Enzo Lamartora: Das Ausmaß des Verlusts

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Enzo Lamartora: Das Ausmaß des Verlusts

Lamartora-Das Ausmaß des Verlusts

Stell dir vor, du erwachst nach einer langen Agonie
in einer öden kalten Steppe, am Rand der Barentssee.
Du bist allein. Die anderen sind alle auf der anderen Seite,
bewegen sich heftig und in der Hitze, scheinen stumm zu sein,
oder du bist es, der das Gehörte nicht mehr aufnimmt.
Alles ist also vorbei, du kannst das Heft für immer zumachen.
Weiter weg vom Ozean, in dem du dich befindest, gibt es nichts zu erreichen,
kein Ziel, niemand, der dich ablenken könnte oder bezeugen
– ein Kind, eine Liebe, ein Hund.
Du müsst dich nur mühen, die Zeit totzuschlagen.
Du hast vor dir einen Tisch, ein winziges Fenster, einen Stoß Papier.
Das ist das Leben letztendlich.
Das mühselige Warten darauf, dass etwas passiert, um es zu beenden.

 

 

 

Die zärtliche Bitterkeit der „Poesia Povera“ des Arztes

und Autors Enzo Lamartora aus Neapel, samt Anmerkungen

zum Übersetzen fremdsprachiger Lyrik

I think translators do God’s work.
They are the great uncelebrated heroes.

