Crauss.: Zu Iwan Golls Gedicht „Karawane der Sehnsucht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Iwan Golls Gedicht „Karawane der Sehnsucht“ aus Kurt Pinthus (Hrsg.): Menschheitsdämmerung. −

 

 

 

 

IWAN GOLL 

Karawane der Sehnsucht

Unsrer Sehnsucht lange Karawane
Findet nie die Oase der Schatten und Nymphen!
Liebe versengt uns, Vögel des Schmerzes
Fressen immerzu unser Herz aus.
Ach wir wissen von kühlen Wassern und Winden:
Überall könnte Elysium sein!
Aber wir wandern, wir wandern immer in Sehnsucht!
Irgendwo springt ein Mensch aus dem Fenster,
Einen Stern zu haschen, und stirbt dafür,
Irgendeiner sucht im Panoptikum
Seinen wächsernen Traum und liebt ihn –
Aber ein Feuerland brennt uns allen im lechzenden Herzen,
Ach, und flössen Nil und Niagara
Über uns hin, wir schrien nur durstiger auf!

 

Ohneland Goll (Man trottet)

– Eine Überlieferung. –

nur wenn es film wäre, würde ich das alles für wahr halten.
werner herzog, vom gehen im eis

nicht aufs foto! du sitzt bei arp im atelier, die edelfrau pumpt wolken in säcke und säcke in see. die mischung schmeckt bitter, die stimme ist besser. arp arbeitet, du flirtest dich vor. arp arbeitet nicht! heimlich klappt er am sucher. nicht, arp! aus der hand wird ein holzschnitt. der vogel selbdritt eilt 

[1914 und 20, rolandseck lügt. im ganzen arp kein einziger goll. jean ohneland: unbekannt.]

auf kleinen fingern und flügeln des schmerzes dem morgenwind nach: ihm nach! vernimmst du deine durstige zunge. zu matt, denn im wächsernen traume sind die muskeln gelähmt,  geschwächt sind die beine, kniehoch der schnee. die worte, bevor sie wolken, frieren im bart fest. du kennst dieses bild, hältst es für eines der modernen werke, weiss grundierte schlieren, ein lässiges wehen des pinsels über die leinwand. es ist das portrait einer generation: erst wenn du es fast mit der nase berührst, erkennst du gestalten, magere tiere, erkennst du dich keuchen. wanderung über den gletscher. zuerst entdeckst du die blasen, dann: du verwandelst dich, während du trottest. heimat. bald gilbt das bild, bald schon das wort. die frage wo sind wir stellt sich nicht in der wüste. du bist eine idee, ein versuch, der versuch des jahrhunderts. in der steppe fragt niemand nach grenzen; jedes kamel kennt sie, umwandert eine dürre oder bloss einen strauch. beim salzkraut endet europa. 

[1918, nach paris; ahasver will sterben.]

du blinzelst, wachst, kannst an gestern nicht denken, und über dem morgen hängen schwaden. dies mag ein tag werden, überlegst du, an dem du nicht viel sprichst. schlimmer! es wird ein tag, an dem der gaumen trocknet, der durstige aufschrei kein wort hat. deine zunge: das erste opfer der schlachtung von metz.  

[1914, rezitativ: krieg!] 

überall könnte elysium sein – aber du wanderst, dringst in die wirklichkeit, in die wirklichkeit dringst du nicht vor, denn die wirklichkeit, wirklichkeit löst sich im traum. angstschweiss! die welt beginnt, der mittag brennt: hochspannung peitscht, nervenakkumulatoren rotieren. im radio ein schlager, ein singen, ein stöhnen, ein jauchzen. paris en colère, paris brûle-t-elle? lüstern spannen sich irrlichter im burnus der nacht, kragen in halbkreisen heraus, der brandung entgegen. fatamorgana. die oase der schatten und nymphen duftet, als wüchse da süsser thymian. 

[1921, der angelus benjaminus stürzt sich von st. sulpice, während goll heiratet. die wüste wälzt sich her von nordwesten, der himmel wird enger. loerke fühlt sich sehr matt: furchtbar erschöpfender besuchstag, iwan und claire goll – ich kam sehr spät heim.] 

kannst du noch schnaufen? bewegt sich die zunge? ein neuer tag atmet in deine stube, du aber probierst panisch, wie weit der rachen sich aufspannt. und flösse die seine durch dein zimmer – du schrieest nur durstiger – wonach denn! nach menschen! in der tat, es braucht nur ein paar schritte vor die tür, um zu sehen: wer kein spitzbürger ist, dürstet. was in zürich frivole bowle war, hurerei, hier ist es die ungeduld der überlebenden. 

[1919, paris; unternehmungen, bekanntschaften, feundschaften. in keiner stadt der welt leichter. leute wie cendrars, milhaud, man ray, derain, léger – claire erinnert sich – tummeln den boulevard montparnasse hinauf und herunter. grosse aktivität; daghilev führt seinen melonengekrönten kopf spazieren, tänzer und musiker im kielwasser. cocteau, mager wie ein gerupfter kauz, flattert an seiner seite mit parfümierten epheben und hofstaat.] 

der versuch des jahrhunderts, ein zirkus, die idee des jahrtausends. zusammenschluss der völker, verwesentlichung der ideale. was nachhallt: ein schlager. in einer deutschen eckkneipe dreht jemand das radio lauter. wir machen zur erfrischung eine wüstentour – karawane ins glück, keiner bleibt zurück. achim reichel erhebt sich müde vom stuhl und trottet einer spontanen eckstampen-polonaise nach. reichel tupft sich mit einem sacktuch den schweiss von der stirn, die augen verblitzt von schnee und weltweh, das hinterteil der avantgarde beginnt bereits zu riechen, weshalb das trotten im tritt nicht schwerfällt. 

