Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Wozu das Gedicht? (Teil 1)

Wozu das Gedicht?

 

Wie sehr ich Hermann Brochs grosses Erzählwerk vom «Tod des Vergil» (1936-1945) in meiner späten Schul- und frühen Studienzeit zu schätzen wusste, ist belegt durch die vielen Unterstreichungen und marginalen Ausrufezeichen in meinem Leseexemplar von 1958. Nachdem ich das Buch neulich über die ganze Strecke von 533 Seiten mit grösster Anstrengung und Irritation wiedergelesen habe, fällt es mir schwer, nein, ist es mir unmöglich, meine einstige Begeisterung nachzuvollziehen, eine Begeisterung übrigens, die ich als Jungleser mit Hannah Arendt und Thomas Mann geteilt hatte.
Heute kann ich meinem damaligen Lieblingsbuch nichts mehr abgewinnen und bin einigermassen verwundert darüber, dass es weiterhin als kanonisierter Klassiker der Moderne rubriziert und belobigt wird. Broch selbst hat den «Tod des Vergil» gelegentlich als «Gedicht», als «Romandichtung» bezeichnet oder auch als einen «lyrischen Kommentar» zum Thema des Sterbens, konkret: zum letzten Tag im Leben des römischen Grossdichters, vorgetragen in wortreichen Erwägungen und pathetischer Rhetorik, alles darauf angelegt, die Verskunst Vergils in rhythmisierter deutscher Prosa nachzubilden, doch allzu oft scheiternd an dem Punkt, wo angestrengte Erhabenheit zum Kitsch mutiert und die Sprache bloss noch zwischen o! … oh! und ah! … ach! sich auslebt.
Doch das ist nicht das Thema hier. Als Erzählwerk kann Brochs Roman bestenfalls noch literarhistorisches Interesse beanspruchen. Durchaus aktuell beziehungsweise aktualisierbar sind indes die weitläufigen Reflexionen über Auftrag, Funktion und Sinn der Poesie, die teils vom Titelhelden monologisch vorgetragen, teils in kontroversem Zwiegespräch mit Kaiser Octavian (Augustus) entwickelt werden. Es geht dabei um die Grundsatzfrage, inwieweit die Dichtung dem Staat, der Gesellschaft zu «dienen» habe beziehungsweise «angemessen» und «nützlich» sein müsse, und auch darum, ob und wie sich die Dichtung als Kunst – mit dem Vorrang der Schönheit vor der Wahrheit – behaupten und rechtfertigen könne.

Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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