Ich erinnere mich…

… wie ich als frischer Leser, vor nun also einem halben Jahrhundert, jeweils mit Ungeduld und in freudiger Erwartung die neuen Bücher zeitgenössischer Autoren erwartete – Eich, Aichinger, Bachmann, Nossack, Johnson, Krolow, Frisch, aber auch Böll, Heckmann, Nonnenmann, Enzensberger, Faecke, Jägersberg, Rasp, selbst von Jünger, von Schaper oder Erhard Kästner bekam man damals noch Neues zu lesen.
Heute brauche ich kaum noch aktuelle Lektüren, kaum ein neuer Text kann mich so weit interessieren, dass ich mehr als ein Durchblättern, allenfalls eine punktuelle Lektüre investieren möchte. Entdeckungen, Überraschungen ergeben sich mir fast nur noch im Rückgriff auf längst Gelesenes oder bisher Übersehenes. Mich selbst erstaunt’s, mit welch jungendlicher Begeiste
rung ich jetzt Parmenides, Epiktet, Boethius lesen kann, auch Seneca oder Montaigne, zu schweigen von Valéry, Kafka, Solmi, Borges, Beckett, Manganelli, Cioran, deren wiederholte Lektüre, entgegen sonstiger Erfahrung, an Intensität immer noch einmal gewinnt.
Mir scheint der «Fortschritt» in Literatur und Philosophie heute umgekehrt zur Chronologie zu verlaufen. Frühere, frühste Texte zu lesen, hat für mich grössere Aktualität als das meiste, was als aktuelles Angebot derzeit auf den Markt kommt. Insofern bin ich, nicht ungern, ein Reaktionär. Das mag inzwischen eine Alterserscheinung sein. Die Lebenszeit nimmt ab, man scheut – gerade auch beim Lesen – Sackgassen und Risiken.
Statt Neuerscheinungen aller Art, die man aus professionellen Gründen gelesen haben müsste, gilt das Interesse nun eher dem, was man zum Nachdenken, vielleicht gar zum Leben, statt bloss zum Weiterschreiben braucht. Nur dort ist intensive Lektüre noch möglich, wo man nicht partiell auf etwas Vorbestimmtes hin zu lesen hat, sondern sich ganz dem aussetzt und öffnet, was da steht. Ganzheitlich lesen heisst gleichgültig lesen, so nämlich, dass der Text in all seinen formalen und inhaltlichen Komponenten als gleichermassen gültig wahrgenommen wird.
Mehrfach habe ich – und wer hat’s nicht getan? – die dreibändige Nietzsche-Ausgabe von Schlechta durchgearbeitet, jedesmal unter einem wieder andern thematischen Aspekt. Doch eine derart spezialisierte Lektüre ermöglicht keine adäquate Rezeption, sie bleibt weit davon entfernt, dem Text ausser einem bestimmten Informationswert etwas abzugewinnen, das über die im Text angelegte Bedeutung, ja über die Intentionen des Autors hinausreicht – hinaus, und das heisst hinein in den dunkleren Raum der eigenen Nachdenklichkeit.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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