Christoph Perels: Zu Yvan Golls Gedicht „Electric“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Yvan Golls Gedicht „Electric“ aus Walther Killy (Hrsg.): Epochen der deutschen Lyrik. Band 9: Gedichte 1900–1960. –

 

 

 

 

YVAN GOLL

Electric

Auf die Leiter des Eiffelturms steigt der Blaue Maschinist
Den Mond
Schutzmarke für Parfüms
Und der Friseure Schild herabzuhängen –
Aber die Welt strahlt weiter
Kupferne Ströme rauschen die Berge herab
Rhone
Montblanc
Mars
Elektrische Wellen fließen durch blonde Nacht
Disken über uns
Das Lachen der Bahnhöfe
Das Perlenhalsband der Boulevards
Und still an eine Parklinde gelehnt
Mademoiselle Nature
Meine Braut

 

Eifelturm und Lindenbaum

Wie alle Revolutionen haben auch die in der Literatur die Wahl: das Überwundene zu begraben – oder in der Ahnengalerie aufzuhängen. Das gilt nicht zuletzt für jene Dichtergeneration, die glaubte, mit dem „lyrischen Ideal der Blaublümeleinritter“ (Ernst Stadler) endgültig fertig zu sein, für die deutschen Expressionisten. Gottfried Benn kam von den Kirchenliedern, die er im Elternhaus gesungen hatte, ebensowenig los wie Brecht von der Bibel, seinem stärksten Leseerlebnis, wie er bekannte. Yvan Goll hatte als Einundzwanzigjähriger mit bezaubernden Volksliedbearbeitungen debütiert:

Wir werden nicht mehr in die Vigne gehen
Die süßen Trauben alle sind geschnitten,
Wir werden nicht den alten Tanz mehr drehn
Und unsre Winzer auf den Dorfplatz bitten.

Wie lange vor ihm Herder und Goethe, Brentano und Arnim empfand er die Welt des Volkslieds als im Entschwinden begriffen und begann dennoch in ihrem Bann. Wenig später tummelt er sich unter den jeweils neuesten Avantgarden, unendlich weit scheint „Electric“, das Gedicht des Dreißigjährigen, von solchen Anfängen entfernt, eine Hymne im Technikrausch des Futurismus.
Goll, der lothringische Dichter jüdischer Herkunft mit deutschem und später französischem Paß, des Deutschen ebenso mächtig wie des Französischen, siedelt sich 1919 in Paris an, für einige Jahre wird der Eiffelturm dem Verehrer Apollinaires und Freund des Malers Robert Delaunay zum Signum moderner Poesie. „Electric“ ist romantische Großstadtdichtung: getragen vom pulsierenden städtischen Leben, durchtobt von der Technik als einer zweiten, durchaus nicht als unschön wahrgenommenen Natur, durchdrungen von erotischem Flair: „Elektrische Wellen fließen durch blonde Nacht“, dieser zehnte Vers bildet den Dreh- und Angelpunkt des Textes.
Denn nun holt die erste Natur, städtisch drapiert, den Hymniker der Elektrizität noch ein, als Demoiselle Braut – „Meine Braut“ – lehnt sie an der Parklinde, „still“ wie in stillem Protest. In Wahrheit freilich war der Text ihr gar nicht erst entkommen, nur die Vorzeichen haben sich geändert: Die Nacht zieht herauf als „Blauer Maschinist“, genau an der Stelle, wo sie in der Volkslied- und Liebeslyrik hingehört, am Gedichteingang, und mit sich führt sie, wie seit alters, den Mond, die rauschenden Ströme Goethes und Eichendorffs, den Schmuck für die Geliebte, kein Ringlein zwar, aber doch ein Perlenhalsband, und am Schluß eben die Linde, den Baum des deutschen Volkslieds schlechthin. Goll will, daß wir das Spiel durchschauen, in heiter-ironischem Einverständnis bekennt er sich zu dieser seiner Braut namens Natur. Wenige Jahre vor „Electric“, 1920, schreibt er sein Schauspiel Melusine, eine Geschichte vom Aufstand der Elementargeister gegen die Vergewaltigung der Natur durch Bauspekulanten.
Es ist nicht einfach, das Verlöbnis mit „Mademoiselle Nature“ zu lösen, nicht einmal für den, dem die Stadtlandschaft Paris zur Heimat geworden ist und der mit seinen Artistenfreunden die erleuchteten Boulevards und Nachtcafés durchstreift. Mit Clownerie und Charme wird hier das Los des Modernen besungen, das um 1920 zumeist pathetisch oder elegisch intoniert wird. Und wo die Braut wartet, findet sich am Ende auch eine Linde, denn wer bettet sich mit seiner Liebsten gern unterm Stahlskelett des Eiffelturms?
„Electric“, 1922 im Sturm veröffentlicht, steht erstaunlicherweise in keiner Goll-Ausgabe, sowenig wie die frühen Volksliedbearbeitungen. Nicht nur dieses Gedicht, das Werk des Dichters Yvan Goll im ganzen ist noch zu entdecken.

Christoph Perelsaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwanzigster Band, Insel Verlag, 1997

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