Gerhard Schulz: Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Dorfmusik“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Dorfmusik“ aus Johannes Bobrowski: Wetterzeichen. –

 

 

 

 

JOHANNES BOBROWSKI

Dorfmusik

Letztes Boot darin ich fahr
keinen Hut mehr auf dem Haar
in vier Eichenbrettern weiß
mit der Handvoll Rautenreis
meine Freunde gehn umher
aaaeiner bläst auf der Trompete
aaaeiner bläst auf der Posaune
Boot werd mir nicht überschwer
hör die andern reden laut:
dieser hat auf Sand gebaut.

Ruft vom Brunnenbaum die Krähe
von dem ästelosen: wehe
von dem kahlen ohne Rinde:
nehmt ihm ab das Angebinde
nehmt ihm fort den Rautenast
aaadoch es schallet die Trompete
aaadoch es schallet die Posaune
keiner hat mich angefaßt
alle sagen: aus der Zeit
fährt er und er hats nicht weit

Also weiß ichs und ich fahr
keinen Hut mehr auf dem Haar
Mondenlicht um Brau und Bart
abgelebt zuendgenarrt
lausch auch einmal in die Höhe
aaadenn es tönet die Trompete
aaadenn es tönet die Posaune
und von weitem ruft die Krähe
ich bin wo ich bin: im Sand
mit der Raute in der Hand

 

Tod und Verklärung?

Allein Götter und Dichter können sich über Leben und Tod erheben. Den einen sagt man nach, daß sie reale Welten erschaffen, wenngleich sie selbst nur Gebilde unserer Phantasie sind. Die anderen existieren in Fleisch und Blut unter uns, ihre Schöpfungen dagegen kommen erst in unserer Einbildungskraft zum Leben. Beide aber lassen den Menschen gelegentlich einen Blick über sich hinaus tun, damit er ein wenig besser weiß, wo er steht.
Bobrowski hat den Helden seines Gedichts ein Stück auf der Reise in jenes unentdeckte Land begleitet, von „des Bezirk“, nach Hamlets Worten, „kein Wandrer wiederkehrt“. Von der Grenze, vom sandigen Ufer des Letheflusses sozusagen, kommt dieser Bericht. Der Tote reflektiert oder – um den fremden Ausdruck beim Wort zu nehmen – er blickt zurück.
Man hat ihn in einen einfachen Sarg aus vier ungestrichenen, weißen Brettern gelegt, wie er für die armen Leute in den Dörfern des Baltenlandes üblich war; „Nasenquetscher“ pflegt man so etwas im Volksmund zu nennen. Die Raute, das „Totenkraut“ des Aberglaubens und übrigens auch Nationalblume von Bobrowskis poetischer Heimat Litauen, hat man ihm nicht verweigert; Schutz soll sie bieten gegen Angriffe des Bösen auf der letzten Überfahrt.
Aber würdig war er in den Augen der guten Freunde solchen Talismans und Schmuckes wohl nicht. Vom Dorfziehbrunnen mit dem großen, schräg emporragenden Brunnenbaum, vom Umschlagsort gesunden Volksempfindens also, tönt der Schmähruf der Krähe, seit alten Zeiten der Lästervogel. Man hält nicht viel von dem, den man mit Musik zu Grabe trägt. Er gleicht dem törichten Manne, von dem Jesus sagte, daß er „sein Haus auf den Sand baute. Da nun ein Platzregen fiel und kam ein Gewässer und wehten die Winde und stießen an das Haus, da fiel es und tat einen großen Fall.“ Und da, meint man, wird auch der Bauherr wohl liegen bleiben.
Aber was geschehen soll, geschieht nicht. Das Boot bewegt sich, ist nicht überschwer, und man läßt dem Toten auch sein Angebinde für gute Fahrt, denn etwas hat sich schützend über ihn gebreitet: Dorfmusik. Die geringen, subtilen Veränderungen im Kehrreim der drei Strophen sind der Schlüssel zu diesem Gedicht. Mit einem „doch“ als Abwehr gegen Nachrede und Geschwätz erscheint der Refrain das zweite Mal, und die Musiker sind jetzt hinter der Musik verschwunden. Die aber erhält auf einmal neuen Klang und andere Kraft.
„Denn es wird die Posaune schallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden“, schreibt der Apostel Paulus an die Korinther. Der aus der Welt Gefahrene, der seine Bibel kennt, verspürt etwas von der Macht solcher Musik. Das Urteil der anderen gilt nicht mehr, das Schreien der Krähe verhallt allmählich, die Narrenspiele sind vorüber: Tod und Verklärung? Davon sagt dieses Gedicht nichts.
Die Grenze ist überschritten, aber der größere Teil der Reise steht noch bevor, und aus welcher Höhe die Töne tatsächlich kommen, weiß man nicht. „Iich hoa ann Gewißheet“, sagt der pietistisch fromme alte Hilse in Hauptmanns „Webern“, als er einmal seinen Glauben bekennt. Die Gewißheit dieses Menschen hier ist die Raute, die er aus der Welt mitbringt, das „kleine Kraut aus Tränen und Küssen“, wie sie Bobrowski in einem anderen Gedicht nennt. Und es ist die verwandelte Dorfmusik, die forttönt, weiterklingt und hallt:

Denn es tönet die Posaune…

Eine Entscheidung darüber, ob dergleichen als Gewißheit ausreicht, ist jedermanns eigene Sache. Das Wörtchen „denn“ heißt in der Grammatik eine kausale Konjunktion. Von einem Urheber der Musik, einer causa ist im Gedicht nicht die Rede. Der Dichter ist kein Priester, und das Gedicht ist ganz und gar ein Kunstwerk, das in Bildern zu unserer Einbildungskraft, unserer Phantasie spricht.
Die Gewalt von Bobrowskis einfachen, klaren Metaphern ist offenbar. Ich zögere nicht, diese Verse hier eines der schönsten deutschen Gedichte unseres Jahrhunderts zu nennen.

Gerhard Schulzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00