Sublim

Welcher Radiosender – ausser Espace 2 – würde es wagen oder auch nur in Erwägung ziehn, eine längst vergessne Nobelpreisrede von einem kaum noch erinnerlichen Dichter zur Frühstückszeit auszustrahlen?
Ausstrahlen ist hier das richtige Wort, auch wenn der dezidierten Greisenstimme von Saint-John Perse jeglicher Glanz fehlt; Strahlkraft gewinnt sie aus dem Vorgetragnen, nicht aus dem Vortrag.
Noch 1960 kann Saint-John Perse vor den Ohren der Weltöffentlichkeit in erhabner Rede, in perfekt konstruierten Perioden 
die Gleichrangigkeit von künstlerischer und wissenschaftlicher Genialität behaupten, ohne sich und seine Botschaft der Lächerlichkeit preiszugeben.
Da ist man plötzlich wieder im Bannkreis Stefan Georges oder der Fackel von Karl Kraus, wo die Sprache der Dichtung, weit abgehoben von schussliger Alltagsrede, mit dem Sprechen der Sprache selbst zu korrespondieren suchte.
Heute wird solches Reden weithin als unerträglich empfunden. Heute soll Poesie, soll Prosa sich dem Alltagsparlando angleichen, der Dichter soll reden wie du und ich, er darf labern und witzeln und eifern und hetzen. Untersagt ist ihm der hohe Ton.
Der hohe Ton gilt durchweg als unglaubwürdig, er kann nach allgemeinem Dafürhalten nur falsch sein, ist akzeptabel allenfalls als Parodie. Unter diesen Bedingungen tendiert die dichterische Rede eines Peter Huchel, eines Paul Celan, einer Ingeborg Bachmann bereits deutlich zur Selbstparodie.
Sprachlich Abgehobnes findet – ausser bei unverbindlichem Wortspiel – keinen Zuspruch mehr, wird kaum noch verstanden, bleibt dennoch unverzichtbar für ein Sprechen, das sich als ein Sprechen mit der Sprache und über die Sprache versteht; unverzichtbar für die Dichtung als Wortkunst.
Als Letzter hat wohl Joseph Brodsky mit seinem nuschelnden Pathos gegen die Diktatur der Alltagsrede und der politischen Phrase angesungen. Am Rand zur Lächerlichkeit ist dieser Gesang verstummt, zu früh. Heute wird Dichtung meist prosaisch vom Blatt gelesen oder – im Gegenzug – performativ vorgetragen; was in aller Regel nicht zum Text führt, sondern von ihm fort.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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