Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Undingpoesie (Teil 1)

Undingpoesie

 

Dass es ausser der realen Dingwelt auch eine digitale Welt der Undinge gibt, hat schon vor einem halben Jahrhundert der Medienphilosoph Vilém Flusser konstatiert. Er tat es mit dem entschiedenen Hinweis darauf, dass die bevorstehende Wende von der Dingwelt zur apparativen Welt virtueller Realität notwendigerweise das Ende der «Geschichte» herbeiführen werde. Flusser hat das damals keineswegs als Bedrohung oder als unkompensierbaren Verlust begriffen, vielmehr als Eröffnung einer «nachgeschichtlichen» Menschheitsepoche, in der die konkret gegebene Welt zurücktritt hinter eine gleichermassen reale, wenn auch rein fiktive Welt, die vorrangig aus immateriellen Informationen oder schlicht aus «Bedeutung» besteht.

Als Träger solch fiktiver Welten kommen heute Tablets, Smartphones, Hologramme, Cyberhelme und -handschuhe, Hand- und Fusstracking zum Einsatz – künstliche Intelligenz zur Erzeugung und Wahrnehmung virtueller Realien, die sich nun eben als solche konkretisieren: mögliche Welten – einstmals entrückte, abstrakte Fremdwelten – sind inzwischen gleichsam bewohnbar, begehbar und vielfältig nutzbar geworden. Die Wirklichkeit des Unwirklichen baut sich auf als eine gleichrangige Gegenwelt zur materiellen Lebens- und Gegenstandswelt.

«So entstehen um den Menschen herum zwei Welten», sagte Flusser lakonisch voraus: «Die Welt der ‹Natur›, der vorhandenen, zu begreifenden Dinge. Und die Welt der ‹Kultur›, also die der zuhandenen, informierten Dinge.» Die heraufkommende Welt der «informierten Dinge» werde sich von der fassbaren Gegenstandswelt emanzipieren, werde sich verselbständigen und einen eigenen «kulturellen» Status gewinnen: «Eine Befreiung der Software von der Hardware. Wir haben es übrigens gar nicht nötig, futurologisch zu phantasieren – die wachsende Undinglichkeit und Weichheit der Kultur ist bereits gegenwärtig, ein tägliches Erlebnis. Die Dinge um uns herum schrumpfen (‹Miniaturisierung›) und werden immer billiger, und die Undinge um uns herum schwellen an (‹Informatik›).»

Diese neue mögliche Welt etabliere sich als ungegenständliche Infosphäre und stehe generell für eine neue Menschheitskultur, die gleichermassen «flüchtig und ewig» sei.

… Fortsetzung hier

 

© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten

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