Blaise Cendrars: Am Mikrofon

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Blaise Cendrars: Am Mikrofon

Cendrars-Am Mikrofon

ERSTES GESPRÄCH

Michel Manoll: Hatte Ihr Vater nicht ein Hotel in Heliopolis aufgemacht, eines der ersten Palace-Hotels?

Blaise Cendrars: Richtig, er hatte es entworfen und um 1890 bauen lassen…

Manoll: Und Sie machten sich als Kind einen Spass daraus, die Wasserhähne in den Badezimmern aufzudrehen, um das mit kleinen Schlangen und Eidechsen vermischte Wasser des Nils herausfliessen zu sehen.

Cendrars: Das Hotel blieb zwanzig Jahre leer. Die Gäste blieben aus. Niemand machte in Ägypten Urlaub. Der organisierte Tourismus war zu jener Zeit noch nicht erfunden.

Manoll: Sie sind oft umgezogen…

Cendrars: Das kann man wohl sagen…

Manoll: … von Ägypten nach Italien, von Italien aus nach Paris, anschliessend nach London, haben einmal in prächtigen Villen gewohnt, dann wieder in ärmlichen Wohnungen. Ihr Vater war ein unruhiger Geist.

Cendrars: Mein Vater war Erfinder, müssen Sie wissen. Zum Wesen des Erfinders gehört das Erfinden. Mein Vater erfand die erstaunlichsten Dinge: Kristallbuchstaben für Schaufensterauslagen, die ersten Leuchtreklamen, den römischen Wagen, der am Boulevard des Italiens über die Fassade des Gebäudes an der Ecke Rue Taitbout/Rue Lafitte lief, Spielautomaten… Er interessierte sich für alles, er sprudelte über vor Ideen. Er war ein eigenwilliger und rastloser Mensch. Alle Probleme faszinierten ihn. Er war ursprünglich Mathematiklehrer gewesen. Er war sehr fantasievoll. Bei uns zu Hause waren alle Türen mit einer besonderen Vorrichtung versehen, damit man sie mit den Füssen öffnen konnte; ich ertappe mich heute noch dabei, wie ich eine Tür mit den Füssen öffnen will. Er war seiner Zeit weit voraus, doch er setzte alles daran, seine Ideen tatsächlich zu verwirklichen. Er erfand den ersten automatischen Webstuhl zum Knüpfen von Smyrna-Teppichen mitsamt dem „Stop“, einem Haarbüschel, das die Arbeiter am Abend an die Knüpffäden binden, um die Stelle zu markieren, wo sie am nächsten Tag mit der Arbeit fortfahren müssen. Mit dieser einen Erfindung hätte er ein Vermögen machen können. Doch kaum hatte Papa eine Erfindung gemacht, ging ihm bereits eine neue im Kopf herum, so dass er die vorangehende gar nicht richtig auswertete, und er hatte nichts Eiligeres zu tun, als möglichst schnell seine Patente zu verkaufen und seine Anteile abzustossen, um sich neue Geldmittel für die Entwicklung der nächsten Erfindung zu beschaffen. Was dazu führte, dass es in seinem Leben ständig bergauf und bergab ging, worunter wir zu Hause zu leiden hatten, ohne jemals genau zu wissen warum. Also flüchtete ich mich zu Mamas grosser Verzweiflung je länger, je häufiger auf die Strasse.

Manoll: Würde man Ihr Wappen erstellen, lieber Blaise Cendrars, müsste es eine Weltkarte und ein aufgeschlagenes Buch enthalten, was alles über Ihre unersättliche Neugierde und Ihre Liebe zu uns armen Sterblichen aussagen würde: Gefühle, die nicht einzig auf Intuition beruhen, sondern ebensosehr auf Ihr Einssein mit der Welt…

Cendrars: Mein Wappen? Das existiert doch und datiert aus dem 16. Jahrhundert. Es ist das Wappen meiner Familie väterlicherseits. Aber es ist nicht so kompliziert wie das von Ihnen entworfene, mein lieber Manoll. Es zeigt ganz einfach eine gespaltene Klaue in einem Wappenschild. Ich weiss nicht, was das bedeutet, und nehme an, dass es sich eher auf die Kühe als auf die Menschen bezieht. Jedenfalls handelt es sich ganz sicher nicht um ein Adelsinsigne. Meine Vorfahren zeichneten damit wohl mit dem Brandeisen „ihre Kuh“ – pecus = pecunia –, wie ich in Brasilien Coronel Luís Logrão es habe tun sehen, der sein Vieh – 30.000 Häupter Horntiere! – mit einem Doppel-L markierte, das erste L stand auf dem Kopf wie das Monogramm des Königs, das man hundertfach an der Fassade des Louvre entziffern kann: ein „LL“ in einem Lorbeerkranz.

Manoll: Wenn man in Ihren Büchern blättert, stösst man immer wieder auf Sätze wie: „Ich las viel, las ganze Nächte lang und auch am Tag.“ Sie haben viel gelesen in Ihrem Leben.

Cendrars: Enorm viel gelesen.

Manoll: Enorm…

Cendrars: Lesen ist meine Leidenschaft.

Manoll: Überall und in allen Situationen?

Cendrars: Überall und in allen Situationen und egal was. Ich verschlang alles, was mir in die Hände fiel.

Manoll: Wie viele Sprachen sprechen Sie?

Cendrars: Ich weiss nicht: Französisch, Englisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch… Und radebreche zehn, zwölf andere. Aber schreiben tue ich nur französisch.

Manoll: Und wie sind Ihre Arbeitsgewohnheiten? Sie haben irgendwo gesagt, Sie würden bei Tagesanbruch aufstehen und mehrere Stunden arbeiten.

Cendrars: Ich vergesse nie, dass die Arbeit ein Fluch ist! Daher habe ich mich lieber erst gar nicht daran gewöhnt. Ich habe allerdings kürzlich versucht, mich den anderen anzupassen – jetzt, da ich die fünfzig überschritten habe – und regelmässig von dann bis dann zu arbeiten, um nacheinander vier Schmöker aufs Papier zu bringen. Was ich auch geschafft habe. Und nun reicht es mir. Ich habe keine bestimmte Technik. Ich habe mir versuchsweise eine zugelegt, die sich bestens bewährt hat, zugegeben, was aber nicht heissen will, dass ich mich bis an mein Lebensende darauf versteife. Es gibt andere Dinge zu tun im Leben, als Bücher zu schreiben.

Manoll: Mag sein, was aber nichts daran ändert, dass Sie ein unglaublich fleissiger Mensch sind.

Cendrars: Unglaublich seid Ihr! Ihr verlangt alle, dass man pausenlos Bücher schreibt. Wozu führt das? frage ich Sie.

Manoll: Es geht nicht darum…

Cendrars: Sehen Sie sich doch in der Nationalbibliothek um, und Sie werden sehen, wozu das führt. Eine schöne Bescherung, was? Ein Friedhof! Ein überschwemmter Kontinent. Millionen den Würmern preisgegebene Bücher. Niemand weiss mehr, wohin damit. Bücher, die keiner jemals verlangt. Terra incognita. Was ziemlich deprimierend ist.

Manoll: Sagen Sie, Blaise, erinnern Sie sich an die Zeit, als Sie Stunden und Tage, manchmal sogar Monate in der Mazarine zubrachten und von Hand Ritterromane abschrieben…

Cendrars: Um hundert Franc je Inkunabel zu verdienen! Und ob ich mich erinnere. Ich erinnere mich auch…

Manoll: Sie taten das im Auftrag von Guillaume Apollinaire!

Cendrars: Im Auftrag von Apollinaire, der den Auftrag von P.-P. P. hatte, der wiederum den Auftrag von Payot, dem Verleger, bekommen hatte. Meines Wissens ist nur ein einziger jener Artus-Romane erschienen: Parsifal, der Gallier. In der Reihe Bibliothèque Bleue. Aber ich habe Apollinaire ein halbes Dutzend druckfertige Manuskripte abgeliefert: Lanzelot vom See, Melusine

Manoll: Es war jedenfalls Apollinaire, der seinen Namen auf den Umschlag setzte!

