22. Dezember

Gibt es einen … gibt es den Eigensinn der Bilder? Die Frage ist im Nachgang zu meinem Versuch über Antlitz und Torso noch zu klären. Das Phänomen des Hineinsehens beziehungsweise des Herausblickens ist bei der Bildbetrachtung gang und gäbe. Ich beschränke mich in meiner Untersuchung auf das Gesichtsehen, darauf also, dass man in beliebig vielen Bildern – von Michelangelos ›Jüngstem Gericht‹ bis zu modernen Firmenlabels oder modischem Gerätedesign – Gesichter erkennen kann, die nicht explizit dargestellt, sondern bloß subliminal angelegt sind. Dabei ist zu unterscheiden, zwischen bewusst unterlegten analogen Strukturbildungen, die dem Betrachter modellhaft ein menschliches Antlitz suggerieren, und Gesichtsbildungen, die durch Projektion hervorgerufen werden. Diese Variante (Hineinsehen) lässt sich einzig an nichtkünstlerischen Objekten – etwa einer Bergwand, einem Kieselstein – glaubhaft demonstrieren. Bei Werken der Kunst – Landschaften, Interieurs, Stillleben – bleibt stets die Möglichkeit offen, dass der Autor selbst das Gesichtsehen provoziert und den Blick des Betrachters entsprechend lenkt. Möglich ist aber auch (und dies dürfte der Normalfall sein), dass der Künstler beim Malen seiner Landschaft, seines Stilllebens an ein Gesicht überhaupt nicht gedacht und gleichwohl, unbewusst, so etwas wie ein Gesicht mitgemalt hat. Eine objektive Erklärung dafür, dass menschliche Gesichter gleichsam automatisch in gänzlich anders geartete Bilder hineingesehen und auch hineingemalt werden, vermöchte vermutlich nur die Neurobiologie zu liefern – was womöglich bereits geschehen ist; ich muss dem noch nachgehen. – Ich bin eingeladen, in einem Orchester mitzuwirken, das mit genau einhundert Saxofonen besetzt ist – eins davon ist ausgefallen, ich soll den freien Platz in der zweithintersten Reihe (dritter von links) ab heute einnehmen. Das Konzert ist für den Abend geplant, wir proben in dem Kinosaal, wo wir auch auftreten werden. Ich halte ein leicht zerbeultes Instrument in der Hand, das man mir leihweise zur Verfügung stellt, habe keine Ahnung, welcher Finger zu welcher Taste gehört, bin ratlos und werde noch ratloser, als man mich mit dem Hinweis beruhigt, es solle ja »bloß improvisiert« werden. Improvisieren! Improvisieren auf einem Instrument, das man nie zuvor in Händen gehabt hat! Im Orchester sind auffallend viele Frauen engagiert, sie tratschen und lachen, halten ihre Saxofone auf dem Schoss oder zwischen den Knien, mich beachten sie nicht, der Dirigent bleibt aus, die Probe entfällt. Ich fahre mit Anne Tremblay und Barbara Basting nach Sonceboz hinaus, im Ruinengelände werden wir vom Ausbildungsleiter, einem hageren Typ mit grauem Pferdeschwanz, beiläufig begrüßt – wir sollten uns die Gebäude doch selbst ansehen, danach würden wir uns im Garten auf der andern Straßenseite treffen. Sonceboz ist ein Ensemble von gewaltigen Betonruinen, bestehend aus abgebrochenen Wolkenkratzern, eingestürzten Fabrikhallen, gesprengten Kirchen und Schulhäusern. Man hat die Trümmerszene unangetastet gelassen, die noch nutzbaren Innenräume aber sorgfältig renoviert und als Wohnräume für Stipendiaten eingerichtet. Ich bin erstaunt über den krassen Gegensatz zwischen den ruinösen Betonbauten und der biederen Ausstattung der altmodisch tapezierten Zimmerchen. Im Garten setzen wir uns an einen der runden Tische, ich hole am Buffet drei gekühlte Fruchtshakes, wir unterhalten uns angeregt. Eigentlich würde ich mir die Ruinen dort drüben gern noch einmal genauer ansehen und auch das angrenzende Sperrgebiet – es reicht bis zum Seeanstoß hinunter – mit dem Saxofon (das jetzt ein Geigerzähler ist) ernsthaft begehen. Doch die Zeit drängt, meine Begleiterinnen mahnen zum Aufbruch, Barbara muss unser Konzert für Radio DRS 2 aufnehmen. – Bei aller Skepsis und Abwehr muss ich nun doch daran glauben – es ist die Zeit der Geschenke und Wünsche. Simon Morris bekommt einen Küchenstuhl von Philippe Starck und einen dreibändigen Reader zur Geschichte der europäischen Philosophie; für Krys bestelle ich ein Keyboard, mit dem sie sich in meinem Gartenpavillon einrichten und auf dem sie mit angeschlossenem Laptop komponieren