Adolf Dresen: Die Leere zwischen den Sternen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Adolf Dresen: Die Leere zwischen den Sternen

Dresen-Die Leere zwischen den Sternen

DIE REINHALTUNG DER LEHRE
frei nach Körner

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Lengarx.

 

 

 

Autor Adolf Dresen

Dort, wo die letzte Losung verblaßt ist und nie eine Fahne ausgesteckt wird, ist sein krasses Land. Vulkangestein, von Raps und Roggen verborgen. Ausbrüche jederzeit möglich. Er war ein verborgener Autor; er zeigte sich als Regisseur. Seine eigenen Texte verbannte er auf die Hinterbühne seiner Existenz: Dramen, die er nur auf dem Papier inszenieren konnte, in der Zimmerstille, in der er sein Blut tosen hörte. Er zeigte auch auf der Bühne die Eingeweide und Fasern, den Seelengrund, und wenn der Prinz von Homburg träumt, so in der nackten strengen Wirklichkeit. In den Texten liegt sie ungestalt, roh: und der geflohene Häftling tritt frühmorgens in den Laden, verlangt Schnaps, gurgelt und fallt längelang auf den Boden. Dresen ist der Flüchtende selbst; er wäre, entdeckt, irgendetwas zwischen Bräunig und Hilbig gewesen, ein Nestvermesser und Landbeschmutzer, ein präziser Berserker der Selbsterkundung. Der Mensch das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse; hier kann man spitzer sagen: er war das Ensemble seiner selbst, seiner 2. und 3. Berufe und Verhältnisse (die er aufschrieb: ein Personenzettel); ein unzufriedner Universalmensch, der es nirgends aushielt als in der genauen Scheinwelt der Bühne. Es hatte Gründe, daß er unter Ausschluß der Öffentlichkeit schrieb: und der Exhibitionismus im Opernhaus endete; die eine Liebe führte er aus, die andere sperrte er weg wie ein Notzüchter. Das ist kein Fall für die deutsche Justiz (der Literaturkritik), sondern eine Sache für Herausgeber, Texte aus dem Verlies, die von Freiheit träumen.

Volker Braun, Vorwort

 