Cendrars: Ja, Apollinaire. Aber auch P.-P. P., Pierre-Paul Plan, ein griesgrämiger Kerl.

Manoll: Und Apollinaire reichte den Hundertfrancschein an Sie weiter?

Cendrars: Apollinaire, der ehrlich mit mir teilte, was P.-P. P. ihm übergab. Ich nehme das zumindest an.

Manoll: Die Lektüre ist für Sie nicht ein Mittel, um zu reisen oder sich in der Zeit oder im Raum entführen zu lassen, sondern – wie Sie sagen – um mühelos in die Haut einer Person zu schlüpfen.

Cendrars: Nein, die Lektüre war für mich eine Droge.

Manoll: Darum warnen Sie…

Cendrars: Ich betäubte mich mit Druckerschwärze.

Manoll: Sie warnen aber auch vor den Gefahren des Lesens.

Cendrars: Wovor warne ich?

Manoll: Vor den Gefahren des Lesens, und Sie sagen, dass Lesen die Sicht der Dinge entstellt: dass es den Leser in die Irre führt.

Cendrars: Ach so! Sicher! Das betrifft Menschen – und es gibt davon zahllose –, die sich vorstellen, die Reinkarnation der Romanfigur zu sein, und daher allen krankhaften Auswirkungen des Lesens ausgeliefert sind. Wie ein junger Medizinstudent, der sich ängstlich auskultiert und sich selber eine Diagnose stellt – wie man sich selber ein Horoskop stellt – und der plötzlich glaubt, an allen Krankheiten zu leiden, die er eben in den Büchern studiert. Ein klassischer Fall.

Manoll: Sie waren einst auch Medizinstudent, oder?

Cendrars: Ja, hol’s der Teufel, und ich bereue es nicht! Es ist sehr spannend, Medizinstudent zu sein. Das Medizinstudium könnte eine lebenslängliche Beschäftigung sein, denn man hat nie genug über den Menschen, das unbekannte Wesen, erfahren, hat ihn nie gründlich genug studiert. Aber da sind die Fakultät, die Prüfungen… lauter langweiliges Zeug.

Manoll: Sie haben vorhin von der vergiftenden Wirkung der Lektüre gesprochen; Sie unterscheiden unter den Lesesüchtigen verschiedene Typen: Chadenat zum Beispiel, den berühmten Buchhändler am Quai des Grands-Augustins, dessen Bibliothek dieser Tage im Hôtel Drouot in alle Winde verstreut wird und deren Verkauf bereits an die zwanzig Millionen erzielt hat, Sie bezeichnen Chadenat als den reinen Leser.

Cendrars: Ja, er ist der Typus des Lesers aus Leidenschaft. Ein Mann, der seinem Laster verfallen war. Ein Mann, der Buchhändler geworden war; ein Mann, der eine Buchhandlung mit einem unglaublichen Bestand an seltenen und aussergewöhnlichen, ja auf der Welt einzigartigen Büchern zusammengetragen hatte, weil er von seinem Laster besessen war. Weil er ein besessener Sammler war. Alle Sammler sind von ihrem Laster besessen. Lesen Sie bei Freud nach. Er zieht entsprechende Schlüsse daraus.

Manoll: Laut Ihnen war Rémy de Gourmont Opfer eines moralischen Taumels; ein Mann, der las, um Leere um sich herum zu schaffen.

Cendrars: Genau. Ja…

Manoll: Und Sie selber, zählen Sie sich…

Cendrars: Ja, er war ein Wörterassoziierer, aber ein Gedankendissoziierer.

Manoll: Aber Sie selber…

Cendrars: Er hatte sogar eine Zeitschrift gegründet. Wie hiess sie schon wieder? Richtig: Revue de la dissociation des idées. Was, zugegeben, originell ist.

Manoll: Und Sie selber zählen sich zu den besessenen Lesern, so wie laut Ihnen Constantin Guys vom Zeichnen besessen war.

Cendrars: Oder Goya. Es gab eine Zeit in meinem Leben, vor allem in meinen Jugendjahren, wo ich tatsächlich süchtig war nach Lektüre.

Manoll: Sie haben gesagt, ein Buch sei ein Zerrspiegel, eine ideale Projektion.

Cendrars: Nun ja, es gibt verschiedene Theorien. Jede Schule hat ihre Ästhetik. War es nicht der Naturalismus, der behauptete, ein Roman sei ein am Strassenrand flanierender Spiegel? Worauf die Impressionisten entgegneten, ein Roman sei eher ein am Ufer eines Kanals oder eines Flusses flanierender Spiegel. Aber nehmen Sie Baudelaires Glaser, der seine Ware in den Pariser Höfen ausrief: schlichte Glasscheiben, doch viel zerbrechlicher und wunderbarer und subtiler als die Spiegel, ja als die Zauberspiegel.

Manoll: Sie können Ihre Lesesucht nicht verleugnen. Sie schreiben in einem Ihrer Bücher, dass Sie während einer besonders kümmerlichen Zeit Ihres Lebens Kohlentrimmer im Hôtel des Wagons-Lits in Peking waren und zum Anfeuern die Heizkammer mit alten Ausgaben des Mercure de France vollstopften, die Sie aber vorher von A bis Z lasen.

Cendrars: Die ich las, bevor ich sie verbrannte. Wie es andere mit den Zeitungen an einem bestimmten Örtchen tun: Sie lesen sie, bevor sie sie benützen.

Manoll: Wenn ich die schweren gestapelten Bücherkisten in Ihrer derzeitigen Pariser Wohnung sehe, erinnert mich das an die Kisten, die Sie auf Ihren drei Reisen durch Persien, China und Russland mitschleppten und die lauter seltene Bücher enthielten.

Cendrars: Das war die grosse Zeit meines Leserausches; ich reiste mit einer Karawane.

Manoll: Sie sind immer mit Bücherkisten in der Welt herumgereist.

Cendrars: Nein-nein-nein-nein. Diese Zeiten sind vorbei. Es geht nicht mehr. Nehmen Sie eine Bücherkiste mit ins Flugzeug, und Sie werden sehen, was Sie das kostet! Die paar Dutzend Kisten Bücher, die Sie vor ein paar Tagen bei mir gesehen haben, entsprechen ebenso vielen Exiljahren fern von Paris; es sind mit Widmungen versehene Bücher, die mir während der Besetzung von Freunden zugeschickt wurden. Es ist keine Bibliothek; es ist sogar das Gegenteil einer Bibliothek. Meine Bibliothek haben die Boches ausgeräumt.

Manoll: Und Ihre Bücher, nehmen Sie sie nicht überallhin mit?

Cendrars: Nein, ausser vielleicht ein oder zwei Exemplare, die ich für zukünftige oder bereits in Angriff genommene Arbeiten brauche. Das ist alles. Bücher sind zu sperrig.

Manoll: Wenden wir uns wieder Ihrer Biographie zu, Ihrem endgültigen Bruch mit dem gutbürgerlichen Leben, den Sie eines Abends in Neuchâtel, in der Schweiz, vollzogen. 1903, wenn ich mich richtig erinnere. Sie waren damals sechzehn. Hatten Sie Ihren Fluchtplan reiflich vorbereitet?

Cendrars: Was vorbereitet?

Manoll: Ihre Flucht.

Cendrars: Nie im Leben.

Manoll: Sie hatten sie nicht geplant?

Cendrars: Ich hatte überhaupt nichts geplant. Eines schönen Sonntags bin ich spätnachmittags einfach abgehauen, weil ich die Schnauze voll hatte.

Manoll: Sie ertrugen die Fesseln nicht mehr, die Ihr Vater Ihrem Freiheitsdrang anlegte.

Cendrars: Nie im Leben. Armer Papa, er war der toleranteste Mensch, den man sich vorstellen kann.

