Amanda Aizpuriete: Babylonischer Kiez

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Amanda Aizpuriete: Babylonischer Kiez

Aizpuriete-Babylonischer Kiez

Und dies das Erwachen. Ich hör: Die Glocke
schlägt fürs Gedicht das mich schrieb
in Zeiten des Rausches und Flugs,
die wie Nordlicht wabern in der Erinnerung –
so unfruchtbar kalt und so schön.
Wie selbst mich weiter schreiben, wo der Erde
Gewicht in den Knochen, jede Nacht
ihr gleich unter der Blindenbinde schwarzen Schlafs.
Auswendig sag ich die Verse dieses Lebens her,
verworren aber das Ende mit dem Erwachen.

 

 

 

Seit dem Erscheinen

ihres ersten Gedichtbandes Die Untiefen des Verrats (1993) auf Deutsch hat sich die lettische Lyrikerin Amanda Aizpuriete einen festen Platz in der zeitgenössischen europäischen Lyrik erschrieben. In ihren gänzlich unhermetischen Gedichten wird die Verzweiflung einer Generation sichtbar, die ihre Kindheit und Jugend in den 50er, 60er Jahren unter dem Sowjetsystem erlebte. In den neuen Gedichten, geschrieben nach dem Aufbruch in die staatliche Unabhängigkeit, hat sich der fatalistische Blick eher noch verstärkt, aber „die Verse kommen auf anderem Kurs“, wie die Dichterin schreibt, auf dem Kurs der schwierigen, unruhigen Liebe. Die Aura der Melancholie wird aufgehellt durch den Glauben an die Liebe – und an die Macht der Poesie. Babylonischer Kiez umfasst ca. 60 neue Gedichte in der Übertragung des Peter Huchel-Preisträgers Manfred Peter Hein.

Rowohlt Verlag, Ankündigung

 

Worte im Verstandesgeviert

Als 1993 der Band Die Untiefen des Verrats erschien, war die lettische Lyrikerin Amanda Aizpuriete eine Entdeckung. Eine Stimme war zu hören, die ihre Emotion mit harschen Imperativen bändigte:

Geh mit dem Schwamm über deinen Jubel,
kehr deine Slogans aufs Blech.

Man mochte sich an Ingeborg Bachmanns „Gestundete Zeit“ erinnert fühlen, an ihr „Fall ab, Herz, vom Baum der Zeit“.
Amanda Aizpuriete ist drei Jahrzehnte jünger als die Bachmann. 1956 in Jumala bei Riga geboren, arbeitete sie nach dem Studium am Moskauer Literaturinstitut als Rundfunkreporterin und Archäologin. Heute lebt sie als Übersetzerin in ihrer Heimatstadt.
Aizpuriete hat vor allem Lyrik übertragen: Achmatova, Brodskij, Mandelstam, Zwetajeva – und eben Bachmann. Ihr Deutsch befähigt sie, Interlinearversionen für die deutsche Fassung ihrer Gedichte herzustellen.
Der in Finnland lebende Lyriker Manfred Peter Hein – nach eigenem Zeugnis des Lettischen nicht kundig – hat mit ihr die Nachdichtungen erarbeitet. So auch den zweiten Band Laß mir das Meer und nun auch die neue Auswahl Babylonischer Kiez.
Diese zeigt freilich, wie sehr die Welt der Amanda Aizpuriete im Lauf der Jahre geschrumpft ist. Das großartige Debüt spielte mit dem Doppelsinn der Untiefen des Verrats: In die Beziehungen der Herzen spielte Zeitgeschichte mit hinein. Die Liebesgedichte von Laß mir das Meer faszinierten immerhin durch Emotion und Sarkasmus.
Der neue Band wirkt dagegen privatistisch. Er bietet vor allem Variationen der bekannten Motive. Selten findet sich die alte Kraft und illusionslose Härte:

Und wir tranken, tranken, einer des andern Säufer
bis zum lippen-, händezitternden Morgen.

