Jan Philipp Reemstsma: Zu Georg Trakls Gedicht „Winterabend“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Trakls Gedicht „Winterabend“ aus Georg Trakl: Das dichterische Werk. –

 

 

 

 

GEORG TRAKL

Ein Winterabend

Wenn der Schnee ans Fenster fällt.
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.

Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft

Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.

 

Wie kommt Pilatus ins Credo?

Auf den ersten Blick: ein sehr sicheres Gedicht. Eine wunderbare Austarierung der Vokale; die leichten e’s der Schneezeile, der Glockenton der zweiten, die i’s, denen die dritte gewidmet ist, und die durch das ei daran gehindert werden, zu spitzig zu sein, die Festigkeit der vierten Zeile mit u und o und Diphtong, die das ausgesprochene Wohlbestelltsein einlöst. Ein genau gefugtes Gedicht, dem man den Verfasser ansieht, ohne daß allerdings die Handschrift überdeutlich wäre: nichts Marmorbleiches, kein Verfall, kein bleu mourant.
Auf den zweiten Blick: ein religiöses Gedicht, tauglich auch für Nichtreligiöse. Es spricht eine Atmosphäre von Trost und Geborgenheit herbei. Das Reimwort zu den dunklen Pfaden ist der Baum der Gnaden; vor dem gebotenen Abendmahl – Brot und Wein – liegt die Schwelle, vom Schmerz versteinert, als habe sie der Fuß des Leidenden durch seine Berührung verwandelt wie der Blick des Ungeheuers. Doch man kann sie überschreiten.
Lange habe ich dieses Gedicht geliebt. Dann hat mich Peter Rühmkorf einen dritten Blick tun lassen. In seinem Buch über den Reim mit dem Titel agar agar zaurzaurim schreibt er über eine fürchterliche Panne, die ihm einmal bei der Rezitation ebendieses Gedichts unterlaufen sei. Er las die drittletzte Zeile so: „Scherz verschweinerte die Stelle“, und das brachte ihn darauf, daß das nicht der einzige Schüttelreim ist, der in diesem Gedicht auf den Ergriffenen lauert:

Wenn die Fee ans Fenster schnellt,
Lang die Abendlocke gleitet,
Thielen ist der Fisch bereitet

– und man kann sogar noch einen weiteren finden:

Ehrt der Auster kühlen Saft.

Das sind natürlich groteske Albernheiten, aber einmal ausgesprochen, kann man sie nicht mehr vergessen. Die Frage stellt sich aber: Wie kommt Pilatus ins Credo?
Ausgeschlossen, daß Trakl es auf solche Albernheiten angelegt hätte. Nicht, weil wir ihm nicht zutrauen möchten, daß in einer guten oder bösen Stunde ihm dergleichen hätte einfallen können, aber die Albernheiten ergeben im Gedichtkontext keinerlei Sinn. Bloßer Zufall können diese schrecklichen Schüttelreime aber auch schwerlich sein – das empfindliche Ohr Trakls hätte sie auch unbewußt vermeiden müssen. Nun können Gedichte die Äquivalente aller möglichen psychischen Zustände und Dispositionen sein. Wir kennen melancholische, hysterische, manische Gedichte – warum nicht annehmen, es könne in der Poesie auch ein Äquivalent zum Tourette-Syndrom geben?
Das Tourette-Syndrom ist eine neurologische Erkrankung bisher ungeklärter Ursache, die, ohne Intelligenz und sonstige Fähigkeiten zu beeinträchtigen, den Erkrankten diversen Tics wie Gesichterschneiden oder zwanghaftes Berühren von Gegenständen unterwirft. Unter anderem stoßen sogenannte „Touretter“ in ansonsten unbeeinträchtigter Rede plötzlich eine Kaskade obszöner Worte aus – und fahren dann fort in dem, was sie eigentlich sagen wollten. Ungefähr so wirken die verborgenen – und, wenn sie einmal offenbar geworden sind, nicht mehr zu überhörenden – Schüttelreime im „Winterabend“.
Warum am Tourette-Syndrom Erkrankte tun, was sie tun, weiß man, wie gesagt, noch nicht. Für Trakls „Winterabend“ kann man eine Hypothese formulieren. Der „Winterabend“ ist ein für Trakl eigentlich untypisches Gedicht. Der typische Trakl-Sound bricht eine zunächst anders gehaltene Stimmung ins Morbide – nicht „Brot und Wein“ sondern „Faule Früchte nachts vom Baum“. Man tritt mit Trakl normalerweise nicht in „reine Helle“. Im „Winterabend“ schon. Irgendwas muß sich in Trakl gegen die Virtuosität gesträubt haben, in der ihm dies gelang.

Jan Philipp Reemtsmaaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004

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