Dirk von Petersdorff: Zu Dirk von Petersdorffs Gedichten „Potsdam“, „Von Jena“ und „Aprilwind“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Dirk von Petersdorffs Gedichten „Potsdam“, „Von Jena“ und „Aprilwind“ aus Dirk von Petersdorff: Sirenenpop. –

 

 

 

 

DIRK VON PETERSDORFF

Potsdam

Wir treffen uns, du bist der frisch Getrennte,
da blickt man auf den See und kaut Salat,
Spaghetti drehen sich wie Argumente,
ich seh dich noch vorm ersten Referat.
Zwei Kanufahrer, die das Wasser stechen,
natürlich kurvt ein Liebeskahn vorbei,
und überm Wasser hängen die Versprechen,
Geräusche, unverständlich für uns zwei,
die früher Bälle traumhaft in die Gassen,
nun zögernd Worte durch den Abend passen.

 

Von Jena

hoch zur Ebene, ins große Wehn
der Gräser, heben, sinken, immerzu,
die Russenpanzerrampe ließ man stehn,
„und diese Orchidee heißt Frauenschuh“.
Aus Truppenübungsplatz jetzt Biotop,
die helle Gräserinnenseite, Wind –
auch niemals wissen, was uns zog und schob,
so wie Erkennungstakte, Song beginnt,
zum Tanzflur schnell im losen, weißen Hemd,
im Sog, wir Gräser, die vom Wind gekämmt.

 

Aprilwind

Wir alle waren doch ein Jahr in Boston,
wie damals richtig diese Ringelstulpen,
so lehnt sie jetzt im Garteneck am Pfosten,
beschäftigt mit Betrachtung junger Tulpen.
Es fiel ihr ein beim Ahornsamenzupfen,
wie konzentriert im Seminar in Gießen:
Monet, ein flirrend-weißes Feld ertupfen,
gelernt, wie Menschen, Gras und Bäume fließen –
Aprilwind mit den ältesten Versprechen,
sie wieder unruhig, hält jetzt einen Rechen.

 

Abschließend möchte ich

über einige meiner neuen Gedichte sprechen, die 2014 als Teil eines Gedicht-Bandes erscheinen werden. Der Band wird aus mehreren Zyklen bestehen, die jeweils ungefähr 12 Gedichte umfassen. Einer dieser Zyklen beobachtet „Paare“, vom Kennenlernen über Emphase, Zweifel, Abstand bis zum Festhalten oder Loslassen. Ein anderer folgt in einer Art stoischem Programm den Jahreszeiten und Szenen aus dem Innenhof eines Hauses. Ein weiteres Kapitel enthält nachromantische Lieder, gereimte und ungereimte, und soll den Titel „Röhrenhosendandy“ tragen. Jetzt aber möchte ich das einführende Kapitel vorstellen, das den Titel „wie ein Strom, wie ein Schlaf, wie ein Gras“ trägt. Dieser Titel ist einem Psalm entnommen. Im 90. Psalm wird Gott so angesprochen:

Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Du lässest sie (die Menschen) dahinfahren wie einen Strom, und sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das doch bald welk wird, das früh blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt.

Eine solche Aussage könnte mit Situationen des alltäglichen Lebens gefüllt werden, in ihrer Wahrheit neu erscheinen. So geht es in diesem Zyklus um Szenen einer Wohngemeinschaft, ein Trostgespräch nach einer Trennung, um Laufschuhe, eine Frau, die nach der Geburt ihres Kindes in den Beruf zurückkehrt, einen Biobauernhof, noch eine Frau, die im April in ihrem Garten herumwühlt.

POTSDAM

Wir treffen uns, du bist der frisch Getrennte,
da blickt man auf den See und kaut Salat,
Spaghetti drehen sich wie Argumente,
ich seh dich noch vorm ersten Referat.
Zwei Kanufahrer, die das Wasser stechen,
natürlich kurvt ein Liebeskahn vorbei,
und überm Wasser hängen die Versprechen,
Geräusche, unverständlich für uns zwei,
die früher Bälle traumhaft in die Gassen,
nun zögernd Worte durch den Abend passen.

Warum eigentlich Rhythmus und Reim? Gerade Verse können den Zustand des Gleitens – hier der Boote auf dem Wasser und des bewegten Lebens – ausdrücken. Das ist die Besonderheit von Gedichten: Den normalen Mitteln der Sprache fügen sie Musik hinzu. So benennt das Potsdam-Gedicht eine Situation, aber das Gefühl, das sich beim Lesen einstellt, sollte genauso aus dem Klang wie aus der Semantik hervorgehen. Der Klang sollte allerdings nicht nur in Bewegung versetzen, sondern zusammen mit dem Reim als Ordnungssystem auch beruhigen: Nichts lässt sich festhalten, das, was über dem Wasser geredet wird, ist unverständlich, die Fähigkeit, traumhafte Pässe zu spielen, ist verschwunden, aber im Gedicht ist alles noch da, und das, was sonst als zusammenhanglos erscheint, bekommt für den Moment des Gedichts durch Rhythmus und Reim doch eine Ordnung. So besitzen Gedichte auch eine therapeutische Wirkung, denn sie beruhigen, was im Bewusstsein durcheinander geht, sich der Fixierung und Erklärung entzieht.