Manoll: Wäre Ihre Mutter noch am Leben gewesen, die eine bezaubernde, geheimnisvolle Frau war, hätten Sie vielleicht…

Cendrars: Wie kommen Sie da drauf? Meine Mutter lebte doch noch! Wenn ich mir jemals etwas vorgeworfen habe, so ist es das.

Manoll: Sie sind also einfach abgehauen, ohne festes Ziel.

Cendrars: Ich bin abgehauen, weil ich Lust hatte abzuhauen und weil die Gelegenheit sich ergab.

Manoll: Ohne festes Ziel und ohne Hoffnung auf Rückkehr?

Cendrars: Wie soll ich das wissen? Ich ging in Richtung Osten, weil der erste Zug, der im Bahnhof vorbeifuhr, mich nach Osten führte. Wäre der Zug nach Westen gefahren, wäre ich in Lissabon auf ein Schiff umgestiegen und wäre, anstatt durch Asien, durch Amerika gereist.

Manoll: Ihre Flucht von zu Hause ist ein wichtiger Markstein in Ihrem Leben; von jenem Moment an sollte es sich in zwei Abschnitte teilen: Ihre Abenteuer im Orient und Ihre Abenteuer im Okzident. Von jenem Tag an haben Sie nie mehr ein festes Dach über dem Kopf gehabt.

Cendrars: Nun ja, wenn man Geschichten erzählt, sagt man halt solche Dinge…

Manoll: Jedenfalls…

Cendrars: … um etwas Ordnung ins eigene Leben zu bringen. Mein Leben ist nie in zwei Teile geschnitten worden. Das wäre zu einfach, wenn jeder sein Leben in zwei, in vier, in acht, in zwölf, in sechzehn Teile schneiden könnte.

Manoll: Jedenfalls steht fest, dass weder der Dämon des Fernwehs noch eine sentimentale Krise Sie zur Flucht bewogen haben…

Cendrars: Keinerlei sentimentale Krise.

Manoll: Auch kein literarischer Einfluss?

Cendrars: Nein.

Manoll: Sie spürten den Drang, ein freier Mensch zu sein, das heisst, die Fesseln zu sprengen oder alle Brücken abzubrechen.

Cendrars: Mag sein. Ich glaube jedoch nicht an solche Dinge…

Manoll: Sie haben…

Cendrars: Ich wollte weg! Ich wollte abhauen wie ein Junge, dem die Schule zum Hals heraushängt und der abhauen will. Ich war an jenem Tag zur Strafe eingesperrt worden, also bin ich zum Fenster hinausgestiegen. Wäre die Tür unverschlossen gewesen, wäre ich zur Tür hinausgegangen, so einfach ist das.

Manoll: Sie liebten den Kitzel der Gefahr.

Cendrars: Keine Ahnung. Wie hätte ich wissen sollen, was mich im Leben erwartete?

Manoll: Nicht von ungefähr haben Sie einem Ihrer Bücher den Titel La Vie dangereuse gegeben – Das gefährliche Leben.

Cendrars: Ja, fünfzig Jahre später. Aber es handelt nicht von meinem Leben. Ich glaube sogar, es ist eines der wenigen Bücher, in dem ich kaum über mich selber schreibe.

Manoll: Jedenfalls schreiben Sie in diesem Buch, das Schreiben widerspreche gänzlich Ihrem Temperament.

Cendrars: Richtig. Ich habe die Lust an der Weite entdeckt, am Reisen. Es ist mir zuwider, eingesperrt zu sein.

Manoll: In einer Éloge de la vie dangereuse – einem Lob des gefährlichen Lebens – haben Sie einen Satz geschrieben, der, meiner Ansicht nach, Ihre Einstellung genau auf den Punkt bringt: Das Leben ist gefährlich, und wer handelt, der muss bis ans Ende seines Tuns gehen, ohne sich zu beklagen.

Cendrars: Genau so ist es. Doch nicht ich habe das gesagt; ich wiederhole bloss getreulich die Aussage eines Gefangenen, den ich einmal in einem Gefängnis im Innern Brasiliens besuchte, in Tiradentes, der Stadt der Zähnezieher.

Manoll: Febrônio?

Cendrars: Nein, nein, nicht Febrônio. Indio Febrônio do Brasil ist ein lebenslänglich in einem manicómio in Rio eingesperrter Neger, denn Brasilien kennt die Todesstrafe nicht. Jener Febrônio, dessen Satz ich wiedergebe, war ein Weisser. Ein Holländer-Brasilianer, ein Bahnhofsvorsteher, der seinem Rivalen mit einem Messer die Brust aufgeschlitzt hatte, um ihm das Herz auszureissen und es – roh! – genüsslich zu verspeisen. Darum sagt er, man müsse bis ans Ende seines Tuns gehen, ohne sich zu beklagen. Er beklagte sich nicht. Als ich ihn besuchte, war er schon fünfundzwanzig Jahre eingesperrt. Ich fragte ihn: „Wenn man Sie heute entlassen würde, würden Sie es wieder tun?“ – „Ich würde es wieder tun“, antwortete er mit einem müden, geniesserisch-morbiden Lächeln.
Bis zu jenem Tag hatte ich geglaubt, die Gefängnisse wären zu etwas nütze; durch seine Antwort ist der Beweis erbracht, dass sie überhaupt nichts nützen, man kann sie daher ruhig niederreissen. Was einzig zählt, ist die Seele des Menschen. Mauern und Fesseln sind Schrott.

Manoll: Stimmt es, Cendrars, dass Sie auf Walfang gegangen sind? Auch wenn Sie selber vielleicht kein Walfänger waren: In Dan Yack kommt einer vor, der sich bestialisch lustvoll dem Walfang hingibt.

Cendrars: Damit wären wir bei Ihrem Dan Yack angelangt, der Ihnen so sehr am Herzen liegt.

Manoll: Nicht unbedingt…

Cendrars: Geben Sie’s ruhig zu. Aber ich war damals in die Tochter des Walfangkönigs verliebt, also bekam ich dank jenem Mädchen Gelegenheit, mit aufs Schiff zu gehen.

Manoll: Eine Amerikanerin, oder?

Cendrars: Seit Ende des Ersten Weltkrieges, seit über dreissig Jahren also, sind die Walfangkönige Norweger.

Manoll: Ach so! Eine Norwegerin also. Dann war jenes Mädchen eine stramme Blondine mit dicken Zöpfen.

Cendrars: Überhaupt nicht, sie war eine Nordländerin vom dunklen Typus. Nach den Basken – die sich bereits seit dem Spätmittelalter dem Walfang widmeten und die sich jedes Jahr während der Fangzeit auf Spitzbergen niederliessen, um ihre Beute auf dem Festland zu schmelzen und zu verbrennen – folgten die französischen Asse, deren Fischzüge oft zwei oder drei Jahre dauerten und die während des ganzen 18. Jahrhunderts bis 1820 die Wale in allen Weltmeeren jagten, bis sie schliesslich durch die amerikanischen Flottillen aus Norfolk, Virginia, abgelöst wurden. Heutzutage sind es vor allem die Norweger, die Walfang betreiben. Die Schiffe sind mit einer Kanone ausgerüstet; sie jagen die Wale mit der Kanone; sie haben gewaltige Zerstörungen angestellt und harpunieren sogar die Muttertiere, so dass sie heute gezwungen sind, ihre Beute in den südlichen Eismeeren zu suchen. Ihr Operationszentrum ist der Hafen der Deception-Insel, wo ihre Fabrikschiffe ankern, die dank einer hochmodernen technischen Ausrüstung die Wale an Ort und Stelle zermalmen und verarbeiten. Es bleiben sozusagen keine Abfälle übrig.

Manoll: Die Anzahl der jährlich gefangenen Wale ist enorm. Man hat mir Zahlen genannt…

Cendrars: Ich verfüge über keine Zahlen.

Manoll: Achtunddreissigtausend Wale!

