Alain Lance: Und wünschte kein Ende dem Umweg

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alain Lance: Und wünschte kein Ende dem Umweg

Lance/ Büttner-Und wünschte kein Ende dem Umweg

AN DIE FREUNDE IM OSTEN

Während sich unsere Grüße kreuzen
in den deutsch-französischen Postsäcken
(Die Kutscher des Bonaparte
eilten nicht minder mit Weile)
Während wir in der Distanz das Glas erheben
(Unter der Stolzen Sonne Rot: die euch eher
ernüchtert, wohingegen ihr wartet
bis morgen auf die nagenden Regen)
Während wir, während friedlicher Treffen
(Zivile Flugzeuge! Poröse Grenzen!)
Texte tauschen und Flüssigkeiten
Während während während
Kaderwelsch oder Warenknechte 

Übersetzung Volker Braun

 

 

 

Nachwort 

Der erste Text dieses Bandes heißt „Meine Großmutter“, der letzte versucht in immer neuen Anläufen die Bilanz eines Lebens, das sich – mit einem Augenblinzeln – schon als lang empfinden kann. Der erste Text scheint aus der Perspektive eines Kindes einfache Beobachtungen zu notieren, im letzten Text reimt sich hingegen ein mit vielen Wassern gewaschener Poet eine ganze Welt zusammen. Der erste Text ist ein Prosatext, der letzte ein Gedicht. Der erste Text stammt aus Alain Lance’ erstem Buch Les gens perdus deviennent fragiles von 1970, der letzte ist druckfrisch. Diese Anthologie, die Gedichte aus 25 Jahren präsentiert, hält sich ostentativ an die Ordnung: eine aufsteigende Linie vom Frühen zum Reifen, vom Einfachen zum Komplexen, von der Märchenwelt der Kindheit zur Säulenhalle der Poeten.
Auf den zweiten Blick freilich erweist sich dieser poetische Bildungsweg in aufsteigender Linie als Fiktion wie so manches, was in den Gedichten dieses Bandes so schön greifbar, einfach, selbstverständlich und bestimmt daherkommt: Im ersten Text sind die anderen schon vorhanden; im letzten ist der Reim, so souverän er auch gemeistert ist, nicht Ausdruck einer souveränen Welt- und Lebensschau, sondern ein verzweifelt notwendiges Mittel, um in der Form zusammenzuhalten, was in der Sache, was im Leben auseinanderfallen will. Der Reifungsprozeß ist zugleich einer von Verrottung, die Weisheit ist gewonnen durch Enttäuschung, der weite Horizont ist „zertatzt“ nicht nur vom „Löwen der GOLDWIN“, der Gewinn an Lebenserfahrung ist ununterscheidbar auch Verlust. „Seit dem neunzehnten Jahrhundert hat die Lebenserwartung beträchtlich zugenommen“, – aber das, was vom Leben zu erwarten ist, hat zugleich beträchtlich abgenommen, auch und gerade in den letzten fünfundzwanzig Jahren.
Wie das Leben dem lyrischen Ich mitspielt, so spielt der Autor mit seinen Lesern: Erwartungen werden geweckt und im gleichen Moment unterlaufen. Der Prosatext „Meine Großmutter“ fängt so harmlos an, als werde hier jetzt in genealogischer Naivität von der Familiengeschichte des Autors erzählt. Tatsächlich ist aber überhaupt nicht daran gedacht, uns nostalgisch mit den Details vergilbter Familienfotos zu behelligen. Der Autor führt uns in einen Ur-Wald, suspendiert die Zeit und berichtet von einem Fall, von dem man nicht weiß, ob es ein Sündenfall ist, von einem Täter, der auch Opfer zu sein scheint. Er berichtet von der schmerzlichen und zugleich unvermeidlichen Erfahrung, daß das Buch, die Ersatzwelt der Signifikanten, irgendwann an die Stelle der lebendigen Nähe der großen Mutter tritt, berichtet von der Erfahrung der Verlassenheit auch in der Dorfgemeinschaft, fern der Natur und fern dem Gesang. Die Kunst – auch diese Erfahrung ist schon daist immer in Gefahr, ihre Objekte zu versteinern, die Perspektiven zu begradigen, sich zu verbergen unter schwarzem Tuch, sich zu schützen durch die dicke Glaswand des Objektivs. Der Himmel ist ohne Hoffnung wie schon die gelben Himmel des Expressionismus. Keine kleine Geschichte also aus dem Leben, sondern eine Mythologie menschlicher Existenz, die aber mit dem letzten Wort, dem Wort „Kriegerdenkmal“, wieder zurückgeholt wird aus dem Verantwortungsbereich der Götter in den der Menschen.
