt ihre Poesie. Es dringt durch ins Leben und verwandelt Großvaters Weinkeller in einen Lesesaal, in dem mit großen Weinen der Verstorbenen gedacht wird. In Bulgarien ist es Sitte, beim Totengedenken ein wenig Wein auf den Boden zu vergießen, um die Verstorbenen zu ehren.
Die Nennung ihrer Namen ist hingegen tabu, weshalb sie auch als „Reisende“ bezeichnet werden, ein Trauerritual, das einem ganzen Gedicht seine Struktur verleiht („zwei stunden schon seit abflug“). Nach vierzig Tagen verliert die Seele die „terrestrischen Perspektiven“ endgültig. So wie in anderen Gedichten die Farben aus den Bildern und Malkästen verschwinden.
Belevas Lyrik ist bei allem Sprachbewusstsein nicht postmodern ironisch, sondern bedeutungsgeladen, emphatisch, mit einem Hauch Kulturkritik. Groß sind die Worte ihrer Dichter-Subjekte, wie der „Hunger nach ihnen“ („Des Dichters Krumen“), während der urbanen To-Go-Kultur der Sinn eher nach schnell konsumierbaren „Snacks“ steht („Hunger Games“). Die Dichtung hat sich von jeher an der Fähigkeit der Sprache begeistert, aus klanggleichem Material unterschiedliche, wenn nicht gar gegensätzliche Bedeutungen zu schöpfen. Bei Yordanka Beleva bleibt aber auch die Grammatik, das Strukturgesetz der Sprache, nicht unverschont. Oft werden korrekte Satzfügungen knapp verpasst. Und so darf in unseren Übertragungen auch „der Tod“ in das weibliche Geschlecht wechseln, das er in vielen slavischen Sprachen trägt, charakteristischerweise in einem Gedicht, das zum zweiten Mal den Titel „Vom Ende als Sprachübung“ trägt. Auch die Zeichensetzung, Klein- und Großschreibung werden frei gehandhabt.
Yordanka Belevas Lyrik zeigt bisweilen eine bewusst weibliche Perspektive auf die Dinge, hat aber keinen femininen Ton. Kein elementares Überfließen nicht zu bändigender poetischer Elementarkräfte, wie es weiblichem Schreiben bisweilen beigelegt wird, etwa demjenigen der grande dame der bulgarischen Moderne, Elisaveta Bagrjana (1893–1991). Im Gegenteil wird eine solche bei Beleva eher dem männlichen Pol des Liebeserlebens zugeordnet, im Langgedicht „Vasil“, einem wässrigen Wesen, das seine Liebe ziellos verströmt. Jordanka Belevas lakonische Lyrik selbst strömt selten, schließt die Lücken nicht, sondern hält sie offen. Die Liebe, die unter den knapp vierzig Gedichten einen großen Raum einnimmt, ist selbst ein verpasster Moment. Das Hissen der weißen Fahne ist schon fast der Augenblick des größten Erfolgs („Veteran in Trennungen“).
Die Held:innen ihrer Gedichte sind der reitende Kurier im Italo-Western, der im titelgebenden Gedicht die Liebesbotschaft nicht überbringen kann, nicht im Film, aber auch nicht vor dem Fernseher, wo sich das Paar anstatt um seine Beziehung um die Wäsche kümmert. Eine besonders gelungene Verschränkung von Fiktion und Alltag.
Oder das philippinische Zimmermädchen in dem italienischen Hotel, das nicht nur die Sprachen, sondern mit den Laken auch die Leichen wechselt. Es sind aber genauso die bulgarischen Großeltern, die aus einem diffusen Ort zwischen Leben und Tod mit ihrer Enkelin kommunizieren („oft träume ich“).
Die Autorin fügt dem patriarchalischen Weltmodell der bulgarischen Klassik – und seinem Nachleben im post/sozialistischen Dorf, dem ihr Dichterkollege Georgi Gospodinov bereits ein lyrisches Denkmal gesetzt hat – damit eine weibliche Perspektive aus der Sicht des kleinen Mädchens hinzu. Ein Verweis auch auf die Generationen von Kindern, die angesichts ihrer arbeitstätigen Eltern viel Zeit bei den Großeltern auf dem Dorf verbrachten. So wie es auch heute wieder der Fall ist, allerdings weil die Mütter und Väter als Zimmermädchen, Bauarbeiter oder Pfleger:innen in Ländern des westlichen Europas arbeiten. So finden sich in diesen Band mit Liebesgedichten und sprachphilosophischen Spekulationen subtil politische Momente und Beobachtungen eingeflochten. Es fehlen in dieser poetischen Familienaufstellung ausgerechnet die Mütter, „organische“ wie „anorganische“ („Kindheitstrophäen“). Nicht zufällig rahmen gerade die Gespräche mit „djado“ und „baba“, mit Großvater und Großmutter, die Großstadterzählungen, in denen unheimliche und undefinierbare Körper den Verkehr und die „Hüter der körperlichen Ordnung“ provozieren („noch Jahre später“).
Die Kästchen mit den verschwundenen und verblichenen Erfahrungen und Farben, welche die Autorin vor uns aufstellt („Kindheitstrophäen 2“), dürfen mit Lektüre gefüllt werden. Die Hamburger Künstlerin Gaby Bergmann praktiziert dies in ihren visuellen Übersetzungen, wobei sie die Spannung zwischen Lücke und Fülle akzentuiert. Ihre Arbeiten halten die Abstände zwischen den Buchstaben, den Gedichten und Gedächtnissen durchlässig. Auch ihre visuelle Poesie ist bibliophil und setzt den einzelnen Buchstaben in Szene, ja, die aus den Gedichten selbst verschwundenen Satzzeichen, die als abstraktes Morsealphabet den gesamten Gedichtband durchziehen. Alle Arbeiten sind für dieses Buch im Jahr 2021 entstanden (Größe 21 x 30 cm, Tinte und Siebdruck).

September 2021, Hamburg/Sofia, Nachwort

 

Der verpasste Moment

markiert eine Lücke: in unserem Leben und Lieben, in Zeit und Raum und nicht zuletzt in der Sprache. Yordanka Belevas lakonische Lyrik schließt die Lücken nicht, sondern füllt sie: mit Erinnerungen und Erzählungen. Die Held:innen dieses Dazwischen sind die bulgarischen Großeltern, aber auch der reitende Kurier im Italo-Western oder das philippinische Zimmermädchen in einem italienischen Hotel. Yordanka Beleva legt ihre Gedichte wie Wundverbände auf unsere Verlusterfahrungen, mal nostalgisch, mal bitter, mal hoffnungsfroh.

eta Verlag, Ankündigung

 

Beiträge zu diesem Buch:

Marion Poschmann: Yordanka Beleva: Der verpasste Moment
lyrik-empfehlungen.de, 2022

Marina Buettner: Yordanka Beleva: Der verpasste Moment eta Verlag
literaturleuchtet.wordpress.com, 10.12.2021

 

 

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