Nachwort

Adolf Dresen lebt in der Erinnerung als Theater- und Opernregisseur, aber er hat immer geschrieben, und wenigstens in den Jugendjahren war es seine heimliche Sehnsucht, ein Schriftsteller zu werden. Er hat fast alles, was er erlebt hat, auch schriftlich festgehalten, reflektiert und analysiert: in Notiz- und Tagebüchern, in Gedichten und Erzählungen, in Theaterstücken, Hörspielen und Essays. Er holte als Student und in seinen ersten Theaterjahren bei jeder Gelegenheit aus der Hosentasche ein abgegriffenes Notizbuch, setzte sich irgendwohin und schrieb etwas hinein; wie man jetzt sehen kann, waren das philosophische und physikalische Notizen, Gedankensplitter, erzählerische Fragmente, Gedichte, Ganzes und Abgebrochenes, Stehengelassenes und Durchgestrichenes. Von einem, der stets nur nebenbei schriftstellerisch tätig war, brachte der Nachlass eine geradezu überwältigende Menge an Material zutage.
Was er tat und dachte, versuchte er in Beziehung zur Welt zu bringen. Seine Interessen waren breit gefächert, und er war mit seiner scharfen Intelligenz bemüht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er befasste sich mit Physik, hier vor allem mit Problemen der Zeit und der Relativitätstheorie, mit Biologie, mit Philosophie, wobei er sich ausführlich mit Kant, Marx, Hegel und Popper auseinandersetzte. Die ökonomischen Theorien von Marx beschäftigten ihn ein Leben lang, er arbeitete sich durch das Kapital, die Grundrisse und anderen Schriften hindurch, ebenso durch Stapel Sekundärliteratur. Er wollte es genau wissen; er verabscheute die Verflachungen, die in der DDR als Material für das „Parteilehrjahr“ verbreitet und für Zitate ausgeschlachtet wurden.
Die Marx-Studien waren ein Teil seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Sozialismus, dessen Idee er befürwortete und unter dessen Schäbigkeit in der Praxis er unsäglich litt. Die Gedichte und andere Schriften in diesem Buch zeigen dieses Leiden, ein Leiden aus ehrlichem Engagement und tiefer Enttäuschung, als eine geradezu körperliche Erfahrung. Er wollte herausbekommen, ob die Fehler, die in seiner Zeit offenbar wurden, schon an Marx selbst oder erst an seinen „marxistisch-leninistischen“ Interpreten lagen. Schließlich glaubte er, in der Marx’schen Theorie des Mehrwerts die Fehlstelle entdeckt zu haben. Es war charakteristisch für Dresen, dass er sich nicht damit begnügte, die unvollkommene Praxis des „real existierenden Sozialismus“ zu beklagen, sondern sich auch unbedingt den theoretischen Hintergrund erklären wollte; unermüdlich suchte er Partner für schriftliche Auseinandersetzungen, die ihm behilflich sein sollten, das Gedachte genau zu machen. Dresens schöpferische Begabung blühte auf dem Boden eines präzisen dialektischen Denkens. Das verbot ihm jedes mystische Raunen und gab noch seinen abstrusesten Phantasiegebilden einen konkreten Hintergrund. Das in Gedichten immer wiederkehrende Thema des Loslassens, des Abhebens und Fliegens ist wohl ein Ausdruck der empfundenen Spannung zwischen Realität und Imagination. Sein kritischer Geist machte vor seinen eigenen Arbeiten nicht halt: Wo er in seinen Inszenierungen oder schriftstellerischen Versuchen künstlerisch Unzulängliches zu entdecken glaubte, war er analytisch unerbittlich, manchmal bis zur Selbstzerfleischung.
Um seine eigene Produktivität und die seiner Freunde anzukurbeln, regte Dresen in den frühen Jahren zu Schreibwettbewerben an. Es wurde ein Thema vorgegeben, über das man etwas zu erfinden hatte; anschließend wurden die Produkte vorgelesen und diskutiert. Meistens war er selbst blitzschnell mit seinem Beitrag fertig, während sein Gegenüber noch grübelnd an seinem Bleistift kaute; aus dem Thema „Der Schrank“ hatte er in einer Viertelstunde einen spannenden Kurzkrimi gemacht, während der andere gerade dabei war, den Türrahmen zu beschreiben. Der Germanistikstudent Dresen rief seine Kommilitonen auf, ein „Brevier zur Sprengung der Insel Hiddensee“ zu verfassen; das war natürlich ein Studentenulk, brachte aber den Groll des in der rauhen Ostseeküstenwirklichkeit aufgewachsenen Realisten gegenüber den Möchtegern-Künstlern zum Ausdruck, die auf der Insel ihre Genialität durch Saufen und Nacktbaden demonstrieren wollten.
Eine andere Aufgabe bestand darin, zu einem von ihm gemachten Anfang den Fortgang einer Geschichte zu finden. Die Themen wurden aus dem Alltag gegriffen. Die hier abgedruckte Kurzerzählung „Die Antenne des Michael Kohlhaas“ ist das Resultat eines solchen Wettbewerbs, veranlasst durch eine der FDJ aufgetragene Kampagne gegen das Westfernsehen.
In den ersten Berufsjahren, als Dresen seine Arbeit als Regisseur zwar mit vollem Einsatz betrieb, sie aber noch als eine Option unter mehreren ansah, widmete er sich besonders intensiv seinen literarischen Versuchen. Kurz davor hatte er sich für den Hamlet in Greifswald (1964) als Mitübersetzer erprobt und war von da an bestrebt, die für seine Inszenierungen gewollten theatergerechteren Übersetzungen selbst herzustellen oder zumindest an ihnen mitzuwirken. Das tat er nicht in der Hoffnung, „die Tantiemen kleckern zu lassen“, wie er es ausdrückte, sondern aus einem starken literarisch-dramatischen Eigenwillen heraus. Der trieb ihn auch, neuere Stücke, die er für mangelhaft hielt, ohne Rücksicht auf Urheber- und sonstige Rechte radikal zu bearbeiten, wodurch er in zahlreiche juristische Streitigkeiten geriet.
Diese Auswahl umfasst einen Zeitraum von 1953 bis 1992, der Großteil der Texte stammt aus den Jahren 1960 bis 1976, also vor seinem Weggang aus der DDR. In Magdeburg schrieb er eine Zeitlang jeden Abend Gedichte, die er Freunden vorlas oder schickte. Eine Schönfärberballade reichte er bei der satirischen Zeitschrift Eulenspiegel zur Veröffentlichung ein, vergeblich. Es ist in der DDR dann wohl bei diesem einzigen Versuch geblieben. Jahre später nahm er Anlauf, eine Reihe von Gedichten unter dem vermutlich bewusst blass gehaltenen Pseudonym Alexander Richter beim Verlag Klaus Wagenbach unterzubringen, ebenfalls vergeblich.
Da das Schreiben notgedrungen die Nebentätigkeit eines engagierten Theaterregisseurs sein musste, ist ein nicht geringer Teil seiner Gedichte und vor allem seiner Prosatexte unfertig oder als Fragment liegengeblieben. Einiges davon wurde dennoch als beachtenswertes Dokument in diese Sammlung aufgenommen. Bedauerlicherweise ist im Nachlass nur die erste Hälfte der seinerzeit vollendeten Erzählung „Wie wir den Papst gestürzt haben“ auffindbar, so dass dieser einzigartige Bericht aus Dresens Theaterzeit in Magdeburg unveröffentlicht bleiben muss. Auf den Abdruck des Theaterstücks Niemandsländer Leute (1962) musste ebenfalls verzichtet werden, da dies den Rahmen der Publikation gesprengt hätte.
In einem Brief aus dem Jahr 1958 schrieb Dresen über seine Zielvorstellungen:

Ich will keinen Literaturschinken machen, sondern über unsere Angelegenheiten [schreiben]. Aber es muss stimmen, auch muss es interessant sein.

Aus seinem Verlangen nach Authentizität erklärt sich wohl auch seine Vorliebe für die bodenständige Diktion des Volkes, wie er sie in seinem Heimatort Eggesin kennengelernt hatte und später im Sächsischen und im Berlinischen aufnahm. Gern bezog er solche umgangssprachlichen Elemente in die Dialogpartien seiner Erzählungen ein. Als er für eine Inszenierung am Deutschen Theater zusammen mit Maik Hamburger kleine Stücke des Iren Sean O’Casey übersetzte, rief er aus:

Ich höre meine Großmutter reden!

Und die gemeinsame Übersetzung von Shakespeares Hamlet wurde von DDR-Zensoren auch deshalb beanstandet, weil die ordinäre Ausdrucksweise der Totengräber eines großen Dichters wie Shakespeares „unwürdig“ sei. Wie so oft hatten die Funktionäre keinerlei Ahnung, aber einen guten Riecher: Denn was Dresen an der plebejischen Haltung faszinierte, war die Schwejksche Negation, die Unerreichbarkeit für Ideologien, das, was Brecht den „unpositiven Standpunkt des Volkes“ genannt hatte. In den „Geschichten aus der Wische“ werden solche Beobachtungen sozial treffend und komisch zur Geltung gebracht.
Dresens Interesse an der Welt der Arbeiter, der angeblichen Herren der sozialistischen Gesellschaft, war nicht bloßes Lippenbekenntnis. Anders als viele Künstler, die die von der Partei gewünschte enge Verbindung zur Arbeiterklasse durch die gelegentliche Teilnahme an einem Brigadeabend als erfüllt ansahen, ging Dresen zeitweilig voll und ganz an die Basis der Industrieproduktion, meist in den Theaterferien, wenn andere sich an der Ostsee oder im sozialistischen Ausland erholten. Er floh seine künstlerisch-intellektuell ausgerichteten Lebensräume, um bei Erdarbeiten in der altmärkischen Wische, im Landmaschinenbau in Leipzig, an einem Ölbohrturm im mecklenburgischen Grimmen oder im Eisenhüttenkombinat Ost Erfahrungen in der unmittelbaren Arbeitswelt zu machen. Er ließ es sich nicht nehmen, als Gleichgestellter die gleiche stumpfsinnige körperliche Arbeit zu leisten wie die anderen, für ihn besonders zermürbend, weil ungewohnt. Obwohl es ihm sauer wurde, zwang er sich, abends die Erlebnisse des Tages aufzuschreiben. Umfangreiche Tagebücher und Hefte voll Notizen waren die Ernte, um derentwillen er wohl diese Härten auf sich genommen hat. Solche Erfahrungen flossen in seine Erzählungen ein, aber mit seinem Ziel, sie in einem umfassenden literarischen Werk zu verarbeiten, ist er gescheitert. Das ihm vorschwebende „Großepos“, in dem seine Beobachtungen aus der Praxis mit übergreifenden politischen Themen verknüpft werden sollten, hat er nicht realisieren können.
Am weitesten trieb er diese Absicht noch mit den Recherchen im Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) voran, ein Komplex, der ihn in seiner Größe und Problematik lange faszinierte. Die Arbeiten dort fanden unter anderen Vorzeichen statt als die zuvor. Da war er zwar ebenfalls auf eigenen Wunsch, aber auch im Auftrag des Deutschen Theaters unterwegs, um Stoff für ein Theaterstück zu sammeln. Zum ständigen Leid aller DDR-Theater und vor allem der Kulturbehörden waren die von der „führenden Partei“ geforderten Gegenwartsstücke nicht oder nur in ungenügender Qualität vorhanden. Also erhoffte sich das Deutsche Theater von Dresens Einsatz und vielfach bewiesener Energie ein spielbares Produktionsdrama, das er sowohl schreiben wie inszenieren könnte. Im EKO hat Dresen deshalb nicht nur am Hochofen gearbeitet; kraft eines offiziellen Auftrags konnte er auch mit den Leitern verschiedener Ebenen reden und im Werksarchiv stöbern, wo er sich sogar Zugang zu unter Verschluss gehaltenem Material verschaffte. Das Archiv erwies sich als eine Fundgrube. Er bekam Einblick in die streng geheim gehaltene Geschichte des Werkes, in den