Cendrars: Ich verfüge über keine Zahlen, aber ich glaube, Sie übertreiben. Ich schätze, dass je Saison durchschnittlich fünfzehntausend Wale gefangen werden. So oder so ist es eine Katastrophe, denn die Wale sind vom Aussterben bedroht.
Man findet keine hundertfünfundzwanzig Meter langen Muttertiere mehr wie jene, die Buffon mit der Höhe von Notre-Dame in Paris vergleicht: eine Walkuh, die um etliches länger war als die Türme der Kathedrale hoch. Wenn man heute einen Wal von zwanzig, allerhöchstens fünfundzwanzig Metern fängt, ist es ein Baby. Das Walfischjunge hat die für sein Wachstum erforderliche Zeit nicht mehr, und auch nicht den adäquaten Raum. Wale werden uralt. Bis ein Wal ganz ausgewachsen ist, braucht es zehn Jahrhunderte. Doch die Wale werden seit tausend Jahren derart gehetzt, dass sie sich an schwer zugängliche Stellen geflüchtet haben, in die Meere um den Südpol zum Beispiel, wo die Norweger sie mit ihren Kanonen verfolgen und selbst den Finnwal harpunieren, den Buckelwal, den Hechtwal und andere Balaenopteridae, lauter Gelumpe, das früher auf dem Meeresgrund versenkt wurde.

Manoll: Lesen Sie immer noch die Bücher von Kapitän Lacroix?

Cendrars: Ich habe sie alle gelesen.

Manoll: Wer ist dieser Kapitän Lacroix?

Cendrars: Ein alter Matrose, und seine Bücher sind ein Genuss. Ich habe leider nie das Vergnügen gehabt, ihn persönlich kennenzulernen. Ich habe ihn in Nantes gesucht, in Saint-Nazaire… Man hat mir gesagt, er sei gegen achtzig und habe nicht im Sinn abzudanken. Weil er nicht mehr zur See kann, ist er Versicherungskaufmann geworden, Seeversicherer, und er soll sich nicht davon abhalten lassen, in seinen Taucheranzug zu steigen, um sich de visu von den Schäden an den Schiffsrümpfen zu vergewissern. Bewundernswürdig, in seinem Alter.

Manoll: In der Tat.

Cendrars: Vermutlich sind ihm die Winterabende am Kaminfeuer lang geworden, wenn der Wind vom Meer her über sein Dorf in der Loire-Inférieure hinwegfegt und sich im Schornstein verfängt, und ich nehme an, dass der alte Kapitän, der die sieben Weltmeere an Bord aller möglichen und unmöglichen Schiffstypen befahren hat, zum Zeitvertreib angefangen hat, Bücher zu schreiben. Dicke Bücher, klar aufgebaut und mit einer soliden Dokumentation untermauert, die manchmal etwas zu umfangreich ist, aber reich mit bisher unveröffentlichten Dokumenten gespickt, daher nie langweilig; der alte Seemann fügt sogar Reproduktionen von Ansichtskarten und Fotos von fröhlichen Landgängen aus seinen jungen Jahren ein, was seine Berichte nur noch spannender macht, und er erzählt frisch von der Leber weg von seinen Erfahrungen und Erlebnissen und von allem, was er auf See gelernt hat, und schildert alles, was er vom Kap Hoorn bis zu den chinesischen Meeren, von Tasmanien bis Ushant gesehen hat, erzählt vom Wind, von den Leuchttürmen, den Strömungen, den Klippen, den Stürmen, den Besatzungen, den Schiffahrtslinien, den Schiffbrüchen, den Fischen und Vögeln, den Himmelserscheinungen und Schiffskatastrophen, von der Geschichte der Seefahrt, den Bräuchen, den Seefahrernationen, den Seefahrern, erzählt tausend bekannte oder dramatische Anekdoten, sein ganzes Leben eines rechtschaffenen Mannes, das vom Wogen des Meeres getragen und von seiner ungeteilten Liebe zu den Schiffen beseelt ist. Gewiss, es ist nicht das Werk eines Literaten. Seine Feder ist ein Enterhaken, sie nimmt von Seite zu Seite von einem Besitz. Und es sind zehn dicke Bände! Alle äusserst ergreifend und äusserst schlicht. Kurz: Sie sind wunderbar! Man berührt mit dem Finger die Weltkugel.

Manoll: Können Sie mir von den vielen Büchern am Rand der Literatur, Ihrer Lieblingslektüre, noch andere nennen?

Cendrars: Genügt Ihnen Kapitän Lacroix denn nicht? Es lohnt sich, seine Bücher zu lesen. Sie werden sehen.

Manoll: Bestimmt. Aber nochmals: Was haben Sie seither entdeckt? Was lesen Sie im Augenblick?

Cendrars: Meine letzte Entdeckung ist das grosse Wörterbuch der Zollverwaltung, das wir einer Verordnung von Vincent Auriol verdanken, damals Finanzminister, ein dicker Schmöker, den ich gerade büffle. Es trägt den Titel Répertoire général du tarif – Allgemeiner Zolltarif – und ist 1937 erschienen. Zwei Bände in folio-4°. Gewicht: 5 Kilogramm. Ich schleppe es überall mit mir herum, denn ich werde es nächstens brauchen, wenn ich anfange, La Carissima zu schreiben.

Manoll: La Carissima?

Cendrars: Das mystische Leben der heiligen Maria Magdalena, der einzigen Frau, derentwegen Christus geweint hat.

Manoll: Und Sie brauchen dafür den Zolltarif?

Cendrars: Es ist eine Frage der Sprache, mein Lieber. Das halte ich seit ein paar Jahren so: Jedesmal, wenn ich mich mit der Absicht trage, ein Buch zu schreiben, stelle ich zuerst das entsprechende Vokabular zusammen. Für L’Homme foudroyé zum Beispiel hatte ich eine vorher erstellte Liste von dreitausend Wörtern zur Hand, die ich alle verwendet habe. Wodurch ich viel Zeit gespart habe und was meiner Arbeit eine gewisse Leichtfüssigkeit verlieh. Es war das erste Mal, dass ich nach diesem System vorging. Ich weiss nicht, wie ich auf diesen Gedanken kam.

Manoll: Ein allerdings ungewöhnliches Vorgehen.

Cendrars: Es ist eine Frage der Sprache. Die Sprache hat mich verhext. Die Sprache hat mich verdorben. Die Sprache hat mich geformt. Die Sprache hat mich verformt. Daher bin ich wahrscheinlich ein Dichter: weil ich für die Sprache sehr empfänglich bin, ob eine korrekte oder eine unkorrekte Sprache, ich schere mich den Teufel darum. Die Grammatik ist an einem toten Punkt angelangt, ich habe keine Ahnung davon und verachte sie; aber ich bin ein eifriger Wörterbuchleser, und wenn meine Orthographie etwas mangelhaft ist, so rührt das daher, dass ich sehr auf die Aussprache achte, der Idiosynkrasie der lebenden Sprache. Am Anfang ist nicht das Wort, sondern der Satz, eine Modulation. Lauschen Sie dem Gesang der Vögel!

Manoll: Sie haben es in Aujourd’hui gesagt; ein Buch, in dem Sie ein ganzes Kapitel der Sprache widmen. Es sollen im übrigen stenographische Aufzeichnungen vorhanden sein, die während eines Ihrer Vorträge im Ausland gemacht wurden.

Cendrars: Ich bin kein Handlungsreisender, der seinen Ramsch bei jeder Gelegenheit an den Mann bringt. Ich habe ein Grauen davor, Vorträge zu halten!

Manoll: Das glaube ich sofort. Ich sehe Sie nicht vor einem grünen Teppich bramarbasieren und dabei eine Wasserkaraffe leeren. Aber es wurden dennoch Stellen aus einem Vortrag protokolliert, den Sie in São Paulo gehalten haben…

Cendrars: Ich habe fünf oder sechs Vorträge gehalten in meinem Leben. In São Paulo hat eine ehrenamtliche Dame im Publikum bestimmte Stellen stenographiert, die sie mir liebenswürdigerweise aufgedrängt hat und die ich dann für mein Essay über die Sprache benutzt habe. Aber es war kein Vortrag, eher eine Improvisation über zeitgenössische Lyrik.

