8. Februar

Die Kälte hält an, hält mich wach, tut mir gut; die Straßenlampen sind garniert mit langen, rötlich schimmernden Eiszapfen. Seit Stunden weht ein harscher Wind, springt unentwegt gegen meine Außenstoren an und bringt sie in kurzen unregelmäßigen Abständen zum Zittern. Wenn ich mich auf das klappernde Geräusch konzentriere, wandelt es sich vorübergehend zu einer kleinen Nachtmusik. – Habe im Hinblick auf mein Referat im Arc über Bildsinn und Sehsinn noch einmal – mit großem Gewinn – Nikolaj Gogols ›Porträt‹ gelesen und mir dazu Folgendes notiert: in Sankt Petersburg. Der zweiteilige, rund achtzig Druckseiten umfassende Text (er ist von 1835 datiert) folgt auf dämonisch überspannte Weise dem Epochenstil der europäischen Künstlernovelle, bietet aber darüber hinaus höchst aufschlussreiche Einzelbeobachtungen zur Reflexivität des Bildsehens. Der ereignis- und figurenreiche Plot ist so angelegt, dass als Akteur der unheimlichen Geschichte das Porträt selbst die Hauptrolle spielt, indem es vielfach in das Leben seines Schöpfers, seiner Käufer und Verkäufer, seiner Bewunderer und Verächter eingreift. Mehrfach verweist Gogol auf den Blickwechsel zwischen dem Porträt und seinen Betrachtern. Gleich beim ersten Auftauchen des vergessenen Malwerks heißt es dazu: »Wie schadhaft und verstaubt das Porträt auch war, so erblickte der Käufer doch, nachdem er den Staub vom Gesicht weggeputzt hatte, Arbeitsspuren eines erhabenen Künstlers. Das Porträt war allem Anschein nach unvollendet; doch die Kraft des Pinsels war bestechend. Am ungewöhnlichsten waren die Augen: Allem Anschein nach hatte der Künstler für sie die volle Kraft des Pinsels und seine ganze bemühte Sorgfalt aufgewandt. Sie blickten einfach, blickten heraus aus dem Porträt und störten damit gleichsam die Harmonie ihrer merkwürdigen Lebendigkeit. Als er das Porträt voran zur Tür trug, blickten die Augen noch angestrengter. Fast dieselbe Wirkung taten sie auch draußen bei den Leuten. Eine Frau, die hinter ihm stehen geblieben war, schrie auf: ›Es schaut, es schaut‹, und wandte sich ab.« Bemerkenswert an diesem Passus ist erstens, dass das Porträt als »unvollendet« ausgewiesen wird – also ist es, wie beim Torso, am Betrachter, die fehlenden Stellen im Akt der Betrachtung zu ergänzen und das Bruchstück (hier ein intendiertes Fragment) zu arrondieren. Zweitens ist zu bemerken, dass es in dem Porträt offenkundig eine störende Spannung zwischen der Repräsentation des Gesichts und der Präsenz der Augen gibt, oder allgemeiner – zwischen Kunst und Leben. Drittens ist von Interesse, dass die appellative Wirkung des Porträts beziehungsweise dessen Herausblick von allen Betrachtern (den »Leuten«) gleichermaßen wahrgenommen wird, also nicht bloß vom Künstler Tschartkow, der zu Beginn der Erzählung als Käufer des Porträts auftritt und sich schon bald fragen muss, »ob die Existenz des Porträts nicht vielleicht mit seiner eigenen Existenz verknüpft« sei, was wiederum vermuten lässt, dass Tschartkow das fragmentarische Bildnis mit dem lebendigen Blick als (oder wie) sein eigenes Spiegelbild wahrnimmt, zugleich aber auch als (oder wie) eine Maske, aus der lediglich die lebendigen Augen zu ihm zurückblicken. Der fatale Umschlag von der Bild- zur Weltwirklichkeit erfolgt für Tschartkow in dem Augenblick, da er, selbst ein Maler, erkennen muss, dass er die künstlerische Vollkommenheit des unvollendeten Porträts niemals würde erreichen können. In einem jähen Delirium zerstört er das Bildwerk mit der »Raserei eines Tigers«, versinkt in einem »grausamen Fieberschauer« und nimmt fortan sämtliche Menschen in seiner Umgebung als »furchtbare Porträts« wahr: »Tschartkow sah alles doppelt, vierfach; alle Wände schienen mit Porträts behängt zu sein, die ihn mit ihren starren lebendigen Augen bannten. Die fürchterlichen Porträts blickten von der Zimmerdecke, vom Boden, der Raum weitete sich und erstreckte sich ins Unendliche, nur um noch mehr von diesen starren Augen in sich aufzunehmen.« Die Wirklichkeit der Welt verwandelt sich in ein gigantisches Wimmelbild, das nur noch aus starr blickenden Augen zu bestehen scheint, nachdem Tschartkow das meisterliche, wiewohl unvollendete Porträt zerfetzt und zertrampelt hat: Die Kunst lässt sich nicht vernichten, sie kehrt als Wirklichkeit wieder. Erst zum Ende der Geschichte hin wird klar, dass der Schöpfer des Porträts bewusst auf dessen Vollendung verzichtet hat, damit es in seiner mimetischen Perfektion nicht zur Gänze mit der Wirklichkeit zusammenfalle; einzig die vollkommen naturalistisch gemalten Augen des porträtierten Mannes (der im übrigen nicht bloß ein gelungenes Bildnis haben wollte, sondern kraft seiner Nachbildung im Porträt sich Unsterblichkeit erhoffte) gewannen Anteil an der außerkünstlerischen Wirklichkeit und ließen sich nie wieder daraus entfernen. Das geniale, die Wirklichkeit einholende und diese noch einmal erschaffende Bildwerk ist, so lautet das Fazit von Gogols Künstlergeschichte, »Teufelswerk«. – Routineuntersuchung bei der Hausärztin. Bitte freimachen. Auf die Waage. Auf den Schragen. Abklopfen, Lungen, Herz abhorchen, Lymphdrüsen am Hals, unter den Armen, in den Leisten abtasten. Dann ins Labor zur Blutentnahme – alles soll geprüft werden, Leberwerte, CA-Marker, Eisen, Cholesterin, das ganze Programm. Nichts Auffälliges diesmal, aber in einem halben Jahr steht dann wieder ein MRI-Check an: »Damit wir sicher sein können.«

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