In dieser Urszene liegt noch nah beieinander, was sich dann in den Gedichten entfaltet, aber immer präsent bleibt: Geschichte eines Individuums und Geschichte aller, die immer bedroht ist, vom Mythos wieder eingeholt zu werden, Natur und Commune, Kunstkälte und Menschenverantwortung. Und der Ton ist schon da, einfach, lakonisch, ohne Aufregung.
Von diesem Anfang strahlen Textsplitter aus, deren Bahn von 1789 über 1968, über Teheran und das Quartier Latin verläuft bis zur „Mündung unseres Jahrhunderts“, bis zu der verschwundenen Grenze zwischen Frankfurt und Leipzig.
Jeder Leser kann sie nachvollziehen, auch der deutsche. Sie ist Universalgeschichte, nicht französische Nationalgeschichte, sie ist eine Geschichte des Verlusts von Hoffnungen, die nicht nur in Frankreich abhanden gekommen sind. Aber auch hier verweigern sich die Texte einer einsinnigen Leseweise, die sie auf die einfache Linie der sukzessiven „illusions perdues“ reihen möchte. „Quartier Latin“, eines der frühen Gedichte, ist z.B. keine Revolutionseloge, sondern ein Text, der unter dem Pflaster nicht den Strand vermutet, sondern weiß, daß dort schon die Lichtleitungen für das „Glitzerlicht der Pizzerien“ liegen. Vielleicht sind es die frühen Erfahrungen des Krieges, mit dem Alain Lance 1939 auf die Welt gekommen ist, vielleicht sind es die „Eimer Angst“, die nächtlich aus „dem Brunnen der Kindheit“ gezogen werden, vielleicht ist es der Blick von Außen, von Persien oder von Deutschland her, die schon seine frühen Texte vor der Hoffnungsseligkeit schützen, die ihnen der Autor gewiß damals gerne mitgegeben hätte.
In Engführung mit der Geschichte verläuft die Entwicklung des lyrischen Ich. Es versteckt sich nicht, aber olympische Dichteranmaßung sind ihm ebenso fremd wie Larmoyanz. Es drängt sich nicht vor, aber es kaschiert auch seine Krisen nicht. Die Krise drängt sich in der zweiten Hälfte des Bandes hinein ins Elementarste, ins Dichten selbst, und bedroht es mit dem Verstummen. (,,Solange ich nicht schreibe…“). Insbesondere der Zyklus der „Monatsgedichte“ überprüft erneut und hier ganz ungeschützt die Voraussetzungen des Schreibens ohne gesicherten Horizont, ohne festen Boden unter den Füßen, ohne festen Platz, so daß das Echo – so denn da eines ist – den Rufer nicht mehr erreicht. Es gibt Stellen, da dominiert die Sehnsucht, das Wort abgeben zu dürfen und den Zweifel loszuwerden, der es überzieht:

Ist die Stunde gekommen, wirst Du sicherlich
Deine letzte Redezeit aufgeben

Aber beim Übersetzen, der Tätigkeit, die bei Alain Lance das Dichten immer gleichberechtigt begleitet hat, gerät er ins gleiche Getümmel, das „Gefecht der Worte gegen die Vernichtung“ („Beim Übersetzen von Kassandra“). Das letzte Wort also gibt es nicht, hier nicht, nirgends. Es gibt nur Wörter. Und es gibt Arbeit:

Nur ein paar Wörter
Braver kleiner Strandhafer
Der hartnäckig die Düne erschaffen will
Während der bombastische Seegang
Unter der Kontrolle des Monds
Unaufhörlich die Schiffbrüche verwaltet

Aber auch das ist nicht das letzte Wort, auch dieses Bild ist nicht das fertige, sondern wird durchkreuzt von anderen, schwärzer getönten:

Wie ein klarsichtiger Traum
Entschleierter Ozean
in der Hand ruht mein Schädel
Bißchen Sand funkelt drin.