Manoll: Sie sagen, die Sprache sei nicht etwas Totes, Erstarrtes, sondern etwas Fliessendes, Fliehendes, was immer mit dem Leben und der Realität verknüpft sei.

Cendrars: Genau deswegen fasziniert mich das grosse Wörterbuch der Zollverwaltung. Das Wort „Band“ zum Beispiel: Ich entdecke mit Erstaunen alle Bedeutungen, die das Wort „Band“ beinhalten kann, und vor allem seine hochmoderne industrielle Bedeutungserweiterung; über einundzwanzig Seiten!

Manoll: Ich vergesse nicht, dass mir der Dichter Blaise Cendrars gegenübersitzt, und ich möchte Sie fragen, warum Sie das Experiment nicht weitergeführt haben, das Sie mit Les Pâques à New York, Le Transsiberien und Le Panama begonnen haben. Diese Gedichte weisen einen strophischen Fluss auf, eine neue lyrische Technik – vor allem die Dix-neuf poèmes élastiques –, die Sie später aufgegeben haben.

Cendrars: Ich habe gesagt, dass ich 1917 ein Gedicht schrieb, dessen Fülle, dessen Modernität, alles, was darin mitschwang, mich selber erstaunte. Es war absolut antilyrisch! Ich war begeistert. Und ich beschloss auf der Stelle, es nicht zu veröffentlichen und die ganze moderne Lyrik strampeln und ohne mich zu Rande kommen zu lassen, um zu sehen, was aus ihr werden würde. Ich verstaute jenes verleugnete Gedicht in einer Kiste, nagelte die Kiste zu und stellte sie irgendwo auf dem Land auf einen Speicher. Ich gab mir eine Frist von zehn Jahren, und erst dann würde ich es herausholen und veröffentlichen. Seither sind über dreissig Jahre vergangen, doch ich glaube, der Moment ist noch nicht gekommen, es zu veröffentlichen.

Manoll: Bei jenem Gedicht handelt es sich um Au Cœur du monde.

Cendrars: Ja, und obwohl unveröffentlicht, ist es berühmt. Vor ein paar Tagen hat mir ein Verleger eine Million geboten. Ich habe mich nicht darauf eingelassen…

Manoll: Unter Ihren Gedichten, die nach den Poèmes élastiques entstanden sind, ist ein Band, dem Sie den Titel Kodak gegeben haben. Mit diesem Titel meinten Sie…

Cendrars: Mentale Fotografien…

Manoll: Mentale Fotografien, eine Art Film, Fotografien von der Reise…

Cendrars: Nicht von der Reise; von dem, was ich vor Augen hatte, von dem, was ich dachte, von dem, was ich erriet.

Manoll: In Feuilles de route…

Cendrars: Das sind Ansichtskarten, die ich meinen Freunden schickte und die ich meinen Freunden widmete…

Manoll: Genau…

Cendrars: … die ich meinen Freunden widmete, daher enthalten sie viele anspruchslose, aber sehr persönliche Anekdoten, vor allem Schilderungen von Menschen…

Manoll: Auch von Ländern?

Cendrars: Auch von Ländern.

Manoll: Vom Leben auf See, von Menschen, denen Sie unterwegs begegneten. Ehrlich, ich glaube nicht, dass Sie es damit bewenden lassen, und ich…

Cendrars: Ich habe Ihnen vorher gesagt, dass ich keine Gedichte mehr schreibe.

Manoll: Ist es Ihnen wirklich ernst damit?

Cendrars: Ich mache Gedichte, ich mache Gedichte für icke, die ich mir selber rezitiere und auf der Zunge zergehen lasse und geniesse. Ich habe nicht das geringste Bedürfnis, sie mit wem auch immer zu teilen, nicht einmal mit Menschen, die mir sehr nahe stehen. Es kommt höchst selten vor und wirklich nur ausnahmsweise, dass ich eines dieser Gedichte erwähne, selbst in Briefen an enge Freunde nicht. Nein, es ist noch nie vorgekommen…

Manoll: Sie bewahren sie bestimmt in Ihren Archiven auf, stecken Sie in ihre Aktenmappen.

Cendrars: Überhaupt nicht. Ich schreibe sie nicht auf. Es ist nämlich ein wunderbares Gefühl, die Gedanken schweifen zu lassen, Worte für Dinge zu suchen, die nur für einen selbst bestimmt sind und mein Geheimnis bleiben. Es ist eine Gaumensünde.

Manoll: Hoffen wir, dass eines Tages…

Cendrars: Der Verdruss des Schreibens! Was für eine Plackerei! Ich komme immer wieder darauf zurück, weil Schreiben meinem Temperament äusserst zuwiderläuft. Sich einen Roman ausdenken, ein Thema finden, um dieses Thema herum Personen schaffen, ihnen Gestalt geben und sie führen, sie an der Handlung beteiligen, sie in die verschiedensten erlebten Abenteuer verwickeln… das alles ist amüsant, spannend und passt gut zu meiner angeborenen Trägheit. Doch wenn es dann darum geht, das alles schwarz auf weiss aufs Papier zu bannen, beginnt das Leiden.

Manoll: Und trotzdem haben Sie von einer Ihrer schönsten Nächte gesprochen, von einer Nacht, die Sie mit Schreiben verbracht haben.

Cendrars: Nein-nein-nein, nicht von einer meiner schönsten Nächte, die ich mit Schreiben verbracht habe, von einer schönen Liebesnacht…

Manoll: Sind folglich alle mit Schreiben verbrachten Nächte keine glücklichen Nächte?

Cendrars: Schreiben ist ein sehr undankbarer Beruf, der in Wirklichkeit – und ganz aufrichtig – wenig Befriedigung bringt. Es kommt höchst selten vor, dass man sich sagt: Das ist ziemlich gelungen, mein kleiner Blaise, es ist sogar sehr gut. Dieses satisfecit gönnt man sich sehr, sehr, sehr selten…

Manoll: Blaise Cendrars…

Cendrars: … denn wenn man ein Buch veröffentlicht, sieht man vor allem alles, was einem misslungen ist, denkt an alles, was man nicht hat hineinfliessen lassen, an alles, was man hinzufügen möchte, damit es vollständig ist, weil es unendlich schwierig ist, die Dinge mit dem Schreiben zu erfassen und alles mit Worten auszudrücken. Ist das Buch fertig, bleibt man unweigerlich enttäuscht zurück.

Manoll: Blaise Cendrars, ich danke Ihnen, dass Sie sich zu diesen Gesprächen bereit erklärt haben. Für mich sind sie ein ausserordentliches Vergnügen, und ich bin sicher, dass sie auch für unsere Hörer ein Gewinn sein werden.

Cendrars: Bedanken Sie sich nicht, Manoll. Sie sind es gewesen, der die Idee zu diesen Radiogesprächen gehabt hat. Was die Hörer angeht, so weiss ich nicht, ob sie grossen Nutzen davon haben werden. Ich wiederhole: Schreiben ist vielleicht aufgeben. Reden jedoch… Und erst noch über sich selbst reden… Zu einem Publikum… wozu? Gut, man hört meine Stimme, und im Radio hat nur die Stimme eine gewisse Reichweite, egal, was sie sagt. Aber ich kenne „meine“ Stimme nicht. Ich bin kein Redner, ich habe nie Diktionskurse genommen, niemand hat mir je die Stimme auf die Lippen gelegt; ich entdecke sie nach und nach während meiner Ausführungen am Mikrofon – wie ein Hörer. Was sehr bewegend ist, mich aber verunsichert. Das ist vielleicht kindisch…

 

 

