Dirk von Petersdorff: Unsere Spiele enden nicht

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Dirk von Petersdorff: Unsere Spiele enden nicht

Petersdorff-Unsere Spiele enden nicht

BEIM WIEDERSEHEN VON „ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT“

Dein Film ist wahr, Marty McFly, auch wir
sind in die Vergangenheit gefahren,
nicht mit einem DeLorean DMC-12,

sondern per Interrail
nach Florenz, wo Brunelleschi
eine aber-tausend-tonnenschwere Domkuppel
im Himmel schweben ließ,
der darüber selig war,

oder mit dem Fahrrad
durch den kühlen Maimargen in die Bibliothek,
wo Hegel in weißen Handschuhen
die brüchigen Bücher ausgab,
aus denen wir in vergilbten Stunden
und raschelnden Minuten herauslasen:

Alles hat seinen Platz, vielleicht auch du,

und weiter ins New York der frühen 1960er,
als Bob Dylan, Sonntagmorgen,
durch die Straßen,
gesprenkelt von Pfützen,
in seinem dünnen Mantel geführt
von einer zitternden Wohltat
wusste: Alle Lieder sind noch zu singen,
flattern jetzt auf, in dir, aus dir.

So durch die Vergangenheit gereist,
und als wir zurückkamen
in deinem wie in unserem Film
die Gegenwart eine andere,
nicht mehr schwarz-weiß,
die Box der Moderne nicht mehr,
sondern die weite Leinwand,

in die ich hineinschritt, um Verse zu schreiben,
die sein sollten wie die Kurven, Marty,
deiner Skateboard-Fahrt,
um einen Parkplatz zum Leben zu erwecken
oder um ein Mädchen zu überzeugen
zum Campen am Wochenende
am See, wo es dämmerte, abends

und morgens in diesem Lebensstreifen.

 

 

 

„Nichts behält seine Gestalt /

und nichts geht verloren“, heißt es im Auftaktgedicht „An eine Dreizehnjährige“ in Dirk von Petersdorffs neuem Lyrikband. Das liebevoll beobachtende, detailreiche, ebenso fein ironische wie unerschrockene Gedicht über die Tochter mit seinem melancholischen Unterton gibt die Stimmung vor für die ganze Sammlung: „Aus deinem Zimmer trage ich / einen Joghurtbecher mit Schimmelkultur / und ein Müsli, hart geworden / wie Mörtel: Man könnte ein Haus damit bauen./ Du aber willst kein Haus, sondern auswandern.“
Schwellen zum Leben, zum Tode, Abschiede und Ankünfte, alte und neue Liebe, die Gegenstände des Alltags und die der Pop- wie der Hochkultur, August Macke und das Skateboard: Dirk von Petersdorff ist der Lyriker einer unabgeschlossenen Gegenwart, die sich dem Ältesten verwandt fühlt, in ihm aber trotzdem keine rückhaltlose Geborgenheit finden kann. Nachdenklich und im souveränen Umgang mit dem Formenreichtum der lyrischen Überlieferung ein Genuss, feine Fangnetze, die die Transformationen der Gegenwart zu fassen vermögen: Die Gedichte dieses Bandes sind kleine poetische Studien der Verwandlung.

C.H. Beck Verlag, Klappentext, 2021

 

Rätsel mit Locken

– Weniger ist mehr, ganz wenig ist alles: Dirk von Petersdorff schreibt Gedichte, die auf Ideen leicht verzichten können. –

Der Dichter Dirk von Petersdorff ist im Hauptberuf – gibt es das bei Schreibenden überhaupt? – ein renommierter Literaturwissenschaftler und Professor in Jena. Er lehrt über Romantik, verortet poetische Kraftfelder im Popsong und weist nach, wieviel Clemens Brentano in Bob Dylan steckt. Aber ist Petersdorff das, was man linker Hand einen Poeta Doctus, einen gelehrten Dichter, nennt?
Zum Glück nicht, denn seine Gedichte entstehen nicht unter den Laborbedingungen wissenschaftlichen Denkens, sondern nach dem Prinzip der sinnlichen Anverwandlung. In seiner neuen Sammlung Unsere Spiele enden nicht finden sich Gedichte, die feine Destillate der Alltagserfahrung sind. Manche von ihnen vertrauen sich dem Reim an, ohne verschämt das Metrum unordentlicher zu gestalten. Nein, Petersdorff benötigt nicht die ironische Brechung, wenn er ein altes Sujet wie das Dinggedicht auf seinen Mohairpullover anwendet, der sich im Winter auch als Erinnerungsgegenstand bewährt:

und wenn es schneit, dann können Flocken landen,
die hängen bleiben, wie uns alles nützt –
lasst diesen Jungen gehen, unverletzt,
im Licht der Straßenlampen, unverletzt.

Zur Sicherheit hat sich Petersdorff einen Satz der polnischen Dichterin Wisława Szymborska geborgt und diesen als poetologischen Unterzug ins Gebälk seiner Dichtung eingezogen: pathetische Worte mit Mühe leicht erscheinen zu lassen – dieses Prinzip leitet Petersdorffs Versuch, seine kleinen Leuchtfeuer zwischen der Alltagsflüchtigkeit und dem erhabenen Augenblick anzuzünden.
Sehr klug und pointiert ist die feine Engführung in „Weniger ist mehr, ganz wenig ist alles“. Der Titel steht über einem der intellektuell interessantesten Texte dieses Bandes. Petersdorff zeigt darin, was der Lyriker vom Theoretiker gelernt hat, nämlich die Größe, im Gedicht auf Theorie, genauer: auf Ideen verzichten zu können:

Dies hier war ein langes Gedicht, es ging
um Physik, um Philosophie, um Raumzeit,
ein Ereignis hieß Weltpunkt – alles gestrichen

Es ist Petersdorff nicht an der Behauptung gelegen, sondern es geht ums Herzeigen, um die alltagsgeprüfte Wahrheit: ein Mädchen, das den Sand von den Füßen streift, der Blick aus dem Dachfenster und schließlich die eingehende Schilderung, wie sich die Locken des Mädchens dem Kragenrand nähern, dem eigentlichen Weltpunkt – so lenkt Petersdorff sein poetisches Verfahren.
„Den Gegenständen Farbe geben ist wie reimen“, heißt es einmal, und das liest sich wie eine gewitzte poetologische Gegenrede an jene Kritiker, die an Petersdorffs Gedichten gelegentlich die angeblich zu gut geölte Reimmaschine beanstanden, weil diese allzu viel vom kostbaren Inhalt schreddern würde. Auch die Lässigkeit seiner Sujets wurde benörgelt, die populäre Themenwahl, das Alltagsaroma seiner Verse. Denn in den Gedichten des 1966 geborenen Petersdorff geht es oft um sehr feine Verästelungen der sensationslosen Tageserfahrung, um mikroskopisch betrachtete Abläufe und Bilder, auch um übersensible Klangwahrnehmungen an der Grenze zur Einbildung, wie in dem Gedicht „Vor dem Einschlafen“.
Es ruft die Kindheitserinnerung an ein merkwürdiges Bimmeln wach, das der kleine Junge vorm Einschlafen gehört hat. Es ist der Klang, den der auf ein Gitter fallende Regen erzeugt, das stellt sich in der Mitte des Gedichts heraus. Die physikalische Erklärung ernüchtert den Erwachsenen nicht, denn er weiß seither, „dass es manchen Abenden so wenig braucht wie ein Gitter und den Regen“. Man ist immer ein bisschen versucht, sich von diesen Texten trösten zu lassen, aber Poesie ist ja nicht zum Trost da, sondern dient dazu, um autonomes sprachliches und intellektuelles Energiefeld zu umzeichnen.
Gleich am Anfang des Bandes steht das Gedicht über die dreizehnjährige Tochter, ein Übergangswesen vom Kind zur Jugendlichen. Aber hier greift schon die behutsame Hand des Dichters, nein, des Vaters ins Wort: Im Übergang sind selbstverständlich auch die Erwachsenen, deren scheinbar gefestigtes Dasein die Tochter mit ihrer ausgestellten Schlurferei und Einsilbigkeit spiegelt.

