Jochen Hieber: Zu Gertrud Kolmars Gedicht „Die gelbe Schlange“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gertrud Kolmars Gedicht „Die gelbe Schlange“ aus Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. –

 

 

 

 

GERTRUD KOLMAR

Die gelbe Schlange

Ich war ein Mädchen auch im Traum.

Und meine Brüste lagen, helle Inseln,
Auf jeder eine kleine braune Stadt
Mit spitzem Turm
Und rot geheimer Ströme unterirdnem Rinseln.

Wann werden weiße Quellen aus den Steinen brechen?

Die Schlange zuckte
Ungesehn durch Kraut.
Ach, alle Moose, die sie grüßte,
Verrotteten.
Ihr Leib ließ eine Wüste.
Baumgrün vergilbte vor der gelben Haut.

Die gelbe Schlange kam.
Sie zog sich übers Meer
Und sank in Grund,
Wo seltsam bunt und schwer
Tierblumen an verfallnen Schiffen saugen
Mit zähnelosem Mund.

Sie schlich
in meine roten Grottenflüsse ein.
Sie lächelte.

Die kleine Stadt ward krank,
Zermürbte, wich.
Ihr stolzer Wartturm sank
Tief in Weiches ein.

Die Insel, einmal glücklich schön
Mit Hügelkuppe und mit sanfter Bucht
Und vieler Wellen blitzendes Getön,
Hing müd in See.

Wie überreife, halbvermulschte Frucht.

 

Die geschändeten Brüste

Gelb ist, volkstümlicher Überlieferung gemäß, die Farbe der Anmaßung, der Hoffart und des Neides. Die Schlange, bei vielen Naturvölkern als wohltätiger Dämon in hohem Ansehen, gilt der abendländischen Tradition als Verkörperung von List und Tücke, Verschlagenheit und Verrat: Sie ist das böse Prinzip. Und der Traum, so verstand man es jedenfalls vor Sigmund Freud, verbindet den Schlafenden auf natürliche Weise mit der übersinnlichen Welt: Er ist ein Fingerzeig des Absoluten, in dem sich göttlicher Fluch und göttlicher Segen offenbaren.
„Tierträume“ heißt einer von drei Gedichtzyklen, die Gertrud Kolmar zwischen 1927 und 1932, in der wichtigsten Phase ihrer poetischen Laufbahn, geschrieben hat. Auch biographisch ist diese Zeit von großer Bedeutung. 1927 löst sich die dreiunddreißig Jahre alte Tochter eines angesehenen jüdischen Rechtsanwalts und Justizrates zum ersten und einzigen Mal aus der Familie: Sie verläßt Berlin, zieht allein nach Hamburg, um als Erzieherin zu arbeiten. Noch im selben Jahr ist sie in Frankreich, zum Sprachdiplom in Dijon.
Aber schon im Herbst 1928 lebt sie wieder im Vorort Finkenkrug bei Berlin: Anstelle der schwer erkrankten Mutter übernimmt sie den elterlichen Haushalt. Zwölf weitere Jahre wird sie, nach deren Tod, den Vater versorgen, bis ihn die Nazis im September 1942 ins KZ Theresienstadt deportieren. Sie selbst kommt in Auschwitz um.
„Die gelbe Schlange“, das vorletzte Gedicht der siebenundvierzig „Tierträume“, blieb zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht: Gertrud Kolmar hat es nicht in den Band Die Frau und die Tiere aufgenommen, der im Frühherbst 1938 noch beim Jüdischen Buchverlag Erwin Löwe erscheinen konnte – einige barbarische Wochen später nur, nach der Pogromnacht vom 9. November, wurde er eingestampft. Die Schonung des Vaters mag beim Verzicht auf den Druck dieser Verse eine Rolle gespielt haben. „Die gelbe Schlange“ nämlich ist, in mythologischer Verkleidung, zuallererst eine bittere Abrechnung mit den familiären Zwängen, eine radikale Anklage, die die im Leben fügsame Tochter unfügsam nur im Schreiben wagte. Unmißverständlich die erste Zeile: Hier geht es um mich, sagt die Dichterin, um mein Schicksal, nicht bloß um eine Rolle, die ich poetisch erprobe. Den Grad der späteren Zurichtung lassen dann jene vier Zeilen ermessen, in denen die Kolmar, einzigartig in ihrem Werk, den eigenen Körper unbefangen feiert: In der Sprache des Hohenlieds besingt und rühmt sie die Schönheit ihrer Brüste.
Als eher herb und verschlossen wird sie von Zeitgenossen geschildert, man spricht über die unvorteilhafte Art, in der sie sich kleidete. Von ihren großen, herausfordernd prüfenden Augen ist oft, von Schönheit indes ist nie die Rede. Sie selbst hat sich, sehr prosaisch, eine „Spartanerin“ genannt. In der Poesie indes, im Gedicht „Die gelbe Schlange“, folgt der leiblichen Emphase die leidenschaftliche Aussicht auf glückliche Mutterschaft, aufs Stillen eines Neugeborenen:

Wann werden weiße Quellen aus den Steinen brechen?

In der scheinbar hoffnungsfrohen Frage verbirgt sich in Wahrheit jedoch das Trauma ihres Lebens.
Mit Anfang Zwanzig verliebte sie sich in den Offizier Karl Jodel. Diese große Liebe hat sie, unter Zwang, der Familienräson preisgegeben. Und das Kind, mit dem sie schwanger ging, wurde abgetrieben. Gertrud Kolmar hat dieses Erlebnis, bei dem sie Täterin und Opfer zugleich war, nie verwunden. Das verlorene, das getötete Kind wird fortan zu einem zentralen Motiv ihrer Dichtung. Unstillbar ist die Sehnsucht nach ihm, unstillbar sind die Selbstvorwürfe.
„Kind“ heißt demzufolge einer der Zyklen aus dem produktiven Jahrfünft der Reife. Gram und Trauer verdichten sich hier zu eindringlich nachrufender Klage, stellvertretend etwa in den Anfangsversen des Poems „Wahn“:

Die Nacht steht draußen und die Wiege leer
Und die sie schaukelt, eine bleiche Frau,
Trägt Strähnenhaare, schwarz und zäh wie Teer.

Die gelbe Schlange hingegen, die sich einschleicht in „meine roten Grottenflüsse“, ist unschwer als poetisches Bild für die Abtreibung zu verstehen, als Allegorie des großen Erschreckens. Im Bild der Schlange aber sucht das Gedicht auch nach der Schuld der anderen, nach der Schuld der Familie, der Mutter zumal, die gemäß elterlicher Arbeitsteilung die Tochter zur Tat nötigte: So wurde sie, die Mutter, selbst ein Teil des bösen Prinzips. Auch auf ihr lastet der Fluch von Gertrud Kolmars lyrischem Traum über die geschändeten Brüste.

Jochen Hieberaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtzehnter Band, Insel Verlag, 1995

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