Vorbemerkung

Der vorliegende Text Am Mikrofon ist aus Gesprächen entstanden, die im französischen Rundfunk in der Reihe Entretiens unter dem Titel En bourlinguant avec Blaise Cendrars ausgestrahlt wurden. Für die jetzt erscheinende Buchfassung habe ich den Titel geändert, um Verwechslungen mit meinem Buch Bourlinguer zu vermeiden, einem früher erschienenen Werk.
Die Gespräche wurden vom 14. bis zum 25. April 1950 von Michel Manoll aufgezeichnet, der ursprünglich die Idee zu diesen Interviews gehabt hat; während der Aufnahmen ergaben sich keinerlei Schwierigkeiten, abgesehen von ein paar nebensächlichen Unstimmigkeiten zwischen Manoll und mir, wenn ich gewisse meiner Ansicht nach allzu indiskrete Fragen nicht beantworten wollte. Oder ich den Eindruck hatte, vor einem Untersuchungsrichter zu sitzen. Oder wenn Manoll mich in Widersprüche verwickeln wollte, was eine besondere Unart der Journalisten ist.
Der Schnitt dauerte vom 29. April bis zum 31. Mai und wurde von Albert Riéra besorgt, einer Koryphäe auf dem Gebiet der szenischen Montage; trotzdem wäre es beinahe zu einer Katastrophe gekommen, weil ich mich von einer solchen Begeisterung für das Verfahren hinreissen liess, das mich an den Filmschnitt und seine grossartigen Möglichkeiten erinnerte; und ich schnipselte und schnitt, kürzte Längen, Wiederholungen und ausholende literarische Exkurse, um die Improvisation und die Spontaneität des Dialogs in den Vordergrund zu stellen, so dass schliesslich von den achtunddreissig von Manoll und mir bespielten Tonbändern knapp genug Material für dreizehn zwanzigminütige Gespräche – anstelle der fünfzehn vorgesehenen – übrigblieb. Der Schnitt fiel etwas üppig aus, aber ich übernehme die volle Verantwortung dafür. Diese dreizehn Gespräche wurden zwischen dem 15. Oktober und dem 15. Dezember 1950 im französischen Radio gesendet.
Der jetzt veröffentlichte Text wurde nach dem gesprochenen Text aufgezeichnet, den ich nur mühsam rekonstruieren konnte, weil die mir zur Verfügung gestellte Stenotypistin ziemlich ungeübt war und weil es sehr schwierig ist, bei einem technischen Wiedergabeverfahren – das auf das Ohr ausgerichtet ist und gleichzeitig auf den Sprecher – eine genaue Übereinstimmung zu erreichen. Dank meinem Gedächtnis und auch dank der Bandreste, aus denen ich mehr oder weniger lange Fragmente aufbewahrt hatte, konnte ich meinen Text fast vollständig wiederherstellen.
Drei Gespräche, die weitgehend Wiederholungen enthielten, habe ich weggelassen. Ich habe die Gelegenheit genutzt, die Montage ein weiteres Mal zu bearbeiten und dadurch den Gesprächsablauf umzustellen. Die Passage über Apollinaires Tod habe ich neu redigiert.
Bei diesen Änderungen ging es mir weniger darum, dem geschriebenen Wort gerecht zu werden, als vielmehr darum, möglichst nahe am Originaltext der Gespräche zu bleiben. Hélas! Noch sprechen die Bücher nicht: Die Stimme fehlt, die Stimme des Mikrofons…

Arme Dichter, krempeln wir die Ärmel hoch.
Paris, den 29. Februar 1952
Blaise Cendrars

Postskriptum: Ich wollte Dir dieses Bändchen widmen, lieber Paul Gilson, doch in Anbetracht der hohen Ämter, die Du beim französischen Rundfunk einnimmst, habe ich darauf verzichtet, weil ich befürchtete, der Speichelleckerei bezichtigt zu werden. Nach genauerer Überlegung und da ich niemanden wüsste, der es so sehr verdient wie Du, mein Grosser Paul, nimm es, es gehört Dir. Ich schenke es Dir in Erinnerung an unsere Begegnung in Blois und an unsere gemeinsame Reportage eines Nachts während des Exodus im Juni 1940: Du in Deinem grossen Radio-Übertragungswagen, ich als Engländer verkleidet. Tibi.

Blaise, Vorwort

 

Blaise Cendrars: Entretiens avec Michel Manoll auf SoundCloud

Blaise Cendrars: Entretiens avec Michel Manoll auf YouTube

 

1950,

nach einem bewegten Leben und langen Reisen, lässt sich der 63jährige Blaise Cendrars in Paris nieder, wo ihn der Journalist Michel Manoll für den Rundfunk entdeckt. Während drei Monaten strahlt die Radiodiffusion Française dreizehn Gespräche aus, in denen sich Manoll und Cendrars möglichst improvisierend über Leben und Werk des Schriftstellers unterhalten. Die Gespräche geben Auskunft über einen Autor, der sich immer wieder neu erinnert und – von Tatsachen ausgehend – auch neu erfindet.

Lenos Verlag, Ankündigung

 

Beitrag zu diesem Buch:

Volker Breidecker: Mit dem Auto in die Akademie der kleinen Chaplins
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.2000

 

Antipoetische Poesie

– Der Poet B. C. wird in Deutschland entdeckt . –

Wer von uns hat in ehrgeizigen Stunden nicht schon vom Wunder einer dichterischen Prosa geträumt, die musikalisch wäre ohne Rhythmus und Reim, doch schwingend und kantig genug, um den lyrischen Bewegungen der Seele, dem Wogen der Traumverlorenheit, dem Aufschrecken des Bewusstseins sich anzuformen?

So fragt Baudelaire in einem Brief, mit dem er seine Prosagedichte ankündigt, und er fährt fort:

Das Leben in den riesigen Städten vor allem, das Sichkreuzen ihrer unauszählbaren Beziehungen, erzeugt dieses obsedierende Ideal.1

Baudelaire gibt seinem Werk den Titel Le Spleen de Paris. Das dichterische Ich scheint sich seinem neuen Stoff nicht in voller Freiheit zu nähern, vielmehr von ihm erfasst, besessen zu werden wie von einer fixen Idee. Die Reaktion auf die Reize einer denaturierten Zivilisationswelt ist Widerwille und Faszination zugleich. Die Rhythmik der Grossstädte durchbricht das lyrische Träumen, zerschneidet jäh erhöhte seelische Gestimmtheiten. Wahrnehmung geschieht in einem „Aufschrecken des Bewusstseins“, wird dem Subjekt nicht gewährt als Geschenk, sondern angetan als Schock. Dem steht gegenüber, dass neue Erfahrungen möglich werden, fremdartige Dingqualitäten und Bewusstseinslagen zu künstlerischer Darstellung drängen. Dazu bedarf es einer bis zur Verletzbarkeit gesteigerten Sensibilität, einer Sprache, die ihre symmetrischen Rhythmen zu zerbrechen wagt, eines künstlerischen Vermögens schliesslich, das dem Überdruck des chaotischen Stoffs nicht erliegt, sondern der Herausforderung der technischen, antipoetischen Welt mit schöpferischer Aggressivität antwortet.
„Krieg“ überschreibt Rimbaud, der Dichter monströser Stadtpoesien, eine seiner „Illuminations“.2 Darin spricht er nicht nur von der Schärfung des Bewusstseins, der Verfeinerung der „optique“, sondern auch vom „Erleiden“ des „bürgerlichen Fortschritts“ und formuliert seine Kampfansage mit den Worten:

Ich denke an einen Krieg… mit unvorhersehbarer Logik. – Das ist so einfach wie ein musikalischer Satz.

