Eckart Kleßmann: Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „J.S. Bach“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „J.S. Bach“ aus Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke. 4 Bände, Band I: Die Gedichte. –

 

 

 

 

JOHANNES BOBROWSKI

J.S. Bach

Unbequemer Mann,
Stadtpfeifergemüt, mit Degen
wie mit Neigung zum Sentiment
(praktikabel, versteht sich),
einer Kinderfreude
an plätschernden Wassern, stetig
wirkendem Gang der Flüsse;
so sind der kahle Jordan
und der von Himmeln trächtige
Euphrat ihm
freundlich.

Daß er die Meerbucht sah –
einen dort, der herging
hinter Feuern unsichtbar
der die Planeten rief
mit einer alten Qual –,
manchmal
im blitzenden Köthener Spiel
im Bürgerprunk
der Leipziger Jahre
taucht das herauf. Zum Ende
hat er des Pfingstgeists Sausen
nicht mehr gehört mit Trompete
oder Posaune (auf 16 Fuß).

Flöten gehn ihm voraus,
als er müdegeschrieben
tritt vor sein altertümliches Haus,
den fliegenden Wind
spürt, die Erde
nicht mehr erkennt.

 

Aus Wasser und Wind

Um Johann Sebastian Bach hat der Nachruhm eine Aureole aus Legenden, Schwärmereien und Anhimmelung gewoben, wie sie in diesem Ausmaß kaum einem anderen Komponisten widerfahren ist. Trotz intensiver Forschung ist Bachs Persönlichkeit aber nur schemenhaft sichtbar geworden, ist er uns als Individuum fremd und unnahbar geblieben.
Für ein Gedicht, das diesen Mann porträtieren möchte, kann der Mangel an biographisch verwertbarem Material von Vorteil sein. Bobrowski zeichnet in diesen am 25. Juni 1958 niedergeschriebenen Strophen keinen Lebenslauf faktisch nach. Daß Bach ein „unbequemer Mann“ war, sagen uns die Akten, die ihn uns als störrisch, ja auch querulantisch darstellen. Er kam aus einer Stadtpfeiferfamilie und mußte sich in jungen Jahren einmal mit dem Degen gegen einen persönlichen Angriff zur Wehr setzen. In seinem Lebenslauf waren die Jahre als Hofkapellmeister in Köthen und als Thomaskantor in Leipzig die wichtigsten Stationen. In jeder Biographie ist das nachzulesen. Verknüpft sind sie, die Wegmarken eines fünfundsechzig Jahre währenden Daseins, mit der Musik.
Andere Dichter haben das Statuarische betont, das Mächtige, Pathetische. Bobrowski hingegen setzt den Akzent auf das Flüchtige und Fließende. Etwa die „Kinderfreude an plätschernden Wassern“ in Bachs Musik, wie sie uns lautmalend so oft in den Kantaten und Choralvorspielen begegnet, sobald der Text von bewegtem Wasser spricht und das Wort die Musik zum illustrierenden Nachzeichnen inspiriert. Vom Jordan und Euphrat zur Lübecker Bucht: Bachs Besuch bei dem, „der die Planeten rief“, Dietrich Buxtehude. Hier fügt Bobrowski seiner Strophe eine Annäherung an sein Buxtehude gewidmetes Gedicht „Nanie“ bei, deren Herzwörter „Feuer“ und „Planeten“ wiederaufgenommen werden. Doch zum Ende des Bach-Gedichts ist es dann nicht mehr das Wasser, sondern „des Pfingstgeists Sausen“ und jener „fliegende Wind“, den der in den letzten Wochen seines Lebens erblindete Komponist spürt.
Und so tritt er dann in diesem Finale „vor sein altertümliches Haus“, jenes mächtige Kunstgespinst, von den Zeitgenossen als antiquiert und abseitig empfunden, offenbar nicht mehr ganz von dieser Welt, da er „die Erde nicht mehr erkennt“ und auch nicht hergeht „hinter Feuern unsichtbar“. Zugeordnet sind ihm die Elemente Wasser und Luft, die flüchtigen, die an den verwehenden Nachruhm erinnern, an das „ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ jenes Chorals, den eine der schönsten Kantaten Bachs umspielt.
Was irdisch gewesen ist am Lebensgange Bachs, wird knapp benannt, als beschreibe man ein Instrument, dessen einzige Aufgabe es ist, Musik zu erzeugen, Musik, wie sie „der von Himmeln trächtige Euphrat“ oder des „Pfingstgeists Sausen“ inspiriert, von dieser Welt und zugleich schon von ihr sich lösend.

Eckart Kleßmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

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