schicksalhaften Untergang der Kombinatsleiter, einer nach dem andern, als läge ein Fluch auf diesem Ort. Dresen erkor sich einen Ersten Parteisekretär zur exemplarischen Hauptfigur und gab ihm den sprechenden Namen König. Dessen Sturz wollte er gleichsam als Spiegelung des Endes der Stalinzeit und des Sturzes von Stalins Mythos schildern. Er unternahm Dutzende von Anläufen, das Material zu einer Erzählung oder gar zu einem Roman zu formen, ohne dass er zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen wäre. Von dem ursprünglich vorgesehenen Gegenwartsstück über das EKO gibt es keine Spur. Die Passagen, die offensichtlich den Kern der großen Geschichte bilden sollten, sind hier aus den verschiedenen überlieferten Aufzeichnungen unter dem Titel „Väterchen schlachten“ zusammengestellt worden.
In Eisenhüttenstadt freundete sich Dresen mit Achim Weller an, einem Rückkehrer aus Australien, der sich wegen dieses Umstands Joe rufen ließ. Der Hauch von Abenteuer, der den Vielgereisten umwehte, und sein tragisches Ende in der DDR waren für Dresen ein Faszinosum, das ihn wiederholt zu Geschichten und Gedichten anregte. Am Schluss der Erzählung „OMMP, der Mann der alles gesehen hatte“ wird Wellers Freitod in metaphorischer Überhöhung dargestellt.
Obwohl Dresen zu DDR-Zeiten vorgeworfen wurde, ein Theater zu machen, das die „Größe der Klassiker“ reduziere, spürte er weder als Regisseur noch als Schriftsteller den Drang, sein Medium zu revolutionieren. Er schöpfte aus klassischen Vorbildern: aus der Sprache der Lutherbibel, der Weimarer Klassik, Kleists und Karl Marx’ und des für ihn wichtigsten Erneuerers der Sprache, Bertolt Brecht. Mit der „Moderne“, wie sie ihm in der Zusammenarbeit mit dem Maler und Bühnenbildner Achim Freyer und der Bekanntschaft mit dem Dichter Heiner Müller früh auch persönlich begegnete, hat er sich wiederholt auseinandergesetzt, konnte sich aber letzten Endes nicht mit ihr identifizieren. Bei seiner Arbeit war es ihm nicht darum zu tun, traditionelle Formen auf den Kopf zu stellen oder zu dekonstruieren, sondern sie wirkungsvoll und lustvoll ins Heute zu übersetzen. Die Lust war für ihn ein unentbehrliches Moment des künstlerischen Schöpfungsakts wie auch des Kunstgenusses: Er scheute nichts so sehr wie Langeweile, ganz gleich, ob sie von alten oder von neuen Werken verursacht wurde. Dresen hatte eine erstaunliche Fähigkeit, Altes überraschend neu zu sehen und das auch präzise zu beschreiben, im Komischen den ernsten Kern und in den Werken der Klassik das menschlich Gegenwärtige und das sozial Beunruhigende zu entdecken. Das brachte ihm Ärger ein, machte aber ihm selbst und allen um ihn herum auch Spaß; man sah es seinen Inszenierungen an. Es war gar kein Zufall, dass der Faust I am Deutschen Theater 1968 von einem westdeutschen Kritiker als „der heiterste Faust, den es je gab“, bezeichnet werden konnte.
Die Achtung vor der Literatur war für ihn eine Bedingung der Achtung vor sich selber. Sein Theater war von der dramatischen Literatur bestimmt, wobei der Text eine Metamorphose ins Körperlich-Gestische erfahren musste. Er meinte zu Hamlet wie zu Faust, dass von ihrer Philosophie vom Publikum nur das verstanden werde, was von der Bühne herunterkommt: Das war für ihn die Aufgabe des Regisseurs und der Schauspieler. Vor jeder Inszenierung setzte sich Dresen minutiös mit dem jeweiligen Stück auseinander, um mit der Vorbereitung so weit zu kommen, dass er bei den Proben auf hohem Niveau improvisieren konnte. Er begriff ein Theaterstück auch als eine zu verlebendigende Erzählung und versuchte, in ihr jene Geschichte zu finden, die ihm für unsere Zeit schlüssig schien. Er fasste sie in seinem prägnanten Stil in einer Fabel zusammen (manchmal selbst ein kleines Kunstwerk), die Konzept und Struktur für die Regiearbeit vorgab. Im Lauf der Arbeit vergaß er das Konzept, „wie Maurer das Gerüst vergessen, wenn das Haus steht“.