Ein Kind spielt mit dem Arc de Triomphe; Häuser werden von Riesenvögeln auf den Kopf gestellt; Gedanken, dass Autobusse ins Schleudern geraten: So etwas könnte bei Rimbaud stehen, aber es steht bei Blaise Cendrars.
Cendrars begann als Lyriker. Dass er sich in eine Traditionskette einfügt, deren letztes Glied Rimbaud ist, bezeugt seinen Rang. Mit zwei Gedichten, die 1912 und 1913 entstanden, wurde er mit einem Schlag bekannt und trat neben Apollinaire, dessen Ruhm ihn später, vielleicht nicht ganz zu Recht, verdunkelte. „Pâques à New York“ und „La Prose du Transsiberien et de la petite Jehanne de France“ sind die bezeichnenden Titel. Christliches Mysterium und die modernste Stadt der Welt – der „Neuen Welt“; ein Gedicht, das sich als „Prosa“ ankündigt (wobei allerdings das durchklingende lateinische Wortprosa = Hymnus mitgemeint sein dürfte) und von einer Reise jenseits der Grenzen des alten Europa spricht; schliesslich der mittelalterliche Name einer französischen Königin für eine Prostituierte vom Montmartre: Tradition wird Kulturschutt und bleibt allenfalls noch für die ironisch-sentimentale Spiegelung des sogenannten „zerbrochenen Menschenbildes“ verwertbar.
Von Cendrars’ späteren Gedichtveröffentlichungen seien genannt: Le Panama ou les aventures de mes sept oncles (1918), Dix-Neuf poèmes élastiques (1919), Kodak („Documentaires“) und Feuilles de route (beide 1924). Damit endet die lyrische Produktion, und Cendrars widmet sich ganz einem umfangreichen Prosa-Œuvre, dessen stoffliche Vielfalt, Formenreichtum und Sprachgewalt Erinnerungen wecken an die beklemmenden Visionen E.A. Poes und die kosmischen Träume Gérard de Nervals, an Rabelais’ Wortkaskaden und pralle Daseinsfreude, die Gestaltenfülle und Schicksalsdichte einer „Comédie humaine“ und an das Villon’sche Pathos des geschundenen Lebens. Die dichterischen Qualitäten seiner Prosa verweisen jedoch in vielem auf seine frühe Lyrik. Es erscheint darum sinnvoll, sich jetzt, da sein Prosawerk zunehmend Resonanz gewinnt, mit seiner Poesie näher zu befassen – einer Poesie, deren beste Verse Cendrars mit dem Wort „antipoétique“ gelobt wissen wollte.3
Cendrars’ „Prosa vom Transsibirienexpress und von der kleinen Jehanne de France“ hat man nicht ganz zu Unrecht sein „Bateau ivre“ genannt. Der Stoff des Gedichtes ist das visionär gesteigerte Nacherlebnis einer Jahre zuvor unternommenen Russlandreise. Seine Sprache ein vielfach wechselnder synkopierter Prosarhythmus, in den wenige isosyllabische, meist reimlose Versfolgen eingelagert sind. Das gliedernde Gerüst bilden die Namen von Stationen und Städten, an die sich Erinnerungsfetzen hängen, und ein mehrfach mit denselben Worten aufgenommener Dialog, der jedoch immer wieder rasch verstummt und in inneren Monolog zurücksinkt. Dazwischen drängen sich Impressionen, Bewusstseinsstenogramme, fiebrige Wachträume, ein Bildertaumel aus Realitäten und Visionen, der sich zu einem Furioso des Wahnsinns steigert und ausklingt in der Erinnerungstrauer eines einsamen Abends in Paris. Alles an diesem Gedicht ist Ausbruch, Flucht, Sprengung von Grenzen. Mehrfach werden die zeitlichen Ordnungen überspielt und ineinandergeschoben. Nicht nur ist die ganze Fahrt erinnernd vergegenwärtigt, auch das halb bewusste Dahindämmern des Reisenden verlässt immer wieder die Gegenwart, um in eine nahe oder ferne Vergangenheit zurück- oder in eine oft phantastische Zukunft hinauszuträumen. Manchmal gleitet das Bewusstsein an Wortassoziationen und Bildungstrümmern entlang:

Die Bahnhofsvorsteher spielen Schach
Tricktrack
Billard
Karambolagen
Parabeln
Das Eisenbahnnetz ist eine neue Geometrie
Syrakus
Archimedes
Und die Soldaten die ihn erschlugen
und die Galeeren
4

Eine Bahnhofsuhr weckt die Vorstellung von Glockentürmen und Glockenklängen. Erinnerungen an New York, Brügge, Venedig, Moskau tauchen auf und erweitern den Anschauungsraum horizontal; dazwischen drängt sich ein Bild aus der Tiefe der Zeit:

Die wimmernden Glocken vom Louvre zur Bartholomäusnacht

Dann mündet der Strom des sich erinnernden Bewusstseins wieder in der Gegenwart und mischt Augenblickswahrnehmung und Erinnerung zu Vergleich und Metapher:

Der Zug rollt
Ein Grammophon hechelt Zigeunermusik
Und die Welt, wie die Turmuhr im Judenviertel zu Prag, kreist atemlos rückwärts

Wie hier der Blick aus dem Zugfenster in die zurückfliehende Landschaft, entzündet sich mehrfach der Sinneseindruck zu Visionen des Wahnsinns:

Die Welt streckt sich dehnt sich und zieht sich zusammen wie ein Akkordeon, das eine sadistische Hand quält

An Stelle eines Vergleiches kann die einfache affirmative Aussage das Irreale als real behaupten:

Ich sah in den Lazaretten klaffende Wunden Verletzungen blutend aus allen Kanälen
Und amputierte Gliedmassen tanzten herum oder flogen auf in die rauhe Luft

Rimbauds „unvorhersehbare Logik“ beginnt, sich der Dinge zu bemächtigen und Sachzusammenhänge umzustülpen: Bahnhöfe hängen an Telegraphendrähten, Züge von sechzig Lokomotiven werden verfolgt von brünstigen Horizonten.
Mit Faszination und Grauen wird diese Welt betrachtet, in der die Menschen so deformiert sind wie die Dinge. Schäbige Händler, Huren, blutüberströmte Soldaten und Wahnsinnige treten auf und werden mit einer Mischung aus Abscheu, Zynismus und Zartheit genannt. Alle irdischen Paradiese sind vergiftet. Das Wort „Liebe“ hat einen stechenden Klang. Und doch: Das Widerwärtige und Hässliche ist keine Minderung, sondern brennende Erhöhung des Lebens; bizarre Hässlichkeit ein erotischer Reiz:

Wir wollen uns lieben in den erhabenen Trümmern eines Aztekentempels
Und du bist mein Idol
Bunt angemalt ungelenk hässlich fremdartig bizarr

In „Panama oder Die Abenteuer meiner sieben Onkel“ und in den „Neunzehn elastischen Gedichten“ sind diese Stilelemente zugleich radikalisiert und verfeinert. Programmatisch lautet ein Gedichtanfang: „Die Fenster meiner Poesie sind zur Strasse hin weit geöffnet.“ Der Lebensstoff wird in seiner kruden Tatsächlichkeit ins Gedicht aufgenommen, ungeordnet, so etwa, wie er dem Leser einer Zeitung entgegenschlägt. „Gekreuzigtes Leben in dieser weitgeöffneten Zeitung die ich mit ausgebreiteten Armen halte“, heisst eine Zeile aus dem ersten der „elastischen Gedichte“. Nirgends kommt es zu einem beruhigten Einverständnis mit dem Gegenständlichen, das vor allem als Widerstand erfahren wird; oft dagegen zu rauschhaftem, selbstzerstörerischem Einstimmen in den Tumult des Daseins, dessen Gewalt bisweilen die auffangenden Kräfte des Ichs zu zerschlagen droht und das Geständnis abpresst:

Umsonst, von sich selber nicht sprechen zu wollen
Gelegentlich muss man schreien.

