Christine Busta: Poesiealbum 380

Gepostet von Redaktion am Nov 5th, 2023 in Busta, Christine, Israel, Jürgen | Keine Kommentare

Busta/Israel-Poesiealbum 380

ÜBER EINEM ATLAS

Viel zu viel blieb meinem schwachen Auge
unentdeckt auf dem Atlas der Welt,
aber die Geographie der Bibel
und die Kartographie der Dichter
ist mir ins Herz gezeichnet:

Unter der Windrose Saint-Exupérys,
Mörikes Orplid, entrückt für immer,
hautnah Pablo Nerudas Chile,
das Spanien Lorcas, Albertis,
die Distelwege der Esel
von Jimenez und Jammes.

Das Griechenland Hölderlins und Homers,
Shakespeares Caliban-Ariel England,
das Frankreich Balzacs und Rilkes Paris,
Grillparzers verlorenes Reich der Libussa,
Gogols Rußland der Toten Seelen,
die Läuterungslandschaft Tolstojs, Dostojewskijs,
und die Menschenlehrpfade Gorkijs.

Die Meere Melvilles und Joseph Conrads,
Landstriche, mythisch und mikroskopisch,
im zerbrechlichen Aug der Droste;
die Taglöhnergegenden Theodor Kramers,
das zornige Demutsland der Lavant,
Huchels ausgesetzte Chausseen
zwischen entfremdeten Sternenreusen,
und hinter Georg Trakls Grodek
Solschenyzins Archipel Gulag.

Grenzenlos unseren Erdball verfinsternd
und unfaßbar dem Geist der Dichtung
wuchert ein Kontinent der Schande,
leidzerfetzt, entvölkert, verascht,
um die schwärenden Todeskrater
Auschwitz, Mauthausen, Hiroshima.

Christine Busta

Sie gehört durch die Synthese von traditioneller und moderner Lyrik neben Ingeborg Bachmann und Christine Lavant zu den bedeutendsten österreichischen Dichtern des 20. Jahrhunderts. Ihre frühen volksliedhaften Gedichte werden später knapper, reimlos und nähern sich dem Aphorismus. Im Christentum tief verwurzelt, nimmt sie die geistigen, politischen und gesellschaftlichen Erschütterungen ihrer Zeit seismografisch wahr: Die Themen Krieg, Einsamkeit, Armut und Heimatsuche bestimmen ihr Werk, womit sie unvermutet und ungeahnt einen aktuellen Beitrag zur gegenwärtigen Lage liefert.

Ankündigung in Jürgen Becker: Poesiealbum 379, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, 2023

Stimmen zur Autorin

Klassisch möchte man zu diesen Versen sagen, nicht im Sinne einer literarischen Kategorie, sondern auf Grund einer Ausgewogenheit von Dunkel und Licht, Verzweiflung und Vertrauen.
Alfred Focke

Man wird lange suchen müssen, um Gedichte von dieser Erfahrungsschwere, Kargheit, Melancholie und Luzidität wiederzufinden. Sie dichtet aus dem Fundus des Lebens, nicht aus einem vom Leben abgesonderten Sprachbassin.
Joachim Günther

Ein bescheidener Anspruch steht hinter den Versen der Christine Busta: Schreiben als Hingabe an das Unscheinbare, Geringe. Nicht die Rose, sondern Grashalm und Löwenzahn sind die Naturdetails, an denen sie ihre Gleichnisse entwirft.
Dorothea von Törne

Aussprechen und Ausschweigen, Freude und Trauer sind nur zwei kontroverse Paare der Einheit… Zerstörung und Geburt von Schönheit gehen hier Hand in Hand. Dieser spannungsdichte Bezugsrahmen ist bei Busta Grund, das Dasein zu bejahen, gerade in dieser Heterogenität zu akzeptieren, die Anfang und Ende zusammenschließt. Weltsuche statt Wortsuche ist beabsichtigt.
Horst Fassel

Christine Busta weist auf den Riß, der durch die Welt geht, und ihr Herz ist voll der Trauer darüber, daß die Menschen nichts Heiliges unbetastet lassen.
Paul Wimmer

Zentralwort für Leben und Werk war ihr Liebe. Die Liebe schlechthin. Wenige Lyriker haben sie mit solchem Facettenreichtum dargetan und mit solchem Mecaphernreichtum ausgeschmückt wie die Busta.
Franz Peter Künzel

Poesiealbum 380

Christine Busta hat den großen Katastrophen ihrer Zeit – Faschismus und Judenvernichtung, Krieg und Vertreibung sowie Stalinismus und atomare Bedrohung – eine lyrische Fassung gegeben, die durch ihr eigenes schweres Schicksal sowie durch ihre solidarische Haltung und zutiefst erfahrene kreatürliche Verbundenheit beglaubigt wird. Sie gehört neben Ingeborg Bachmann und Christine Lavant zu den großen österreichischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts.