Hans Thill: Zu Gregor Laschens Gedicht „Der Rote Sand“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gregor Laschens Gedicht „Der Rote Sand“ aus dem Gedichtband Gregor Laschen: Die Leuchttürme tun was sie können. −

 

 

 

 

GREGOR LASCHEN

Der Rote Sand

Dieser strahlende Punkt,
diese ausgezeichnete Einsamkeit,
um die sich sehr ungeregelt
die Form der Welle, eine
vorbeikommende Bewegung
kümmert, läßt alles
um sich und tief darunter
geschehen.

 

Roter Sand

Ein Leser, der diesen Text als ein Naturgedicht reinsten Wassers und ohne Kenntnis der geografischen Verhältnisse liest, wird schon in der ersten Zeile vor eine Verständnisfrage gestellt: der Sand ein strahlender Punkt? Das Rätsel ist rasch gelöst. Beim „Roten Sand“ handelt sich um einen Leuchtturm in der Nordsee vor der Mündung der Außenweser, auf halber Strecke zwischen Bremerhaven und Helgoland. Hier steht also ein Name, der auch eine Metapher von schlichter Schönheit ist. Die poetische Setzung ist mehr als ein Spiel, mit ihr wird die metaphorische Kraft eines Namens auf die Probe gestellt.
Jeder Name ist selbst ein strahlender Punkt, der eine Vielfalt von Bedeutungen verbirgt und mitteilt, einfach, indem er das eine für das andere setzt. Meist stellt sich sofort die assoziative Erkenntnis ein, dass dahinter noch zahlreiche andere Bedeutungen zu erschließen wären: etymologische, biographische, legendäre, usw. Der Name als das privateste Wort zeigt, was das Wort alles kann.
Was kann das Wort? Um dies herauszufinden, begibt sich Gregor Laschen an abgelegene Orte. Die Titel seiner Gedichtbände vergegenwärtigen geografisch bestimmbare Positionen „am Rand“, die sich im lyrischen Zyklus, der häufig vielleicht eher ein „Projekt“ als ein Zyklus ist, zu poetischen Chiffren umformen: Die andere Geschichte der Wolken (1983), Anrufung des Horizonts: Skagenzeit (1987), Jamerbugtnotate (1994), Die Leuchttürme tun was sie können (2004).
Für den Küstenbewohner Gregor Laschen ist der Blick ins Freie selbstverständlich. Er ist ein Dichter des Randes und der weiten Horizonte, seine Person lokalisiert er bewusst im Abseits, er ist einer, der die Mitte nicht sucht. Oder, um es mit dem Germanisten Stefan Wieczorek auszudrücken, Laschen betreibt „Topos-Forschung am abseitigen Ort“.
Laschen, der seine Gedichtbände genau komponiert, nimmt mit dem Gedicht „Roter Sand“, das gut in der Mitte des Bandes Die Leuchttürme tun was sie können steht, das Anfangsgedicht aus dem selben Band wieder auf:

Die kalte Zärtlichkeit
der Sterne, ihr Geflüster, ihr Abstand: fremd
bei uns selbst nähern wir uns, langsam,
sprechen diese besondere Sprache,
Kosenamen wie Formeln, ins
Unerreichbare, ins Hirn, seine Tiefen.

In unserem Gedicht ist der extreme Ort als „strahlender Punkt“, als „ausgezeichnete Einsamkeit“ ein Sehnsuchtsort, kein Ort der Verstoßung. Doch es geht nicht um „splendid isolation“, nicht um den Elfenbein-, sondern um den Leuchtturm. Der Punkt, umspielt von einer Welle, freundlich apostrophiert als „vorbeikommende Bewegung“, die sich „sehr ungeregelt“ um ihn „kümmert“ – ein derartig liebevolles, beinahe erotisches Bild des Elementaren dürfte in der zeitgenössischen Lyrik nicht noch einmal zu finden sein. Die schöpferische Macht dieses „Punktes“, „alles um sich und tief darunter“ geschehen zu lassen, macht den personalisierten Turm mit dem sprechenden Namen zum Souverän. Der tiefstapelnde, scheinbar kindlich-naive Ton des Gedichtbandtitels erhellt sich in der Lektüre beider Gedichte, „Roter Sand“ und „Die kalte Zärtlichkeit“ zu einer weltanschaulichen Position. Hier möchte einer besänftigen oder beruhigen, Die Leuchttürme tun, was sie können, ist vorstellbar als Antwort auf eine angstvolle Frage oder eine drohende Gefahr, die nicht einmal mehr ausgesprochen werden muss. Freilich, ein Versprechen wird hier nicht abgegeben. Anders als etwa der sehr verehrte Hölderlin, der in einer feindlichen Welt das Idyllische sucht und dann doch eher beschwört als feiert, versteht sich Laschens Rede vom Standpunkt einer Abgeklärtheit aus, die gleichsam wider besseres Wissen den Blick auf das Positive lenken möchte. Immerhin gibt es diese strahlenden Punkte, so meint er vielleicht, herausragende Türme, die sich redlich Mühe geben.
Doch wogegen könnten denn Leuchttürme etwas ausrichten, wenn nicht gegen die Dunkelheit? Der Leuchtturm ist so in einer Reihe mit anderen Lichtträgern und Aufklärern zu sehen, die allesamt auch Mut und Trostbilder sind und aus dem religiösen oder revolutionären Bereich stammen: Kerze, Fackel, Licht.
Der Rote Sand, ein Leuchtturm, ein lichtspendender Riese in der Nachfolge des Kolosses von Rhodos: das Bild des meeresumtosten Turms am Rand der Welt verwandelt sich in das einer gütigen Figur, die sich abmüht in der Liebkosung der Elemente.
Auch in den Jamerbugtnotaten gibt es bereits Annäherung von toter und lebendiger Materie in ähnlich familiär-intimer Gestimmtheit, im Gedicht „Die Poetik der Steine“ heißt es gleich zu Anfang: „der Stein hört dem Feuer zu immer / Hörten die Steine, schwesterlich zusammengerollt in die Hände der Pflanzen…“ Laschen kreiert hier einen Naturkreislauf eigener Art, der von der natürlichen Tätigkeit der Elemente ausgeht, eine Kosmologie der Transformationen, der etwas Träumerisches anhaftet. Das aus einem Ruhebild langsam anhebende Gedicht gewinnt Fahrt in einer Mechanik, die an Maschinen des Schweizer Künstlers Jean Tinguely erinnert: „Über den Rücken der Sprache, / Von Buckel zu Buckel, prasselt / Der Würfel, den Zufall im Arm, ins / Besternte Gelächter der Geschichte“, um in einer zweiten Strophe den Gedanken des Steins, der dem Feuer zuhört, wieder aufzunehmen und mit einigen Feinheiten der Variation gleichsam bestätigend zu enden:

diese blutigen Schuhe oben
Dieser und Mund unten,
Besterntes Gelächter zwischen den Zähnen…

Bereits in der Anrufung des Horizonts lesen wir Zeilen einer zärtlichen Belebung toter Materie: „Zwischen den blauen Hechten / des Himmels ein Zählen, der / Sand geht das Meer füttern, ins / Schwarze…“ heißt es in einem Gedicht mit dem Titel „Der Himmelsschreiber“.
Doch gibt es überhaupt tote Materie? Ganz in der Tradition der vorsokratischen Philosophen dürfte Laschen geneigt sein, das zu verneinen. Gleichzeitig geht die Sprache, unser lebendigstes Organ, ihrem Tod entgegen, sie stirbt in der Schrift. „,Jede Vokabel stirbt den Kältetod. (Edmond Jabès)‘ / Reine Buchstäblichkeit.“ In „Roter Sand“ haben wir es allerdings mit einer Kälte zutun, die ihren Schrecken verloren hat. Ebenso wie die Tiefe erscheint sie als ein Element, mit dem zu reden, das notfalls zu beschwichtigen wäre. Und wir ahnen, was Laschen unter „Buchstäblichkeit“ versteht: nicht die „Schrifttreue“ eines Philologen oder Fundamentalisten, auch nicht die illuminierte Lektüre des Heiligen Buchs eines Edmond Jabès, sondern das emphatische und empathische Buchstabieren der Natur, etwa an diesem „strahlenden Punkt“. Oder, um es mit Ossip Mandelstam zu sagen:

Wir beschreiben immer genau das, was nicht zu beschreiben ist, das heißt, den zum Stillstand gebrachten Text der Natur.

Im Gedicht „Roter Sand“ senkt sich der Blick vom „strahlenden Punkt“ zu der Welt „tief darunter“. Dieser Abstieg ist aber alles andere als ein hierarchischer. Es steckt nichts Rhetorisches in dieser Bewegung, kein (existenzialistischer) Fall der Sturz wird beschrieben. Laschen ist vielmehr besonders interessiert an dem, was „tief darunter“ ist. Es erscheint als das Wichtigste, die Quintessenz des Gedichts. Es ist, als würde damit der Leuchtturm erst im Meeresboden verankert.
In seiner Rede zum Peter-Huchel-Preis 1996 hat Laschen seinen Standpunkt so definiert: „Avantgarde: Rand ist Mitte, Bewegung wo… zwei unterschiedliche Stoffe und die ihnen zugehörende Bewegung aufeinandertreffen, in eins gehen eine Weile, ein Drittes womöglich hinzukommen lassen, sich trennen…“ Das ist, beinahe wörtlich, das Szenario um den Leuchtturm „Roter Sand“. So kann diese Betrachtung der Elemente auch als eine poetologische Aussage gelten. Der rote Sand wäre der Text, und was in ihm aufblitzt an Pointe oder Erkenntnis, wäre über eine Tiefe geschrieben, die ihre eigenen Gesetze hat und ihre eigene Autonomie. Die Welle wäre das rhythmische Geschehen in diesem Text, sein Lauf, dessen Richtung nicht immer eindeutig ist und schon gar nicht abhängig von dem, was oben oder unten geschieht. Eine gleichsam absichtslose Bewegung, deren einziger Sinn darin bestünde, geschehen zu lassen. Dabei spricht die Steigerung der Beiwörter „strahlend“, „ausgezeichnet“, „ungeregelt“ eine deutliche Sprache. Sie führt weit fort von jeder kunsthandwerklichen Formgewissheit, wie sie vielen wohlformulierten Naturidyllen zueigen ist, zu einer Beschwörung der Natur, die bis in den Zeilenfluss hinein das Geschehen um den „Roten Sand“ nachstellt, gleichsam als Textwelle einer beiläufigen Bewegung, über die Tiefen hinwegstreichend. Vom ruhig-heiteren Blick auf die tobenden Elemente lebt dieses kleine Gedicht.

Der Leuchtturm „Roter Sand“ steht unter Denkmalschutz. Im Mai 1994 und im Juli 1999 organisierte Johann P. Tammen für die horen eine Ausflugsfahrt mit zahlreichen Dichtern an Bord durch die Wesermündung zum Leuchtturm, beide Male war auch Gregor Laschen mit dabei. Seit dem 8. Juli 2004 gibt es den „Roten Sand“ als Briefmarke.

Hans Thill

Die Texte wurden entnommen aus: die horen, Heft 246, Wallstein Verlag, 2. Quartal 2012

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