F.W. Bernstein: Poesiealbum 359

Mashup von Juliane Duda zum Buch von F.W. Bernstein: Poesiealbum 359

Bernstein/Bernstein-Poesiealbum 359

IM BUCHHÄNDLERKELLER

Als die Berliner Mauer noch stand,
die wie so vieles plötzlich verschwand,
da gab’s noch das alte Westberlin,
den Buchhändlerkeller mittendrin,
und hinter Mauer und Pfosten
rundherum den Osten.

Der Osten, das war das russische Reich,
der Ostblock – oder wie hieß das gleich?
Im Westen gab’s das Wessiland –
so wurde Restdeutschland genannt.
Dort gab es auch die Bundeswehr,
wer dort nicht hinwollt’, kam hierher.
Das alles gab’s verdammt lang her.
Es war einmal und ist nicht mehr.

Die Zeit vergeht zwar immer schneller,
doch immer noch gibt es den Buchhändlerkeller.

 

 

 

F.W. Bernstein

wird gepriesen als „Gentleman der Gags und Grandseigneur des Grotesken“; sein lyrisches Werk vermittelt den Eindruck grenzenloser Munterkeit. Aufgrund unüblicher Bescheidenheit wurde er nicht so prominent und populär wie sein langjähriger Nächstverwandter und Geistesbruder Robert Gernhardt; eine gewisse Verwandtschaft zu sowohl Wilhelm Busch als auch Heinz Erhardt oder Eugen Roth ist unleugbar.

Ankündigung in Nora Gomringer: Poesiealbum 358, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, 2020

Stimmen zum Autor

In der Schar der frappanten Doppelbegabungen der Neuen Frankfurter Schule, zu deren Nukleus er zählte, war Bernstein als Zeichner wie als Dichter der neugierigste, der radikalste und sperrigste. Komik und Kunst machen sich selbständig, ohne Hinter- oder gar Verwertungsgedanken, manches bleibt erratisch, verschroben, schleierhaft. „Exprrnnrelle Lürik“ floß ihm ebenso aus der Feder wie der letztgültige Kampfruf „Der Reim muß bleiml“. Konventionen interessierten ihn nicht die Bohne, Marktkonformität verachtete er, Geschrei und auch das Rampenlicht waren seine Sache nicht.
Oliver Maria Schmitt

Er vermittelte die Grundlehre einer vom brutalen Geschrei der Nazis mitgeprägten Nachkriegsgeneration: Pathos ist immer falsch und muß mit Ironie gekontert werden.
Michael Ringel

Seine Gedichte streckten sich noch immer lieber in Richtung höheren Unsinns als in Richtung höherer Literatur; so entstanden im Gefolge eines poetischen Untertagebaus herrlich unangestrengt wirkende Verse, deren spezifische Art der Ironie, die Bernstein und Gernhardt pflegten, zu einer neuen lingua franca des deutschen Komödianten- und Kabarettistentums wurden.
Gregor Dotzauer

Unter Garantie kommt niemals auch nur die Spur von Pathos oder Weihe auf. Ein hoher Ton wurde nicht geduldet. Kein Thema war ihm zu gering. Vieles hat er auf die elementaren Dinge des Alltags zurückgestutzt, gepflegter Nonsens lag dabei stets auf der Lauer. Doch dahinter verbarg sich bei näherem Hinsehen und Hinhören ungleich mehr, melancholisches Leiden am Zustand der Welt inbegriffen.
Bernd Berke

Wenn der Kritischen Theorie an der Aufdeckung von Herrschaftsverhältnissen gelegen war, dann ist die Neue Frankfurter Schule keine Travestie der Frankfurter Schule – sondern ihre Vollendung. Die Kunst der Untertreibung beherrschte er ebenso vollendet wie die „Exprmntelle Lürik“.
Arno Frank

Das lyrische Gesamt- und Lebenswerk von Bernstein enträt nicht einer starken Verwandtschaft sowohl zu Busch als auch Erhardt. Von Einstein hat Bernstein das moderne Weltbild übernommen, von von Platen den vierhändig gereimten Zweizeiler. In Anlehnung an sein Gedicht zur Pfütze ist zu resümieren: F.W. Bernstein ist der Himmel auf Erden.
Eckhard Henscheid

Poesiealbum 359

Bernstein gehört mit Gernhardt, Waechter, Henscheid u.a. zur legendären Neuen Frankfurter Schule. Erdgebunden war er Kunsterzieher, aber himmelsfrei ein Hochkomiker; sein lyrisches Werk vermittelt den Eindruck grenzenloser Munterkeit. Er zeichnete und dichtete für Pardon und Titanic: „Ein Gentleman der Gags, ein Grandseigneur des Grotesken.“

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2021

 

Lest, Verdammte dieser Erde!

–Gedichte für den Depp in uns: Das Poesiealbum ehrt den unvergesslichen F.W. Bernstein. –

Es gab eine Zeit, da wollte der allseits interessierte Mensch Gedichte lesen, sich mit ihnen auseinandersetzen und verlangte gar nach mehr. Um die große Nachfrage unter der arbeitenden Bevölkerung zu stillen, erfand der DDR-Verlag Neues Leben 1967 die Heftreihe Poesiealbum, die heute vom Märkischen Verlag fortgesetzt wird.
In ihr gibt es noch immer regelmäßig anspruchsvolle deutsche und internationale Lyrik. Kompetente Experten suchen die Autoren aus und treffen für 32 Seiten (plus vier graphische Umschlagseiten) die Gedichtauswahl. Die erste Nummer des Poesiealbums war dem Revolutionär Bertolt Brecht gewidmet, einen Monat später war der russische Dichter und Kommunist Wladimir Majakowski an der Reihe, weiter ging es mit Heinrich Heine, Wulf Kirsten und Erich Weinert. Nach dem Willen der Herausgeber sollen die ausgewählten Gedichte aufklären, informieren, weiterhelfen, wachrütteln und Spaß machen. Das gilt bis heute: Von Karl Marx (32) über Kurt Tucholsky (34) und Charles Bukowski (225), Lessing, Schiller und Goethe bis Dieter Süverkrüp (130), Allen Ginsberg (127) und sogar Lenin (31) waren alle denkbaren Klassiker schon einmal vertreten. Auch die komische Kunst kam zu ihrem Recht, zuletzt mit Thomas Gsella (351). Nun darf man sich über das Heft zu F.W. Bernstein alias Fritz Weigle freuen.
Der am 4. März 1938 in Göppingen geborene und am 20. Dezember 2018 in Berlin verstorbene Dichter und Zeichner war Professor für „Karikatur und Bildgeschichte in Deutschland“ an der Berliner Hochschule der Künste, aber in die Kulturgeschichte ging er als Satiriker ein. Bereits ab 1963 lieferte Weigle Beiträge für die Satirezeitschrift Pardon, 1979 gründete er mit anderen Größen der Neuen Frankfurter Schule die Titanic. Den Zeichner Bernstein kennen junge Welt-Leser gut, denn vom 26. Oktober 2019 an veröffentlichte diese Zeitung ein Jahr lang täglich noch nie veröffentlichte Skizzen aus Weigles Nachlass. Das nun von seinem Freund Eckhard Henscheid mit viel Liebe zum Detail zusammengestellte Poesiealbum Nr. 359 kann als etwas verspäteter Abschluss dieser Aktion gelten, denn es zeigt die andere Seite von Bernstein, den Lyriker. Mit dem Schlachtruf „Der Reim muss bleim“ zog er in den Kampf um eine bessere „Exprmntelle Lürik“, machte sich lustig über den Tod, der gerne mal das „Schterben schtörte“, reimte auf Teufel komm raus den Sex zugrunde („Weg die Hände / sonst, am Ende / lass ich dich noch ran“) und präsentierte die Apokalypse des Fritz Weigle („Apokalypse-Programm“: „Montag geht die Welt zugrunde / Dienstag regnet’s und ist kalt / Mittwoch um die zehnte Stunde / wird kein Geld mehr ausgezahlt“), dass es eine Freude ist. So einen Untergang wünscht man sich.
Viele seiner Gedichte sind schönster Nonsens, mal verwirrend, dann wieder radikal, unangestrengt ironisch. Für Bäume kämpfte F.W. Bernstein ganz entschieden, der Herr Rilke wird erwähnt, und die Mädchen dieser Welt erfahren endlich etwas über die schwungvolle Liebe. Ein herrliches Gedicht ist dem Depp in uns gewidmet:

Der Depp, der lässt sich schwer regier’n
es stimmt was nicht in seinem Hirn, der Depp.

Als Zugabe gibt es im neuen Poesiealbum zwei böslustige Grafiken von F.W. Bernstein als Titel- und als Mittelblatt. Und die letztgültige Begründung der Lyrik:

Lest, Verdammte dieser Erde
lest Gedichte, lest, ich werde
Euch gleich sagen wozu.
Weil wir Dichter wie die Sterne
lärmen, reimen wir so gerne
gehm wir keine Ruh
Dubidubiduuu.

Thomas Behlert, junge Welt, 15.4.2021

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
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Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Archiv + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA

 

Eckhard Henscheid rezitiert F.W. Bernstein.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Elch
shiyan 言 kou 口
Nachrufe auf F.W. Bernstein: FAZ ✝︎ Welt ✝︎ Deutschlandfunk 1 + 2 ✝︎
Spiegel ✝︎ taz ✝︎ Revierpassagen ✝︎ Caricatura Museum ✝︎

 

F.W. Bernstein-Porträt zum Deutscher Karikaturenpreis 2011 (Ehrenpreis).

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