Auf die in diesen Texten geübte Technik der Motivfügung passt genau eine Formulierung von Gottfried Benn:

Einfälle werden eingeschlagen wie Nägel und daran Suiten aufgehängt… Nichts wird stofflich-psychologisch verflochten, alles angeschlagen, nichts durchgeführt.5

Verse stehen untereinander, die der Anfang einer Geschichte, der Titel eines Buches, ein Satz aus einem Lexikon sein könnten:

Man tanzt auf den Knien in Apfelsinenschalen und leeren Konservendosen.
Eine Delegation ist beim Kapitän
Der russische Revolutionär
Erotische Experimente
Gaoupa
Das gröbste ungarische Kraftwort

Das bedeutet jedoch nicht, dass auf eine Gliederung der Motivreihen überhaupt verzichtet würde. Im Panama-Gedicht sind nach einem vergleichsweise musikalischen Verfahren die Lebensgeschichten der sieben Onkel in eigene Kindheits- und Reiseerinnerungen eingelagert – eine Kompositionsweise, die Cendrars in seiner autobiographischen Prosa voll entfaltet hat. „Diese Texte“, erläuterte er selber, „sind ein wenig wie Musik geschrieben.“6 – Französische Kritiker sprechen vom Stil des „Teleskopierens“, des Ineinanderschiebens von räumlich und zeitlich Getrenntem. In den Manifesten der Zeit wiederholt sich das Stichwort „Simultaneität“.7
Dem entspricht eine Stilfigur, die zur Kennmarke modernen Dichtens geworden ist:

Der senkrechte Schrei der Farben fällt auf die Schenkel

Was verschiedenen Bereichen sinnlicher Wahrnehmung angehört, erscheint in eins zusammengezogen. Ein Farbwert wird identisch mit Klang und Gewicht; das Sehen, Hören und Tasten ist zugleich betroffen. Mit einer vergleichbaren kontrahierenden Stilfigur werden im Bogen der Metapher kosmische Distanzen umspannt:

Das Leben blüht in den Fenstern der Sonne
Die schmilzt in meinem Mund

Dieser Wille, zeitliche wie räumliche Dimensionen ausser Kraft zu setzen und Teile der Wirklichkeit zu einem irrealen Gebilde zu verschränken, bildet die negierte Aussage zu einem Stilmittel aus, das erlaubt, grell Kontrastierendes assoziativ aufzuhäufen und mit derselben wilden Gebärde wieder hinwegzufegen:

O Eiffelturm
Ich liess dich nicht mit Gold beschlagen
Ich liess dich nicht auf Kristalldielen tanzen
Ich liess dich nicht dem Python zum Prass wie eine karthagische Jungfrau
Ich kleidete dich nicht ins Peplon der Griechen
Ich liess dich nicht durch den Kreis der Menhire irren
Ich habe dich nicht Stamm Davids genannt noch Holz vom Kreuze
Lignum Crucis

Trotz der Negationen gerät der „Turm“ (Eiffelturm und Phallus hier metaphorisch identifiziert; vgl. den Anfang des Gedichts) in die absurdesten Seinskategorien, denn für den Augenblick des lesenden Verstehens dieser Sätze beginnt er zu tanzen, wird fressbar, umkleidet sich mit einem Peplos, wird ein religiöses Symbol. Der auf maximale Spannungen zielende Stil reisst Statik und Dynamik ineinander, Organisches und Anorganisches, Technisches und Mythisches, Profanes und Sakrales. Im gleichen Jahr wie das zitierte Gedicht, 1913, erschien „Zone“ von Apollinaire mit den berühmt gewordenen Versen, in denen der auferstehende Christus, „alle Piloten übertreffend, den Weltrekord im Höhenflug hält“.8 Rücksichtslos werden immer schärfere Substanzen gemischt, Gegenwerte zusammengeschlossen, das Heilige als Reizwert eingesetzt und zur Erzeugung von Schocks verwendet.
Es ist nur konsequent, wenn diese Gedichte sich gegen den eigenen Gedichtcharakter wenden, Antipoetisches sich zufügen wie eine Wunde. Zeilen werden eingesprengt wie: „Wir garantieren die absolute Reinheit unserer Tomatensauce“; Zitate aus einem Trivialroman mit der eine Zeile füllenden Stellenangabe versehen: „Bd. 21, Le Train perdu, S. 367“; ein Gedicht mit dem Titel „Letzte Meldungen“ läuft aus in dem Satz:

Telegrammgedicht abgeschrieben aus „Paris-Midi“.

Als Lüge entlarvt wird die Meinung, Zivilisationsschutt sei dichterischer Verklärung fähig, und diese Entlarvung geschieht – im Gedicht.
Auf völlig andere Weise löst Cendrars in Kodak und Feuilles de route (1924) das Paradox einer „antipoetischen Poesie“ – das heisst einer Dichtung, die von allen zu poetischem Ornament geronnenen Sprachkonventionen sich abstösst und auf unverstellte sprachliche Wahrnehmung auch und gerade des banalen Weltstoffs drängt. „Geistige Fotografien“ und „Postkarten an Freunde“ hat Cendrars diese Texte genannt. Sie bedienen sich vorwiegend gesucht unliterarischer Gebrauchsformen der Sprache und beschränken den Anteil des lyrischen Ichs weitgehend auf Motivwahl und Bildabgrenzung. Stilbestimmend ist die Isolierung einer äusseren und inneren Augenblickswahrnehmung. Ein Stück aus den Feuilles de route ist überschrieben „Villa Garcia“:9

Trois crotseurs rapides un navire hôpital
Le pavillon anglais
Des signaux optiques lumineux
Deux carabinieros dorment sur les fauteuils du pont
Enfin nous partons
Dans les vents sucrés

Eine weiträumige Hafenlandschaft gruppiert sich um wenige, wie zufällig bemerkte Details, wird unversehens überschnitten von einer Nahaufnahme, dann reflektiert von einem Gefühl, das in eine unbestimmte Weite ausschwingt. Das ist nur scheinbar blosse Fotografie, in Wahrheit jedoch besonnen geformte Sprache mit verhalten evokativem Gestus. Eine glitzernde Klangkombination (Des signaux optiques lumineux), ein vereinzelter Reim (pont: partons), rascher, unaufdringlicher Wechsel der Rhythmen und Perspektiven mit dem Vorrücken des Bildschwerpunktes aus der Hintergrundskulisse nach vorn bis zum Abfangen der Bewegung und der Auflösung ins Diffuse durch die metapherähnliche Pointe „vents sucres“: Das etwa sind die kaum merklichen Stilmittel dieses Textes, an dem sich Cendrars’ gewandelter Sprach- und Weltbezug ablesen lässt. Die gegen Sprache, Stoff und Leser gewendete Aggressivität der frühen Gedichte ist verschwunden, der grelle Wechsel der Tonlagen und die zuckenden Rhythmen zu einem ruhigen „parlando“ entspannt. Nicht immer wird dabei die Gefahr des Absinkens in reine Reportage gemieden. An den geglücktesten Stellen dieser Texte jedoch gelingt es, längst Bekanntes ins Unvertraute zu verfremden, Triviales mit dem Glanz des Wunders zu begaben.
Nach 1924 hat Cendrars keine Lyrik mehr veröffentlicht. Den Versuch, die Sprache einer „lyrischen Primitivität“ zu gewinnen, führt Guiseppe Ungaretti in seinen Einzelwortstrophen auf gehobener Stilebene und mit grösserer Bildverdichtung fort. Cendrars wird Epiker und entwickelt eine elastische, chaotischen Stoffmassen sich öffnende und doch mit Energie gegliederte, nervig rhythmisierte und brutaler wie zarter Töne gleichermassen fähige Prosa:

schwingend und kantig.

Dieter Steland, aus Rauchzeichen, Sondernummer zum 75. Geburtstag von Blaise Cendrars, Karl Rauch Verlag, 1962

 

 

Hans-Jürgen Heinrichs: Die Signatur des Feuers

Forian Vetsch: Pionier Rückwärts auf dem Zeitstrahl

Jay: Blaise Cendrars

Jan Volker Röhnert: Das Fahrrad von Blaise Cendrars

 

 

Fakten und Vermutungen zum Interviewpartner

 

Zum 100. Geburtstag von Blaise Cendrars:

Hugo Dittberner: Die Lokomotive des Schreibens
Frankfurter Rundschau, 1.10.1986

Fakten und Vermutungen zu Blaise Cendrars + Archiv +
Internet Archive

 

Blaise Cendrars (1887–1961). Dokumentarfilm aus dem Jahr 1999 in der Reihe Un siècle d’écrivains.

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