Felix Philipp Ingolds Fortführung seiner Übersetzungen von Benjamin Fondane

Vor nun fast einem Jahr

Mashup von Juliane Duda zu der Kategorie „adhoc“

adhoc

durften wir Felix Philipp Ingolds Übersetzung von Benjamin Fondanes „Préface en Prose“ hier vorstellen. Nun gibt es die damals gewünschte bzw. erhoffte Fortführung.

 

BENJAMIN FONDANE

Gedichte*
aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold

 

Ich mache mir Gedanken

Ich mache mir Gedanken
Über den Passanten, der die Strasse
So oft schon gesehen hat
Und sie nie wieder sehen wird.

Ich denke an den Mann, wie er
In seinen Laken eine Frau ausbreitet.
Frau ist Frau – das alte Lied!
Doch nun zum letzten Mal.

Ich denke an den gealterten Dichter.
Seht nur: Er schreibt ein Gedicht.
Und wieviele hat er schon geschrieben!
Doch dieses wird das letzte sein.

Ich denke an den Mann, wie er
Das Licht löscht und sich schlafen legt.
Wie oft ist er schon eingeschlafen!
Doch diesmal ist es für immer.

Ich denke und denke und denke
An das kurze Leben der Vergänglichen,
Die sterben und dabei die Augen öffnen.

September 1943

*

 

Hör mal, ich hab genug von der alten Melodie!
Selbst die Erde und das Wasser sind ja alte Melodien –
doch die bringen mir das Geräusch der Gischt, das
Gedicht des Honigs in den Bienenstöcken,
die grosse Ruhe der Horizonte,
aber auch den unbestimmten Geruch
von rotsträhnigem Regen, von trägen Schatten,
von Mädchen in Ohnmacht,
von unwiederbringlichem Totschnee
und von vielen andern alten Gedichten, die ich geschrieben, die ich geträumt habe
mit ihrem alten Geklöppel, ihrer alten Melancholie
und diesem Duft von Zeit im Kern der Ewigkeit.

 

*

 

Der gesammelte Schmerz dieser Welt

hat sich zu mir an den Tisch gesetzt
‒ wie hätte ich Nein sagen können?

Ich hab mich ganz klein gemacht,
wie ’ne Raupe, hab die Lampe gelöscht
‒ doch wie konnte ich wissen, dass sie in ihrem Innern heranreifen würde
und wie konnte ich verhindern, dass sie dereinst ausschlüpfen würde
mit einem Lied zwischen den Flügeln?

Zum Schmerz der Welt,
der sich unter mir hingebettet hatte,
sagte ich: Ist der, den ich habe, nicht schon genug?

Schau: Ich hab doch meinen eigenen Durst!
Man kann nicht ewig Raupe bleiben,
ich spüre die schrundige Erde am Bauch,
sie tut mir weh, eure Erde,
ich bin doch zum Fliegen geboren…

Mit einem Sprung kehrte ich ihr den Rücken –
doch sie war bereits in meinem Traum.
‒ Hatte sie es auf mein Blut abgesehn?

Zum Schmerz der Welt sagte ich:
‒ Ein Trick, nichts als ein fauler Trick.
Du haust einfach ab und singst dabei…

‒ Aber sagt mal, hättet ihr ihn vergessen können?

 

*

 

Irgendwo endet die Erde, irgendwo endet das Leben,
sei’s drum! Die Wolken
schweben im Meer der Blicke, sie schweben,
sie sind uneinholbar auf der Flucht,
und ich steh inmitten dieser Schafherde
wie einstmals als Kind,
da ich mit einem Stock in den Sand schrieb.

 

*

 

Klar, auch ich dachte einst,
es brauche die Jagd, man müsse die Zeit
wie eine flüchtige Hirschkuh verfolgen, ihr die Hörner
ausreissen, die verblutenden Stunden geniessen,
wenn sie in die Dämmerung einfallen, die ihr Antlitz dem Teich übergeben hat.
Klar, ich wollte mich nicht
von mir selbst losmachen, mich verlieren;
und diese langen ruhigen Stunden
nicht wiederfinden,
die ich hinter mir gelassen hatte,
diese Stunden neben der Zeit,
von der ich weiss, dass sie noch da ist,
sanfte reglose Stunden,
die noch nicht begriffen haben,
was ich mir von meiner Reise
in eine Zeit erhoffe, die selbst von der Zeit
nicht loskommt.

 

*

Die Zeit gehört nicht dem gedruckten Wort. Die Poesie sucht nach Freunden, nicht nach einem Publikum. So kann sie vielleicht insgeheim ihren sakralen Charakter und ihre esoterische Gemeinde wiederfinden. Vorausgesetzt, versteht sich, dass der Leser, der stets ein Vertrauter ist, es für seine Pflicht hält, das Geheimnis zu lüften, und sich entsprechend bemüht, die Ur-Schrift zu kopieren oder kopieren zu lassen.
Die Poesie wird für ein paar Wenige sein – oder sie wird nicht sein.

 

*

Die vorliegenden, hier erstmals in deutscher Übersetzung präsentierten Gedichte des rumänisch-französischen Publizisten, Cineasten und Lyrikers Benjamin Fondane (1898–1944) wurden in den Jahren 1940 bis 1944 notiert. Der Autor arbeitete damals im besetzten Paris an seinem grossen Essay über Charles Baudelaire und an einem existenzphilosophischen Werk, das 1945 (postum) unter dem Titel Der existentielle Montag und der Sonntag der Geschichte bei Gallimard erschien. Am 7. März 1944 wurde Fondane als Jude im Durchgangslager von Drancy interniert, am 30. Mai nach Auschwitz deportiert, wo er Anfang Oktober in einer Gaskammer den Tod fand. Die obigen Gedichte sind der Sammlung Au temps du poème (In der Zeit des Gedichts) entnommen, deren Erstdruck 1978 in der Revue Non lieu erfolgte. Die beigefügte poetologische Notiz entstammt dem Nachwort, das der Autor zu seiner Gedichtfolge „Der Exodus“ (1934) abgefasst hat, die erst 1965 aus dem Nachlass veröffentlicht werden konnte. Fondanes lyrisches Gesamtwerk ist in dem Band Le Mal des fantômes bei Verdier greifbar (Paris 2006).

Id.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00