VON JENA

hoch zur Ebene, ins große Wehn
der Gräser, heben, sinken, immerzu,
die Russenpanzerrampe ließ man stehn,
„und diese Orchidee heißt Frauenschuh“.
Aus Truppenübungsplatz jetzt Biotop,
die helle Gräserinnenseite, Wind –
auch niemals wissen, was uns zog und schob,
so wie Erkennungstakte, Song beginnt,
zum Tanzflur schnell im losen, weißen Hemd,
im Sog, wir Gräser, die vom Wind gekämmt.

Auch dies ein Gedicht in Bewegung. Es ist auf einem Gang aus Jena, das im Tal liegt, auf eine angrenzende höhere Ebene entstanden. Auf dieser Ebene fand, was aber im Gedicht nicht erwähnt wird, die Schlacht zwischen Napoleon und Preußen im Jahr 1806 statt. Im 20. Jahrhundert wurde sie zunächst von der Wehrmacht zum Training berittener Einheiten genutzt, später von sowjetischen Truppen als Panzerübungsgelände. Aus dieser Zeit ist eine Panzerrampe stehen geblieben, deren Abbau wohl zu aufwändig gewesen wäre, die zudem als Denkmal wirkt. Nach 1989 wurde die Ebene zum Naturschutzgebiet „Windknollen“ erklärt, und tatsächlich weht es hier fast immer, während es im Tal in Jena wenig Wind gibt. In diesem Naturschutzgebiet finden sich viele Senken und Mulden, die durch die Bewegungen der Panzer entstanden sind, und in denen heute Molche und Wasserinsekten leben. Auch komme eine größere Zahl von Orchideenarten vor, was mit dem besonderen Gestein, mit Muschelkalk, zu tun hat. Ich laufe dort öfter herum, denn man kann sich dort frei fühlen, gleichzeitig das Gefühl haben, in einen größeren zeitlichen Zusammenhang zu geraten. Die Bewegung des Grases, gesteigert durch einfallendes Sonnenlicht, erinnerte mich an die Bewegung von Tanzenden, die ja sowohl aktiv als auch passiv sind, von den ersten Takten eines Songs zur Tanzfläche gezogen, dann von der Musik so geführt werden wie Gräser vom Wind. Wer oder was da eigentlich führt, warum und in welche Richtung, muss man nicht verstehen. Es kann einem fremd und so merkwürdig vorkommen wie das Gefühl, in einer friedlichen Zwischenzeit auf einem Schlacht- und Waffengelände herumzulaufen.

APRILWIND

Wir alle waren doch ein Jahr in Boston,
wie damals richtig diese Ringelstulpen,
so lehnt sie jetzt im Garteneck am Pfosten,
beschäftigt mit Betrachtung junger Tulpen.
Es fiel ihr ein beim Ahornsamenzupfen,
wie konzentriert im Seminar in Gießen:
Monet, ein flirrend-weißes Feld ertupfen,
gelernt, wie Menschen, Gras und Bäume fließen –
Aprilwind mit den ältesten Versprechen,
sie wieder unruhig, hält jetzt einen Rechen.

Das Lebensgefühl des Fließens und Gleitens entsteht aus dem Zusammenwirken vieler Faktoren, und sicher entziehen sich manche dem gegenwärtigen Wissen. Das Verschwinden großer Erzählungen, über das ich gesprochen habe, spielt eine Rolle, aber wohl auch die digitale Durchdringung des Lebens, die zu dem Interesse an Bildern aus dem Bereich des Geisterhaften, an Schwebezuständen, am Vorbeiwischen, Nicht-Festhalten-Können beiträgt. Hinzu kommen einfacher zu benennende Faktoren wie größere Bewegungsmöglichkeiten im Raum oder ganz schlicht das Vorangehen der eigenen Lebensgeschichte, die uralte Vergänglichkeit. In diesem Gedicht ergreift sie eine Frau in einem Moment, wo sich Vergangenheit und Gegenwart überlappen. Man hat inzwischen einen Garten, sitzt aber gedanklich noch im Universitätsseminar, man spürt die Unruhe wieder, die der April mit den ersten warmen Winden auslöst, hält aber wie die eigenen Großeltern einen Rechen in der Hand. Man tut so notwendige und sinnlose Dinge wie Ahornsamenauszupfen und hat in seiner kleinen Welt die großen Bilder Monets vor Augen. Das Durcheinanderschießen von Wahrnehmungen und Gedanken, das verwirrt, aber in dem man sich auch aufgehoben fühlt – einen solchen Zustand kann das Gedicht mit seiner Konzentration und seinen Klängen so gut fassen wie kein anderes Medium. Das ist natürlich eine starke Behauptung; arbeiten wir also daran, sie immer wieder wahr zu machen.

Dirk von Petersdorff, aus Hans Magnus Enzensberger, Dirk von Petersdorff: Wie soll man Geschichte(n) schreiben?, Tübinger Poetik-Dozentur 2013, Swiridoff Verlag, 2014

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