Der Blick, der hier auf’s eigene wie auf’s fremde Tun fällt, kommt aus lidlosen Augen. Aber dennoch ist die Welt, die er uns öffnet, kein Jammertal. Da ist Liebe, augenblicklich („Renaissance“). Da ist immer wieder Frühling, trotz allem. Da ist Genuß, wenn auch kein Rausch (,,Den Armagnac nur hat die Sintflut nicht erwischt!“ „Zürnen des Himmels in Forez“). Und da ist vor allem die Lust am Spiel, am Spiel mit der Sprache, am Spiel mit der eigenen und der fremden Bedeutung. Das Spiel suspendiert für einen Moment, für die Länge eines Gedichts das Gewicht der Dinge, bringt sie ins Schweben, in leichte Bewegung. Um so spielen zu können, muß man etwas aus der Kindheit bewahrt haben. Um so zu spielen, bedarf es zugleich entwickelter Kunstfertigkeit, die sich nur aus Traditionen beziehen läßt, von denen das Philippe Soupault gewidmete Gedicht nur eine andeutet. Um so zu spielen, muß man die Spielregeln der Macht kennen, ohne ihnen Respekt zu zollen. Um so zu spielen, muß man Wirklichkeit m eigenen Leib erfahren haben, nicht nur die einer Stadt im französischen Norden, nicht nur die von Paris, sondern womöglich auch die von Teheran, von Bad Hersfeld, von Leipzig, von Frankfurt, von Berlin und von Saarbrücken, dem natürlichen Ort für die Grenzgänge, die auch die Gedichte dieses Bandes ohne höhere Lizenz immer wieder unternehmen. Und man braucht Witz. Alain Lance ist ein witziger Autor, kein vornehm-ironischer, längst kein humorvoll-einverstandener, auch kein Autor des aristokratischen Esprits. Sein Witz verleugnet die populären Wurzeln im Dorf der Großmutter ebensowenig wie den, der zu seiner Pariser Adresse gehört. Guter Witz bringt Verborgenes zum Vorschein formt es und entlädt wie die Gedichte dieses Bandes.

Karl-Heinz Götze, Nachwort

 

Kaderwelsch und Warenknechte

– Er übersetzte Christa Wolf und Volker Braun ins Französische, schreibt aber auch selbst. Die Literaturkolumne Fundstücke, diesmal über Alain Lance. –

Es ist wirklich ein Fundstück, in diesem Fall sogar eine Trouvaille. Als ich vor Kurzem in meinen Bücherregalen bei den Franzosen stöbere, irgendwie zwischen Perec und Houellebecq, stoße ich auf eine verrutschte dunkelblaue Broschur. Auf dem Umschlag heißt es „Gedichte in französisch und deutsch“, darüber:

Alain Lance – Und wünschte kein Ende dem Umweg.

An den 1994 in der Edition Karlsberg im Verlag Becker Turm, Homburg/Saar, erschienenen Band habe ich nach 25 Jahren keine Erinnerung mehr und schlage ihn wahllos auf, Seite 50/51, das Gedicht „Printemps tordu“, deutsch „Schleichender Frühling“. Darin:

Die Wandschirme kahl
Verstopfte Gemeinplätze

Einer faltet sich ein
Unter das Baugerüst
Ein Tosen fahndet
Nach seiner Menge

Die Zukunft
Zwischen den Zähnen

Die ich verliere
Wenn ich singe.

