Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Ausgefabelt? (Teil 1)

Ausgefabelt?

Es gibt literarische Textsorten, die es nicht mehr gibt, weil sie funktional und stilistisch nicht mehr zeitgemäss sind. Das gilt für das gross angelegte Versdrama ebenso wie für die kleine Erzähl- oder Gedichtform der Fabel. Die Fabel gehört zu den ältesten literarischen Gattungen überhaupt; sie wurde im Orient (Sumer, Mesopotamien, Assyrien) wie in Europa (Hesiod, Äsop, Livius) während Jahrtausenden als lehrhaftes Genre genutzt, dabei jedoch – der Form und der Intention nach – nur unwesentlich modifiziert.
Fabeln schreibt und liest heute niemand mehr, da niemand mehr belehrt oder moralisch aufgerüstet werden will, schon gar nicht durch allegorische Figuren aus dem Tier- oder Pflanzenreich, die in einfachster Rede – oft auch nur durch ihr Tun – den Vorrang des Guten über das Böse oder der Vernunft über Aberglauben und Dummheit behaupten. Gerade dieser unwandelbare didaktische, aufklärerische, bisweilen ideologische Ansatz, der in der Neuzeit durch Autoren wie La Fontaine, Lessing, Gellert, Krylow besonders gepflegt wurde, scheint in den zeitgenössischen Literaturen kaum noch Interesse zu finden. Demgegenüber haben sich andere althergebrachte Textsorten (etwa das Gleichnis, die Anekdote, die Kalendergeschichte) auch in der Moderne – von Hebel bis Kafka – halten können, und mit dem Aufkommen des adogmatischen, bald skeptischen, bald frivolen Prosagedichts – Maurice de Guérin und Charles Baudelaire sind beispielhaft dafür – ist die Fabel als literarische Gattung vollends obsolet geworden; lediglich im Kinderbuch hat sie als Begleittext zu Bildern ihren Platz gehalten.

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© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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