kann; Freunde, Bekannte beschicke ich wie üblich mit einem unveröffentlichten Gedicht, allenfalls auch mit einer Fotografie aus meiner jüngsten Produktion; für Mutter gibt’s den üblichen großen Blumenstrauß, und vielleicht ist ja für Weihnachten sowieso nur das Übliche gut genug. – Der Regen hat inzwischen richtiggehend eingerissen, er streicht alles durch, was ihm in den Weg kommt, den einförmig betonierten Himmel schraffiert er mit sprühenden Zeilen. – Der Unterschied von Bedeutung und Sinn, den ich in manchen literaturkritischen Versuchen aufgezeigt habe, tritt im Vergleich von Vladimir Nabokov mit Franz Kafka besonders klar zutage. Bei Nabokov ist alles intendiert, ist angelegt als evidente oder zu erschließende Bedeutung, wobei der Leser oft düpiert, in die Irre geführt, überfordert, manchmal zum Rätseln angehalten wird. Alles, auch das Verborgenste lässt sich bei Nabokov ergründen, man muss bloß den entsprechenden Code eruieren, um die vom Autor bewerkstelligte Verschlüsselung aufzulösen. Wo dies gelingt, erfährt man genau das, was Nabokov eigens verrätselt hat, um den Leser zu narren oder auf die Probe zu stellen. Der Vorgang … das Verfahren ist am ehesten mit dem Kreuzworträtsel zu vergleichen, dessen Auflösung zum Erfolgserlebnis werden kann, in jedem Fall aber völlig nichtssagend bleibt, denn offenbart wird ja bloß, was im Rätsel selbst auf den Buchstaben genau angelegt war. Was Nabokov einst von seinen literarischen Figuren gesagt hat, nämlich dass er sie wie Galeerensklaven für sich arbeiten lasse, das gilt wohl auch für seine Leser. Als Leser Nabokovs bin ich auf die Rolle dessen verwiesen, der zu verstehen hat, was der Autor meint und sagen will. Adäquat wird meine Lektüre dann gewesen sein, wenn ich den vorliegenden Text als verschlüsselte Botschaft nach Vorgabe und im Verständnis des Autors entziffert habe. Auch bei Kafka ließe sich manches entziffern, doch darauf kommt es ihm überhaupt nicht an. Die Rätselhaftigkeit, die Dunkelheit seines Werks ist nicht gewollt, sie ist mitgegeben als eine existenzielle Erfahrung, die der Autor mit mir teilt, statt sie mir aus der Warte des Besserwissers aufzuerlegen. Kafkas Rätsel sind viel eher Geheimnisse und als solche weder von ihm selbst noch von mir zu knacken. Wenn Nabokov mich als Leser entmächtigt und unter seine Kuratel stellt, bin ich bei Kafka, im Gegenteil, ermächtigt, dem Geheimnis einen Sinn zu geben beziehungsweise einen Sinn zu bilden, der in keiner Weise vorgegeben ist und der letztlich auch gar nicht den jeweils vorliegenden Text erklärt, sondern lediglich klar macht, was ich mit dem Text anfangen kann, welche Perspektiven er mir eröffnet und was er mir zu sagen hat über das hinaus, was der Autor allenfalls damit hat sagen wollen. In solchem Verständnis wäre Vladimir Nabokov – und wäre auch Thomas Mann oder André Malraux – sicherlich als »bedeutender« Autor zu bezeichnen, dies in Abgrenzung zu starken Prosadichtern wie Franz Kafka oder Samuel Beckett oder Michel Leiris, die den Leser zu produktivem Eigensinn anregen, mithin auch dazu, jenseits der Texte und unabhängig von deren Bedeutung etwas zu beginnen, das womöglich nur für ihn … das nur für mich allein sinnvoll ist. – Auch wenn das Leben … wenn mein Leben das ist, was sein muss, so sollte ich’s nicht auch noch tun müssen! Es zu lassen, fällt allerdings schwerer. Leb wohl! Das ist – ob Wunsch oder Verdikt – ein dreister Imperativ. Wer könnte und wollte einem solchen Maximalprogramm entsprechen? Und warum und wozu muss alles Programm und auch noch maximal sein? Was auf keine Revolution nicht zutrifft! Zur Eigenart der Revolution gehört’s, dass sie gelingt oder misslingt; dass sie niemals in der Schwebe bleibt. Dass sie die Geschichte vor sich her treibt oder sie irgendwie nach sich zieht. Dass sie überhaupt auf das Entweder-oder beschränkt bleibt. Selbst das Leben – nicht zuletzt meins – wird dem Sowohl-als-auch schwerlich gerecht. Da folgt doch immer nur eins aufs andre, man steht daneben, schaut zu, erkennt die Folgerichtigkeit nicht. Was ich erkenne, ist nur dies – dass es sein muss, dass mein Leben ein Muss ist. Aber wessen Muss!

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