[1939 neuyork, morgue, im abgrund des fleisches.]

hemisphären umwandert, durch felsen gegangen. emigration macht müde und stumm; obdach und bleibe finden sich, nicht aber heimat. amerika. land ohne grenzen und schwere. du fühlst dich wie auf dem mond, und wenn du zurückkehrst, hat es dich niemals gegeben. irgend ein kraut vernebelt die sinne. du träumst nur, die vokabeln zu kennen, die die liebe beleben 

[1947, zurück in paris, abgleichung; claire erinnert sich: auf schritt und tritt trifft man bekannte, es schillert nur nicht mehr so schlimm. schlimmer: jeder jüngling trägt geist auf der stirn. existentialismus bedeutet, ein zimmer zu finden im wüsten europa, in der abblätternden tapete einer bruchbude die zeichen der jugend zu sehen.] 

im menschen… und hebst du den blick, ohneland goll, siehst du ahasver in der hölle: seit tausend jahren schon höhlt sein schritt die tritte. einen fuss vor heisst, äonen zurück. am kopf der langen karawane stapft langsam das kamel der zeit. die schirrung spannt, so sehr ahasver zerrt; von der leere benagt sind die jahre. 

[1932, die seine stagniert, berlin ist ganz brecht. kannst du dir vorstellen, wie unsere kleine welt aussähe, wenn ich seit zwanzig jahren in dieser form gedichtet hätte… claire führt ihr eigenes leben.]

noch einmal das bild: primitiv geschnittene bergsteiger, kaum weiter als vorher, trotz mühsamen tastens seit stunden. die fotografie ist jetzt grösser, gröber, du verlierst dich im rauschen, ist gräulich und grau jetzt. das ist der abend, jedermann weiss: die nacht im gebirge ist ein gefrässiges wesen. ganz hinten, fast schon am rand, in einer mulde 

ein licht. für dich ist es traurig, du weisst, die müden werden das glimmen nie sehn. aber sie suchen, sie wandern. ihr blick geht nach vorn, wo immer das ist im körnigen gestöber. dann dramen und grotesken, hinter den schneemasken nicht wahrheit, gefühl, charakter, sondern die nackten instinkte. 

[2018, überzeitlich; ich glaube, goll ist ein unangenehmes thema wegen der witwe, die einen grösseren teil seiner gedichte gefälscht haben soll. es ist nachgewiesen, sagt mir der freund, während er bücher aus seinem regal zerrt, aber ich weiss nicht, wie vollständig.]

im panoptikum sucht einer, nein, jagt! seinem traum nach. längst ist die bowle von babel angerührt: weiche, feminine bewegungen im hause, ein tumult aller sprachen. zweig schreibt mit, immer noch hält er salzstangen und jazz für erotisierende zutaten. ekstatische szene, der elsässer goll, junge polen, franzosen, ein salat aller sprachen! ineinander eingehängt die hellbeleuchtete strasse hinunter. zürich erlebt einen wirbel, einen unvergesslichen moment. vortex, blinzeln der dimensionen, zweig wird schliesslieh alles zu toll. ich drücke mich leise, schreibt er, 

[1917, der 18. dezember wird ein unvergesslicher tag. was auf der zürcher bahnhofsstrasse erscheint, erscheint als karawane der tollmut, es ist aber ein riss in der zeit. leg eine folie auf einen fetzen zeitungspapier, schon ist die fratze der angst ein göigu der lust.]

denkt aber noch wochen an claire und iwan. iwan verlobt, stefan in aufsätze vertieft, abends besuch. gewisse neue figuren treiben die stimmung sehr in das erotische und als effect eine allgemeine verjüngung. freitag, 4. januar 1918, das äusserste wird von allen vermieden, aber schon ist kornhas gespannt auf frau de. und goll wie ein revolver gegen steinthal, der sich als chef seiner frau entpuppt. happiness is a warm gun – das ganze ein chaos, goll nimmt claire schnell wieder mit nach lausanne.

[1917, in lausanne muss sich claire was anhörn; der gehörnte schreit, es wird aber nichts nutzen.]

eine dicke kette von verabredungen. gespräche von früh bis nacht. die handlung endet im club. mein herz! mein gott! ich liebe! 

[1973, in münchen, claire spricht mit elfriede: wo soll ich anfangen? ich war mit rolland, rilke, malraux, studer und jouvet befreundet. kokoschka hat mich gemalt und chagall. jelinek schluckt. und was war mit goll? 1950 starb er. ja, ich wollte ihm folgen, er war aber dagegen, dass ich mich umbring.]

die stadt franst aus und erhält sich als bild. was uns in den zwanzigern reizte, gerann zur schablone. celan übersetzt goll zu celanisch, darüber hin quietschen die geigen, schrammeln die banjos, klimpern klaviere. jazz ist auch nicht mehr das, was er mal war; bernard etté stimmt einen shimmy-fox an: leave me with a smile, mein schatz! am oberen rechten bildrand siehst du es dämmern. im lechzenden herzen brennt dir ein grüner phantomschmerz. heimat. am ende 

[1919, es dämmert.]

ist die wüste nichts als ein dörres gewächshaus. traumkraut zerstäubt. in einer ecke ein expressionistischer dichter; auf der suche nach wasser hat er sich verlaufen. jetzt schläft er. dann kommt ein löwe, der den schlafenden schlafen lässt. im staub: keine spur.

Crauss., Schreibheft, Nr. 92, Februar 2019

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