HENRI COLE / Twitter/Dec. 22/2021

Im Dezember 2016 erreichte mich ein elektronisches Schreiben eines mir Unbekannten: er heiße Enzo Lamartora, sei ein italienischer Poet, lebe in Aosta; im Mai 2016 habe er den Gedichtband La dimensione della perdita im Verlag Nicola Crocetti in Mailand veröffentlicht; er würde gerne eine Auswahl seiner bisher geschriebenen Gedichte ins Deutsche übersetzen lassen; der Verleger Crocetti habe – „subito“ – an mich gedacht und ihm geraten, mich zu fragen, ob ich bereit wäre, die Übersetzung zu machen.
Ich hatte seit den frühen 90er-Jahren, als ich in Italien lebte, in Nicola Crocettis – im wahrsten Sinn der Wortes – wunderbarer, jedenfalls einmaligen, bis vor kurzem jahrzehntelang monatlich erscheinenden Zeitschrift POESIA, in der ausschließlich Lyrik aus aller Welt in der Regel im Original und in italienischer Übersetzung präsentiert wurde, mehrere Male Textzyklen von mir veröffentlichen dürfen. Dass ich nun dem von mir bewunderten Verleger, dem ich derart auch in Dankbarkeit verbunden war, als Übersetzer der Texte eines seiner Autoren eingefallen war, ehrte mich gehörig. Ich erklärte mich, ohne viel nachzudenken und, wie immer, auch ohne die Texte zu kennen, bereit, die Übersetzung des Bandes La Dimensione della Perdita zu übernehmen.
Ich bin ein Schriftsteller, der AUCH – und sehr gerne! – übersetzt, also kein professioneller Übersetzer, sondern ein „Dilettant“ im ursprünglichen Sinn des Worts. Meine Motivation für die für mich zumeist befriedigende, manchmal aber auch mühsame Tätigkeit des Übersetzens ist vor allem die Liebe zur Sprache, die Liebe zu ALLEN Sprachen mit all ihren Verschiedenheiten, aber auch das Vergnügen, mit Sprache, mit den verschiedenen Sprachen zu „spielen“; sie besteht aber für mich auch darin, dass Übersetzen nicht nur das sich Einlassen auf eine andere Sprache und damit auch andere Mentalität ist, sondern auch die Hinwendung zu einem Menschen, zu einem Autor und seinem Werk, also ein Vehikel, die „normale“, alltägliche soziale Isolation des Schriftstellers – nicht zu überwinden, aber – erträglicher zu machen. Der immer wieder gesuchte Kontakt mit den Autoren der zu übersetzenden Texte, der Austausch mit ihnen über die Texte, das Klären sprachlicher und inhaltlicher Probleme, all das ist für mich seit jeher im Grunde genommen der wichtigste Aspekt meiner übersetzerischen Tätigkeit, jedenfalls der, der den in meinen Augen „unmoralischen“, ja mich demütigenden Umgang des „Betriebs“ mit meiner Arbeit zeitweise FAST in den Hintergrund verdrängen kann.
Von meinen neun, bisher in Buchform erschienenen Übersetzungen sind nur zwei im Auftrag von Verlagen (Suhrkamp und Haymon) erschienen, also ordnungsgemäß für den Übersetzer abgesichert durch einen Vertrag und ein Honorar. Alle anderen sind OHNE Vertrag, OHNE Honorar und – das gilt auch für die meisten in Zeitschriften und Anthologien erschienenen, oft umfangreichen Übersetzungen – zumeist von der Öffentlichkeit völlig unbeachtet „auf den Markt gekommen“, vor allem weil die Verlage zwar die staatlichen Förderungen kassieren, sich aber jegliche Öffentlichkeitsarbeit für die derart zustande gekommenen Produkte konsequent ersparen – und das nicht nur in Zeiten der Pandemie.
Lamartoras 2016 erschienener Gedichtband La Dimensione della Perdita besteht aus 130 titellosen Texten aus den Jahren 2005 bis 2014, die in etwa gleichgroßen Abschnitten den Jahreszeiten Winter, Sommer, Herbst und den Orten Neapel, Ascoli Satriano, Aosta zugeordnet sind. Der Umfang der Texte ist in der Regel auf eine Seite beschränkt, es finden sich längere Texte, bestehend aus Langzeilen, aber auch kurze, nur aus einigen Zeilen bestehende, lakonisch knappe. Formal handelt es sich um eine zu mehr oder weniger langen bzw. kurzen Zeilen angeordnete Prosa: Lamartora vermeidet jegliche Annäherung an schon vorhandene, „klassische“ lyrische Formen, es liegt ihm aber auch fern, eigene, neue Formmodelle für seinen Diskurs zu entwickeln. Seine Sprache wird durchgehend vom Idiom des Alltags dominiert, ist oft um die Sachlichkeit von medizinischen Anamnesen bemüht und vermeidet jegliche billige oder auch „schöne“ Poetisierung, aber auch klassische Redeformen, z.B. Metaphern. Das Ergebnis – die Wirkung auf den Leser – ist beeindruckende Schlichtheit, überzeugende Sachlichkeit und Identifikationsmöglichkeit, aber auch Eintönigkeit…
Ich habe mich immer wieder – seit 2016 – (auch weil sich jahrelang kein Verlag bereit fand, die Übersetzung zu drucken) mit den, sich dem raschen Verständnis nicht sperrenden, da sprachlich und inhaltlich leicht zugänglichen Texten Lamartoras, getreulich lesend und korrigierend befasst.
Aufgrund der Direktheit der Aussage, aber auch wegen der absichtlichen (?) Dürftigkeit der poetischen Mittel erinnert mich die Schreibweise an die Ende der 60er-Jahre in Südeuropa bedeutendste Avant-Garde-Bewegung: an die „Arte Povera“ – eine „arme Kunst“, deren auffallendstes Merkmal die Verwendung alltäglicher Materialien und deren Ziel eine Kritik von gesellschaftlichen und kulturellen Konventionen ist. Beide Kriterien treffen, in meinen Augen, auf die Schreibweise Enzo Lamartoras zu: sowohl das von der Alltagsrede geprägte sprachliche Material seiner Texte wie auch das aus den alltäglichen Problemen einer prekären Zweierbeziehung bzw. Familie bestehende inhaltliche Material – beides im Dienste einer Kritik am aktuellen „image“ der Institution „Familie“, machen für mich Lamartoras Lyrik zu einer „Poesia Povera“ – und das in mehrfacher Hinsicht.
Thematisch steht die Problematik der Krise der (Klein-) Familie – Vater, Mutter, Kind – im Vordergrund. Viele Texte sind veritable „Szenen einer Ehe“. Nicht zufällig wird der Name des schwedischen Regisseurs in einem der Texte erwähnt. Die Auseinandersetzung mit der heutzutage scheinbaren, konstatierten „Unlebbarkeit“ der sozialen Zelle „Familie“ – Vater, Mutter, Kind – findet, nicht ohne fallweise Larmoyanz, aber doch auch mit diskreter Lust an und zu einer berührenden Versöhnlichkeit, fast ausschließlich aus der Sicht des Mannes statt.
Der Schlüsselbegriff aber für alle Texte in diesem Buch ist der des VERLUSTS, „perdita“, eines Begriffs, der kultur- und zivilisationsbedingt Ausmaße, „Dimensionen“, angenommen hat, die für den Menschen heute zum Problem geworden sind – nicht nur der Verlust einst natürlicher Fähigkeiten zu sozialen Beziehungen wie Familie, Ehe, Freundschaft, Bekanntschaft etc., sondern auch der Verlust der Heimat, der Verlust einer keineswegs durch Ausbildung und Bildung gestärkten, sondern eher in Frage gestellten Menschlichkeit, Humanität…
Der Autor und Arzt Lamartora stellt keine Fragen, er konstatiert, er erstellt einen Befund. Und der ist desaströs! Manche der Texte in diesem Buch versteigen sich, sozusagen in der Nachfolge Ciorans, zu einer bitteren, fatalistischen, möglichst vollständigen Auflistung aller negativen Aspekte der menschlichen Existenz. Und doch schauen hier und dort aus dem Gemenge Zipfel von Barmherzigkeit heraus, für sich selber, für den Partner, klingen überraschend zart tönend Versöhnung an, Verständnis, Resignation, Hinnahme, Annahme der Gegebenheiten, ein Sichabfinden mit dem Vorgefundenen – und mit dem Verlust in seinem ganzen Ausmaß…
Die meisten der von mir übersetzten Gedichtbücher sind zweisprachig, „testo a fronte“, erschienen. Die Möglichkeit, die Übersetzung anhand des Originals auf Korrektheit und Gelungenheit zu überprüfen, macht den Leser zum Sub- oder Co-Übersetzer. Die Gefahr dabei – in meinen Augen – allerdings ist, dass die Auseinandersetzung des Lesers mit dem Text im Lexikalischen stecken bleibt, dass weder die Apperzeption der Übersetzung noch die des Originals dem gedanklichen und ästhetischen Gebilde TEXT gerecht wird. Deshalb habe ich mich entschieden, Enzo Lamartoras Buch Das Ausmaß des Verlusts einsprachig, nur in der Übersetzung, zu publizieren.

Hans Raimund, Hochstrass, im Jänner 2022, Nachwort

 

 

Zum 70. Geburtstag des Übersetzers:

David Axmann: Wider-Klang der Welt-Betrachtung
Wiener Zeitung, 3.4.2015

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Archiv
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Hans Raimund im Interview mit Gerhard Winkler für die Literatur-Edition-Niederösterreich am 13.4.1999 in Hochstraß.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Facebook

 

Begegnung mit der Poesie von Enzo Lamartora anhand der Sammlung Disamore (LVF). Im Dialog mit dem Autor: Diana Battaggia. Lesungen von Nadia Bruno.

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