Die Selbstdisziplin, die zu seiner schriftstellerischen Produktion erforderlich war, verweist auf seine preußisch-protestantische Ethik, die für erhebliche Komplikationen in seinem Privatleben verantwortlich war. Er hing dem lutherischen Traum von einem armen, würdevollen Leben nach und empfand – wohl anders als Luther – das sexuelle Verlangen als eine irritierende Störung eines solchen Lebens. In zahlreichen, mitunter drastischen Gedichten über Frauen und Liebe wird die Spannung zwischen Dresens asketischer Mentalität und der Bannkraft weiblicher Reize offenbar.
Für die, die ihn gekannt, auch lange gekannt haben, leuchten in seinen Gedichten und Prosatexten unbekannte, auch dunklere Farben seiner Persönlichkeit auf Offenbar haben ihn nicht nur die Mängel des Sozialismus und der Welt gequält, sondern sehr auch die eigenen. Der anscheinend immer klare Denker und Redner trug ein Gutteil Anarchisches und Chaotisches in sich herum. Der gelehrte Anarchist Faust von 1968, das war auch er. Der ehrsame Kohlhaas von 1976, der zum Gesetzesbrecher wird aus Rechtsgefühl, das war er auch. Den strengen Rationalisten faszinierte weiblich Wildes, den Regisseur des Deutschen Theaters Clärchens Ballhaus. Parallel zu seinem aufwendigen Kleist-Projekt 1975/76 inszenierte er einen Abend mit deutschen Volksliedern, bei dem auch die Sprüche eines dichtenden Bühnenarbeiters zu Gehör kamen. Als er seinen ambitioniertesten Plan, den Faust II am Deutschen Theater, aus politischen Gründen nicht realisieren konnte (sein EKO), stürzte er sich in das andere Extrem: mit einem kleinen Kollektiv begann er die Arbeit an einer Operette Wie einst im Mai (frei nach Walter Kollo) über die Leute vom alten Fischerkiez, der sozialistischen Hochhausbauten weichen musste. Goethes Menschheitsdichtung und eine Volkskomödie im Zille’schen Stadtmilieu, diese Pole lassen die Reichweite von Dresens Neugier und künstlerischem Gestaltungsdrang ahnen.
Dresens Standbein im Theater erlaubte ihm, beim Schreiben kompromisslos zu sein. Das wusste und schätzte er, und es war für ihn ein Zwang, sich nicht für einen Berufsweg als freier Schriftsteller zu entscheiden. Als ihm später der Druck zum Kompromiss auch in der Regiearbeit unerträglich wurde, hat er zunächst der DDR, dann dem Sprechtheater überhaupt den Rücken gekehrt.
Dresens letzte literarische Arbeit in der DDR war die Dramatisierung von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas für seine letzte Inszenierung am Deutschen Theater. Nach dem Weggang aus der DDR arbeitete er von 1977 bis 1981 als Regisseur am Burgtheater Wien, von 1981 bis 1985 als Direktor des Schauspiels Frankfurt, nach Enttäuschungen auch hier nur noch als freier Opernregisseur. Aus jener Zeit sind kaum noch unabhängige literarische Produktionen vorhanden. Zur Vorbereitung seiner Operninszenierungen schrieb er allerdings umfangreiche Abhandlungen, die man durchaus als literarisch betrachten kann. Nach 1990 wandte sich Dresen verstärkt der Essayistik zu und wurde zum begehrten Redner zu Fragen der Kultur und der Gesellschaft. Er griff sein altes Thema der Nation wieder auf und wandte sich mit scharfsinniger Kritik Problemen des Vereinigungsprozesses zu. Die aus Leben und Arbeiten in beiden deutschen Staaten gewonnenen Erfahrungen vermochte er so menschlich nahegehend wie historisch sachlich darzustellen. Im Berliner Ensemble hielt er 1998 die Festrede zu Brechts 100. Geburtstag; 1999 zu den Schiller-Tagen in Weimar den Vortrag „Dämmerung der Moderne“ und 2001 fand auch sein Sprechen über Deutschland in der Dresdener Reihe Zur Sache: Deutschland allgemeine Anerkennung. Es schien, als ob Adolf Dresen im Begriff wäre, sich im öffentlichen Leben ein neues, aufregendes, seinem Veränderungsdrang gemäßes Feld als Redner und Essayist zu erobern. Diesen Hoffnungen machte sein früher Tod ein Ende.

