Eckart Kleßmann: Zu Paul Celans Gedicht „In Ägypten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „In Ägypten“ aus Paul Celan: Mohn und Gedächtnis. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

In Ägypten

Du sollst zum Aug der Fremden sagen: Sei das Wasser.
Du sollst, die du im Wasser weißt, im Aug der Fremden suchen.
Du sollst sie rufen aus dem Wasser: Ruth! Noëmi! Mirjam!
Du sollst sie schmücken, wenn du bei der Fremden liegst.
Du sollst sie schmücken mit dem Wolkenhaar der Fremden.
Du sollst zu Ruth und Mirjam und Noëmi sagen:
Seht, ich schlaf bei ihr!
Du sollst die Fremde neben dir am schönsten schmücken.
Du sollst sie schmücken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noëmi.
Du sollst zur Fremden sagen:
Sieh, ich schlief bei diesen!

 

Liebende Fremde

Im Roman Heinrich von Ofterdingen des Novalis heißt es:

Die Ströme sind die Augen einer Landschaft.

Auch in diesem Gedicht werden Wasser und Auge wie zwei kontrapunktische Motive miteinander verknüpft. Der Titel „In Ägypten“ läßt an Pharaonenzeit und die Auffindung Mosis denken, dessen Name bedeutet (in Luthers Übersetzung):

Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen.

Frauennamen der Bibel: Ruth, die Liebe und Heimat bei Boas fand; Noëmi, ihre Schwiegermutter; Mirjam, die Prophetin. Sie sind hier dem Wasser verbunden, und wir erinnern uns, daß im Hohenlied die Geliebte als „Gartenbrunnen“ und als „ein Born lebendiger Wasser“ besungen wird. Nun ist hier das Wasser zugleich der Nil, jener Fluß, aus dem Moses gefischt wurde und der als Lebensader Ägyptens auch Symbol der Unterdrückung der Kinder Israel gewesen ist.
Es hieße aber die Deutung dieses Gedichts unzulässig verengen, wollte man es auf die in der Bibel erzählten Ereignisse und die mit ihnen verbundenen Namen reduzieren. Ruth, Noëmi und Mirjam stehen hier als hebräische Frauennamen; sie erinnern zwar an Gestalten des Alten Testaments, meinen sie aber nicht im historischen Sinn. Die Jahre der Versklavung im pharaonischen Ägypten haben sich im Leidensgedächtnis des jüdischen Volkes für immer eingeschrieben bis hin zu jenem ganz anderen Exodus in unseren Tagen, der alles in Jahrhunderten Durchlittene an Grauen und Schmerz übertraf.
„Du sollst sie rufen aus dem Wasser:“ Das Wasser ist ein Bild für verfließende Zeit, und der Ruf geschieht aus der Zeitlosigkeit, die Jahrtausende verschmilzt, denn auch die Erinnerung namenlosen Leidens ist zeitlos. „Du sollst sie rufen aus dem Wasser:“ Denn das Wasser bewahrt nichts, aber die Namen müssen der Flüchtigkeit des Vergessens entrissen sein. „Du sollst:“ Neunmal wird das ausgerufen – in der Zahlenmystik ist das die potenzierte heilige Drei-, und da jeder Vers als eigener, abgeschlossener Satz erscheint, wird ihm so eine archaische Statik verliehen.
„Ruth! Noëmi! Mirjam!“ Namen, die für ein ganzes Volk stehen. Um diese drei Namen ist Schmerz; wir müssen uns ihre beschwörende Anrufung als ein Totengedenken vorstellen, und der Schmerz um die Genannten ist zugleich ein Schmuck der „Fremden“, die doch bei aller Fremdheit ganz nahe ist und deren „Wolkenhaar“ an jene Wolkensäule denken läßt, die den Kindern Israels beim Auszug aus Pharaos Land vorausging.
Die Fremde: Dem Dichter innig verbunden, aber nicht zugehörig der Leidensgemeinschaft. Im Hohenlied Salomons wird von der schwarzen Geliebten gesagt, sie sei bei der Suche nach ihrem Freund von den Wächtern Jerusalems mißhandelt worden. Und auch des Moses geschmähte Mohrin mußte sich als Fremde fühlen: fremd unter Fremden, verfolgt von Verfolgten. Aber sie wird nicht ausgeschlossen, diese namenlose Fremde, sondern einbezogen in den „Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noëmi“ durch die Liebe und das liebende Erinnern an die Dahingegangenen:

Sieh, ich schlief bei diesen! – Seht, ich schlaf bei ihr!

Nur diese beiden Verse sind ohne das eherne Du sollst.
Es gehört zum vollkommenen Gedicht, daß es mehrdeutig zu uns spricht und sich an die mitschaffende Phantasie des Lesers wendet. Das Gedicht will unser Vorstellungsvermögen freisetzen, den Gedanken Flügel verleihen und den Lesenden auffordern, sich ganz seinen Eindrücken und Assoziationen zu überlassen. Das Liebesgedicht als Totenklage, das Totengedenken als liebende Anrede. So kommt es den für unser Verständnis so oft verrätselt scheinenden Bildern nahe, die wir in ägyptischen Gräbern der Pharaonenzeit bewundern. Sie sind von unserem Fühlen und Denken um Jahrtausende fern und fremd, und lassen uns doch Nähe und Gegenwart erahnen.

Eckart Kleßmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwanzigster Band, Insel Verlag, 1997

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