Ferne Zeitgenossen (XIV)

Ja, ich bin alt genug, um Ingeborg Bachmann persönlich gekannt haben zu können.
Aber was heisst schon können und kennen!
Ich habe sie ein einziges Mal gesehen, gehört, kurz mit ihr geredet, als sie 1959 in meinem Gymnasium mit einer Lesung zu Gast war. Vor dem Auftritt musste sie von meinem Französischlehrer, der sie eingeladen hatte, gestützt werden, sie taumelte, schüttelte den Kopf, brachte ihr strähniges Haar zum Fliegen.
Von der Lesung ist mir nichts in Erinnerung geblieben, nichts jedenfalls von ihren Gedichten, nur der Eindruck, dass hier – damals! – eine schon leidlich berühmte Autorin eigene Texte vortrug, die sie eigentlich für sich behalten wollte. Fast musste sie zum Lesen gezwungen werden. Was dann folgte, war für mich höchst eindrücklich, dabei verwirrend und auch ein wenig provokant:
Die Bachmann schien die Texte eher in sich hineinzuwürgen, als dass sie sie für das Publikum freigegeben hätte; sie räusperte sich unentwegt, verschluckte sich, ihre Stimme verringerte sich zu einem Wimmern und wurde nur momentweise durch einen tiefen Atemzug wiederhergestellt und weiter vorangetrieben.
Die Zuhörer applaudierten zurückhaltend, wohl in der Ungewissheit, ob das Klatschen die Autorin noch mehr verunsichern, sie vielleicht sogar verletzen und vertreiben könnte.
Aber nein.
Nach der gespenstischen Veranstaltung ging es weiter in die Basler Kunsthalle. Zusammen mit einem knappen Dutzend neugieriger oder auch bloss mitleidiger Verehrer begleitete ich die Dichterin dorthin zu Fuss. Der nun sichtlich erleichterte Moderator ging mit ihr voran, sie hatte sich bei ihm locker untergehakt, schritt kräftig aus, sprach vor sich hin, lachte immer wieder laut auf, wippte das dichte Blondhaar über die Schulter.
Ich ging ein paar Schritte hinter ihr, sah mit postpubertärer Faszination, wie ihr enger strohgelber Schlitzrock sich um ihre Hüften spannte; wie darunter ihre Unterhose sich abzeichnete; wie der Reissverschluss überm Kreuz sich Zacke um Zacke öffnete … Konnte nur noch staunen, wie rasch sich die Märtyrerin, die sich eben noch schluchzend ans Lesepult geklammert hatte, draussen auf der Strasse in eine attraktive junge Frau mit zielstrebigem Auftritt und lebhaftem Mundwerk verwandelte.
In der Bar der Kunsthalle kam es bei herbem elsässischen Weisswein zu einem vielstimmigen Gespräch „über alles und noch viel mehr“. − Ein unvergesslicher Abend. − Ingeborg Bachmanns Verse waren spurlos verweht.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00