Wenn du morgens in die Küche kommst,
schaust du wie eine Eule,
in den helllichten Tag versetzt

Die Entfremdung, die Ferne, die trügerische Nähe zwischen dem heranwachsenden Mädchen und den Eltern – all dies wandelt den Blick auf das Kind, das mit immer neuen Zuschreibungen erfasst werden soll. Mal als „glorreiches Phantom“, dann als „Rätsel mit Locken“ und am schönsten:

Im Sommer schlurfst du als November herum

Wenn man im Licht dieses wunderschönen und anrührenden Textes das letzte Gedicht liest, könnte man meinen, sie fahre am Schluss als Dezember herum. Denn die Radfahrerin in „Fahrrad im Winter“ könnte die Tochter sein. Sie radelt in eine Schneedecke „und dann lässt sie los, aufgerichtet / öffnet die Arme“. Es gehört eine schöne Portion poetischen Übermuts dazu, seinem Gedicht diesen frischen utopischen Schlenker zu geben.

Hilmar Klute, Süddeutsche Zeitung, 14.12.2021

Mohairpullover, schneebesetzt

Dass die Romantik eine noch andauernde Epoche sei, auch durch die Moderne hindurch, hat Dirk von Petersdorff als Literaturwissenschaftler verschiedentlich vertreten. Auch als Lyriker kann er es glaubhaft machen. Seine Gedichte schweben in einem Referenzuniversum zwischen Brentano und Tocotronic, zwischen Eichendorff und Supertramp, wie sich etwa schon am Titel des Bandes Nimm den langen Weg nach Haus (2010) zeigt. Die Rückwärtsgewandtheit, etwa auch Richtung Rhein-Romantik, geht nicht selten mit einem Augenzwinkern oder gar einer Demutsgeste einher – und mit modernen Zeilenfällen: „Es ist / in diesem Land ein Fluß, an / dem die Männer stehen. Doch / waren wir ganz klein“, heißt es in dem Gedicht „Ich war mit Karl am Rhein“.
Auch die eigene Jugend und Studienzeit wird dem 1966 Geborenen häufig zum Gedichtgegenstand – zu einem, der ebenfalls schon in romantische Ferne zu rücken scheint. Wobei das kein Zeichen von hohem Alter sein muss, wie jeder romantisch veranlagte Mensch verstehen wird. Man kann ja auch als Jugendlicher oder gar als Kind schon eine Erfahrung machen, die unmittelbar danach zur Quelle der Nostalgie wird.
Ein lyrisches Subgenre, an dem das Fernrücken aber besonders augenfällig wird, ist das Autogedicht. War es in dem Band von 2010 der „alte rote Golf“, der ein Gedicht inspirierte und mit seinen heute leider lächerlichen 60 PS sowie einem bereits verstummten „Kassettengerät“ Erinnerungen an eine Nachtfahrt über den Brenner und zur Adria wieder wach werden ließ (von „warmer Hoffnung durchs Schiebedach“ bis zum „Parkplatz der Trennung“), so ist das Sehnsuchtsvehikel inzwischen schon ein größeres Modell geworden, dafür allerdings ein Diesel. Im „Ford-Transit-Song“ heißt es:

Nur ein Luftzug ging
aus Meeresluft und Dieselduft,
umspielte meine Hand,
die seitlich aus dem Fenster hing