Man muss das nicht gleich völlig verstehen. Aber es hat ein lakonisches Pathos, das mir gefällt. Darunter stehen die Buchstaben „VB“. Es sind die Initialen des deutschen Übersetzers, des Dichterkollegen Volker Braun. Erst als ich ein wenig nachforsche über den Poeten Alain Lance, erfahre ich, dass die beiden als Freunde sich immer wieder wechselseitig in ihre Sprachen übertragen haben und zudem gleich alt sind. Volker Braun hatte Anfang Mai seinen 80. Geburtstag, und bei Lance, gleichfalls aus dem Kriegsanfangsjahrgang 1939, ist es im Dezember so weit.
Dass er seinen Vater zunächst nicht leibhaftig erleben und ihm erst als ausgemergeltem Heimkehrer aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager wie einem Fremden begegnen konnte, hat Lance so sehr verletzt wie später auch neugierig gemacht. Auf das Volk und die Kultur der feindlichen Eindringlinge von jenseits des Rheins. Er verbringt als Schüler in den 50er Jahren einen Sommer in der ihn teils provinziell abschreckenden, teils romantisch anziehenden Hölderlinstadt Tübingen und schreibt dort sein erstes Gedicht – so berichtet Lance in seinem kleinen Erinnerungsbuch Deutschland, ein Leben lang.
Später zieht es Lance auch in den zweiten deutschen Staat. Sein in Paris begonnenes Germanistik-Studium setzt er 1962 in Leipzig fort, hört dort an der Karl-Marx-Universität im Hörsaal 40 die Vorlesungen des legendären Hans Mayer (vor dessen Übersiedelung in den Westen) und schleppt eine 40 Kilo schwere Kiste mit deutschen Büchern nach Frankreich zurück. Die Zeit in der DDR legt auch den Grundstein zu den Freundschaften nicht nur mit Volker Braun, auch mit Christa Wolf oder Franz Fühmann, die er ebenso ins Französische übersetzt wie später etwa Romane von Ingo Schulze (teilweise zusammen mit seiner Frau Renate Lance-Otterbein). Wesentlich sind dann ab 1985 seine Jahre als Leiter des Französischen Kulturinstituts in Frankfurt/Main, danach in Saarbrücken und bis 2004 schließlich die Direktion des Pariser Literaturhauses.
Volker Braun schreibt im Nachwort zu Deutschland, ein Leben lang:

Es ist ein Glück, durch einen Confrère in einen anderen Kulturkreis lanciert zu sein.

Wie schön die Liaison zwischen den Sprachen und Poeten funktionieren kann, zeigt auch die von Alain Lance und Michael Hohmann herausgegebene Anthologie französischer und deutscher Gedichte Achterbahn. Le grand 8. Darin sind zweisprachig acht Lyriker*innen vertreten, etwa Claude Adelen, Hélène Sanguinetti, Marion Poschmann und David Wagner.
Doch zurück zu Alain Lance, der trotz zahlreicher Lyrik- und Prosabände in Frankreich und Preisen im Namen von Tristan Tzara oder Guilleaume Apollinaire hierzulande noch immer weitgehend unbekannt ist. Eine größere neue Auswahl von Lance-Gedichten wäre jetzt dringlich zu wünschen. Einst hatte Alain Lance „An die Freunde im Osten“ manches geschrieben, was sich im Jahr 30 nach dem Mauerfall mit frischen Augen liest. Das Warten auf die Utopie oder die Realität, und man tauschte „Texte und Flüssigkeiten / Während während während / Kaderwelsch und Warenknechte“. Welch ein Wortpaar!

Peter von Becker, Der Tagesspiegel, 29.5.2019

 

Angela Sanmann: „Des Verfassers Gefährte“: Volker Braun als Übersetzer von Alain Lance

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + deutsche FOTOTHEK

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Alain Lance

 

Alain Lance Rückkehr des Echos im Gespräch mit Volker Braun und Richard Pietraß im Literaturforum im Brecht-Haus am 3.11.2021.

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