Aus solch ekstatischer Desperation flüchtet die Autorin gern ins Kunstgewerbe. Aizpuriete phantasiert sich in eine Jugendstilwelt zurück, wo sie den Geliebten in die Fahne für einen einsamen Kriegszug stickt, doch keine „Heldenklinge“ sich zur Seite weiß. Dort bindet „irgendeine Göttin“ auf windiger Höhe die „aufgegangne Sandale“, dort deutet sie „Träume flachsblonder Mädchen im Siedlungskiez“ (was immer das sei) und spürt „Violenduft wie Duft der Jugend selbst um uns“. Babylon ist ziemlich fern.
Die Dichterin hat – wie sie selbst meint – „den Kopf voller altem Gedicht“ und findet „vielleicht darum alles so altertümlich“. Sie spricht liebevoll ironisch von ihren „Freiverslein“, nur geraten diese im Deutschen oft hölzern und manieriert. „Wie Glühlämpchen leuchten / Worte auf im Verstandesgeviert“, heißt es einmal. Was immer da aufgeht – das Licht der Poesie ist es nicht.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.4.2001

Hand und Schicksal, Liebe und Verrat

– Sprache der Verlassenheit. Die Wiederkehr der großen lettischen Dichterin Amanda Aizpuriete in ihrem neuen Gedichtband Babylonischer Kiez. –

Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte.

Mit diesem Diktum hat einst Paul Celan auf eine Einladung Hans Benders geantwortet, der ihn zur Mitwirkung an der Anthologie Mein Gedicht ist mein Messer (1960) anstiften wollte. Der Satz zielte auf die ehrwürdige Kategorie des poetischen „Handwerks“, deren Gültigkeit Celan zunehmend gefährdet sah. Doch durch die Verbindung der menschlichen Hand mit dem philosophisch-moralischen Begriff der „Wahrheit“ eröffnet die Sentenz von den „wahren Händen“ auch einen eigenen metaphysischen Raum, in dem die Poesie angesiedelt wird. „Wahre Hände“ sind in diesem Sinn auch existenzielle Körperzeichen, in die sich das Schicksal eingeschrieben hat. So stiften die Verse der lettischen Lyrikerin Amanda Aizpuriete eine innige Verbindung zwischen Hand und Schicksal. In gleich drei Gedichten ihres neuen Buches Babylonischer Kiez bleiben die Linien des Schicksals in die Hand „uneingeschrieben“. Denn es gibt keinen Leser mehr, der diese Linien deuten will; die Hände finden keinen Halt, keine Stütze mehr beim unerreichbaren Geliebten; sie stellen keine Einschreibfläche mehr dar, sondern bleiben „leer“, wie es in einem der drei Hand-Gedichte heißt:

So freie Hände hab ich, so dunkel leere, und
das fessellose Herz flüstert nichts Unnützes mehr.