Nicht zuletzt durch die Bezeichnung als „Song“ ist für Petersdorffs Lyrik der Anschluss an moderne Lieddichter und Liedermacher gegeben; dass umgekehrt auch Lieder und Songs programmatisch „als Gedichte“ aufzufassen sein können, was in der Literaturwissenschaft nicht selbstverständlich ist, hat er übrigens in einem eigenen Buch dargelegt (In der Bar zum Krokodil, 2017). Die Nähe zum Pop oder sogar Sirenenpop (so heißt ein Gedichtband von 2014) hindert indessen nicht die anhaltende klassisch-romantische Italien-Sehnsucht, die sich nun von Neuem äußert. Zum Beispiel in Gedichten über römische Pinien, über Olivenbäume („den Kopf gelehnt an die zerfurchte Rinde“) oder das Mondlicht auf der Bucht von La Spezia, dem sogenannten „Golf der Poeten“ also, in dem 1822 Percy Bysshe Shelley ertrank.
Als Erinnerungsvehikel dienen Petersdorff neben rollenden und segelnden auch solche, die man am Leib trägt. Ein Mohairpullover etwa sorgt für das schönste Gedicht des Bandes. Darin heißt es:

wie eine Rüstung hat er mich geschützt,
und wenn es schneit, dann können Flocken landen,
die hängen bleiben, wie uns alles nützt

Obwohl dieses Gedicht kein Sonett ist (und auch Sonette dichtet Petersdorff bisweilen, darin dezidiert Formen pflegend, die manche heute für überkommen halten), endet es mit einer Art concluding couplet, das wohl als Motto über seinem bisherigen lyrischen Werk stehen könnte:

Lasst diesen Jungen gehen, unverletzt,
im Licht der Straßenlampen, schneebesetzt

Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2021

Poetische Pandemie-Bilanz und Seelenblues

– Wie neue Gedichtbände, etwa von Safiye Can oder Steffen Mensching, die Pandemie umkreisen. –

Es ist schon seltsam, was man der Literatur so alles abverlangt. Eine sehr beliebte Forderung etwa lautet, Schriftsteller und Autorinnen müssten umgehend auf aktuelle gesellschaftliche Ereignisse reagieren. Nach 1989 konnte es die Literaturkritik kaum erwarten, endlich den großen Wenderoman zu lesen. Das dauerte bekanntlich, und wer weiß, ob nicht eher die Summe der vielen kleinen Wenderomane inzwischen den einen großen ergibt. Jetzt soll es der Klimawandel sein, der unbedingt literarisch bearbeitet werden soll, dabei fehlen ja noch der islamistische Terror, der Aufstieg der Rechtspopulisten, Donald Trump, die Ära Merkel… Ach ja, und da wäre natürlich auch noch die Corona-Pandemie, die unbedingt im Roman beackert werden sollte, und zwar möglichst schon morgen.

Gut, dass wir die Lyrik haben, denn die ist kurz und kann deshalb wunderbar auf alles reagieren, was den Dichtern und der Welt, in der sie leben, widerfährt.

(…)

Ganz nah an Leben/Liebe/Lüge sind auch die neuen Gedichte von Dirk von Petersdorff (Unsere Spiele enden nicht, C.H. Beck, 2021). Er lehrt als Germanist in Jena, doch seine Verse sind, obzwar mit allen lyrischen Wassern gewaschen, nie professoral. Fruchtgummis werden darin ebenso bedichtet wie der Schwimmkurs oder der Mohair-Pullover. Die Gegenwart lappt bei Petersdorff immer ein wenig wehmütig in die Vergangenheit, und das Wissen um die Vergänglichkeit jedes poetischen Augenblicks verleiht seinen Versen eine leise, nie überhandgewinnende Melancholie. Die Romantik (Jena!) wird hier alltäglich, der Alltag romantisch.

Andreas Wirthensohn, Wiener Zeitung, 28.11.2021

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Thorsten Paprotny: Dankbare Gelassenheit
literaturkritik.de, August 2021

Michael Braun: Unsere Spiele enden nicht
Borromäusverein

 

 

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