Maik Hamburger und Alexander Weigel, Nachwort

 

Editorische Notiz

Beim überwiegenden Teil der Texte handelt es sich um unveröffentlichtes Material aus dem Nachlass, einige stammen aus Privathand. Publiziert wurden nur wenige Gedichte und die Erzählung „Heiligs Liquidierung“ in: Wieviel Freiheit braucht die Kunst?, Theater der Zeit, Recherchen 3, Berlin 2000. Die Erzählung erschien außerdem in: Deutsche Demokratische Reise / Ein literarischer Reiseführer durch die DDR, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1989, und unter dem Titel „Heiligs Zirkus“ in: Freibeuter, 5/1980, unter dem Pseudonym Alexander Richter.
Die Prosatexte und Tagebuchauszüge wurden vorsichtig den geltenden Regeln der Grammatik und Interpunktion vor der Rechtschreibreform angepasst. Die im Text enthaltenen Ziffern wurden bis auf wenige Ausnahmen als Wörter geschrieben. Sprachliche Eigenheiten wurden in allen Texten belassen; Hervorhebungen in den Manuskripten wurden kursiv gesetzt.
Bei den Gedichten wurde, sofern es mehrere Vorlagen gibt, jeweils die aktuellste Fassung oder, wenn vorhanden, die von Adolf Dresen für eine Veröffentlichung vorgesehene Fassung gedruckt. Der Text folgt weitgehend der Vorlage.
Gedichte liegen als Einzeltexte vor und finden sich im Nachlass in den Gedichtsammlungen Mauerblümchen und Unlyrik, in einem schwarzen Heft ohne Titel sowie im Notizbuch „Herren der Geschichte“, das daneben Entwürfe zu Hundsgesetz enthält. Im Abschnitt „Grau blühen die Rosen“ veröffentlichen wir eine Sammlung von Gedichten, die Dresen 1981 abgeschrieben und nummeriert dem Verlag Klaus Wagenbach für eine anonyme Veröffentlichung vorgeschlagen hat, die nicht zustande kam.

 

 

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