Diese Schlussverse evozieren jenes tragische Lebensgefühl, das zur poetischen Signatur der Dichtung Amanda Aizpurietes geworden ist. Schon in ihrem grandiosen Lyrikband Die Untiefen des Verrats, der in einer knappen Auswahl ihre zwischen 1980 und 1990 in Lettland publizierten Gedichte präsentierte, spricht ja ein von Zweifeln, Ängsten und Gefühlen des „Ausweglosseins“ zerrissenes Ich, das sich seiner gefährdeten Existenz vergewissert. „Dies in Fetzen gehende Leben“ zu beschreiben, das war der letzte Rettungsanker im Leben der Dichterin und Übersetzerin, die durch den Kollaps des Sowjetsystems und die nachfolgenden ökonomischen Krisenjahre in den baltischen Staaten in fürchterliche Armut gestürzt war. In Riga hatte Amanda Aizpuriete in den neunziger Jahren am Rande des Existenzminimums gelebt. Ihre vier Kinder musste sie aus den kargen Honoraren versorgen, die man ihr für ihre glänzenden Nachdichtungen großer europäischer Dichter (Mandelstam, Kafka, Rilke, Bachmann…) zugestand.
Aber die „wahren Hände“ der Amanda Aizpuriete haben seither viele existenziell vibrierende, hoffnungslos melancholische, in ihrer Sprödigkeit zauberhafte Gedichte hervorgebracht, so dass man sich sehr wundern muss über die bislang verhaltene Neugier des deutschen Publikums. Als sie vor acht Jahren zum ersten Mal in Deutschland auftrat, eine vollkommen Unbekannte auf dem traditionsreichen internationalen Lyrikertreffen in Münster, da kamen die Ohrenzeugen ihrer Lesung aus dem Staunen nicht mehr heraus. In fast schamanischem Klageton trug die Dichterin ihre Verse auswendig vor, und es war, als folgte sie dem Diktat der Sprache selbst, die sich da in elegischer Melodie ihren Weg bahnte. Mittlerweile hat sie sich zwar in den kleinen Zirkeln der Lyrik-Besessenen etablieren können. Man lädt die von jüdischen und zigeunerischen Vorfahren abstammende Dichterin („Diese Dichter und Zigeunerinnen – die / wie immer voraussehn.“) zu dem oder anderen Literatur-Event ein, man verleiht ihr da und dort einen kleinen Förderpreis – ohne jedoch wirklich ihren literarischen Rang zu erkennen. Nachdem der Rowohlt Verlag als zweiten Gedichtband Aizpurietes 1996 ein sehr populistisch zugeschnittenes Werk mit allzu eingängigen, mitunter auch sentimentalen Liebesgedichten präsentierte (Lass mir das Meer), musste man um die weitere Präsenz und Ausstrahlungskraft der Dichterin fürchten.
In ihrem Band Babylonischer Kiez, der auch diesmal vom geistesverwandten Dichterkollegen Manfred Peter Hein übertragen worden ist, scheint sich nun die Tonlage der Dichterin erheblich verändert zu haben. In ihrer Motivik ist sich die Autorin zwar treu geblieben. Denn auch hier wird das Alphabet einer verratenen Liebe geschrieben, diktiert von einem in Einsamkeit und Alleinsein zurückgestoßenen Ich, das sich eine phantasiereiche Sprache der Trauer erschafft. In vielen Gedichten finden wir die Anrufungen des fernen Geliebten, der das Glück der Intimität verraten hat. Das Titelgedicht Babylonischer Kiez“ nimmt innerhalb dieser melancholischen Liebes- und Abschieds-Gedichte eine Sonderstellung ein. Der „babylonische Kiez“ meint nicht nur das Stimmengewirr einander fremd gewordener Sprachen in einem brüchigen Weltgebäude beziehungsweise „Turmgemäuer“. Vom Regen umspielt und morsch geworden sind hier auch die Fundamente der Liebe, unüberbrückbar sind die Sprachbarrieren, denen sich das Ich auf dem Weg zum geliebten Du gegenübersieht.
Die unendliche Geschichte von Liebe und Verrat übersetzt Aizpuriete in ihrem neuen Buch auch in antike Konstellationen, in Imaginationen vom Abstieg in die Unterwelt und Begegnungen im „Götzenhain“. Ein ums andere Mal wählt die Dichterin die Perspektive des Rollengedichts oder bedient sich historischer Kostümierungen. Auch das fünfteilige Gedicht „Stimmen aus einem ungeschriebenen Poem“ wählt eine poetische Maskerade: Hier geht es um das prekäre Liebesspiel zwischen einer Fürstin und einem Sänger beziehungsweise Dichter, dem aber auch hier die Aussichtslosigkeit eingeschrieben ist. Eins der antiken Maskenspiele endet denn auch mit der Aussicht auf den Tod. Der Dichter nutzt seine Lyra zum Spiel der Todesmelodie:

Die streunenden Götter verwandeln in Bäume und Wind sich,
wie wir alle. An eine Weinrede werd meine Laute ich hängen,
die lang noch tönt zum Tanz der Toten.

Was an diesem Gedicht in seiner deutschen Fassung irritiert, ist die grammatische Anomie der Pronomina „ich“ und „sich“. In diesem wie in vielen anderen Gedichten will nicht einleuchten, warum Manfred Peter Hein sich bei der Übertragung für derart schroffe Inversionen und nachgestellte Pronomina entschieden hat. Dieses Verfahren verleiht den Gedichten einen feierlichen Zug und eine steil-klassizistische Gebärde, die man von den bislang übersetzten Aizpuriete-Poemen nicht kannte. Kann sich die Tonlage dieser Dichterin so gravierend geändert haben, dass sie uns nun in einem ganz anderen stilistischen Gewand und einem derart hohen Ton entgegentritt? Hier möchte man gern erfahren, inwiefern der Wechsel der Tonlage in der Übersetzung mit dem lettischen Original korrespondiert. Das Buch verweigert indes jeden Kommentar; es wird nicht nur auf jede Information zum Text, sondern auch jedes biographisch oder poetologische Detail zur Autorin und zum Übersetzer verzichtet. Gewiss: Die Aufmerksamkeit soll einzig auf Klang und Gestalt der Gedichte gelenkt werden, unabhängig von jeder Sekundär-Prosa. Ein Nachwort des Übersetzers zu seiner Verfahrensweise wäre in diesem Fall jedoch angebracht. Dem ersten, von Manfred Peter Hein zusammengestellten Aizpuriete-Band hielt man noch vor, der Übersetzer akzentuiere die Poeme der Autorin zu stark in Richtung seiner eigenen sprachmagischen Dichtung. Diesmal kapriziert sich Hein auf den Einsatz von Wort-Abbreviaturen, Vokal-Elisionen und eben Inversionen, als wolle er Aizpurietes Gedichten einen Hölderlin-Ton implantieren. Andererseits bleibt er mitunter in ungelenken umgangssprachlichen Fügungen stecken, etwa in dem hilflos-hässlichen Verb „langen“:

Ausgebrannte Augenhöhlen
langen nach meinem Leichtsinnsblick.

Oder, in anderem Kontext und anderer Bedeutung:

Wird der Goldvorrat langen?

Doch bei aller Skepsis gegenüber dem Eigensinn der Übersetzung gerät man auch diesmal wieder in den Bann der Aizpuriete-Gedichte. Man kann sich dieser einsamen Sprache der Verlassenheit auch an ihren fragwürdigsten, gefühlsbeseelten Stellen nicht entziehen:

Lass eine weiße Seite mir
in deinem Tagebuch,
dass ich mich eintrag
wie Schatten ins Licht.

Schreibst du kein Tagebuch mehr
lass eine Scheibe
im Fenster deines Zimmers frei.
Blick nicht hinaus bis zur
Stunde da ich vorbeigeh.

Ist kein Fenster mehr da,
rück beiseite und lass
den kleinen Rand mir in deinem Grab,
dass ich dort Wurzeln schlage.
Diese Erde hält mich nicht mehr.

Michael Braun, der Freitag, 13.10.2000

Lettisches Babylon der Liebe

Spätestens seit dem Erscheinen ihrer beiden Gedichtbände Die Untiefen des Verrats (1993) und Lass mir das Meer (1996) ist die lettische Dichterin Amanda Aizpuriete (geb. 1956) auch unter deutschsprachigen Lyrikliebhabern mehr als ein Geheimtipp. Mit ihrem elegischen Ton, der gleichzeitig frei von allem Pathos ist, hat sie in wenigen Jahren die Aufmerksamkeit der literarischen Öffentlichkeit auf sich gezogen. Als dritter Lyrikband liegt nun Babylonischer Kiez auf Deutsch vor. Die Titelmetapher verweist auf Aizpurietes zentrales Thema: die problematische Sprachwerdung der Liebe. Der Babylonische Kiez stellt jenen Bezirk im Leben zweier Liebender dar, in dem die gegenseitige Verständigung (und damit auch das Verständnis) radikalen Restriktionen ausgesetzt ist:

Sieben Wörter versteh ich in deiner Sprache.

Liebe heisst für Aizpuriete immer auch Trennung – das allein zu verbringende Leben fasst sie beschwichtigend als „kurze Ewigkeit“, in der das „fessellose Herz nichts Unnützes mehr flüstert“.
Solche Selbsttröstung muss man jedoch ironisch lesen: Der Verlust des Flüsterns wiegt schwerer als die Einsicht in die Nutzlosigkeit der Liebessprache. Das hier angewendete Verfahren ist typisch für Aizpuriete: Die Tragik stiehlt sich durch die Hintertür in ihre Lyrik hinein. Ein anderes Gedicht treibt die Nichtverfügbarkeit des Sagbaren als poetisches Prinzip auf die Spitze: Die Dichterin erfährt sich nicht als Herrin über ihre Texte. Sie wird im Gegenteil vom Gedicht geschrieben – einem Gedicht überdies, dessen Sinn sie nicht vollständig zu entziffern vermag. Der Alltag gaukelt ihr zwar eine gewisse Ordnung vor, allerdings bleibt der herannahende Tod ein Rätsel:

Auswendig sag ich die Verse dieses Lebens her, verworren aber das Ende mit dem Erwachen.

Aizpuriete bestätigt mit ihrem neuen Gedichtband den eminenten Rang, den sie in der europäischen Lyrikszene bereits einnimmt.

U. Sm., Neue Zürcher Zeitung, 21.7.2001

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer
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