Theater

Von Pawel Florenskij gibt es ein leichthändiges Feuilleton, das äusserst prägnant ein Theaterereignis in der russischen Provinz vergegenwärtigt. Bemerkenswert ist der kurze Text vor allem deshalb, weil das Ereignis – die Aufführung – kaum erwähnt, der Weg aber, die umständliche Anreise zum Veranstaltungsort, ausführlich geschildert wird. Offenbar hat Florenskij die Suche nach dem abgelegnen Ort des theatralischen Geschehens als eine Art Pilgerreise imaginiert, deren physische Anstrengungen und Entbehrungen die Erwartung der Zuschauer so konditionierte, dass die gewöhnlichste Aufführung zum «Wunder» werden konnte.
(Ich selbst bin kein häufiger Theaterbesucher, eigentlich kann ich das Theater jenseits von Rampe und Vorhang nicht mehr sonderlich aufregend finden, seitdem ich in dem Stück, das schon allzu lang unterm Titel Mein Leben fast ereignislos daherdümpelt, immer öfter ins Stolpern und Stammeln gerate, wissend, das Theater ist hier wo ich’s bin, mich schämend vor mir selbst ob meiner permanent schwachen Performance, die wie ich fürchte zurückzuführen ist darauf, dass ich dieses mir auf den Leib geschriebne Stück schon lange nicht mehr ernst nehmen kann, dass ich kein Interesse, kein Verständnis für dessen Inszenierung habe, was wiederum meiner ohnehin galoppierenden Verblödung zugute kommt und übrigens die Frage aufwirft, ob ich nicht deshalb ein so mieser Darsteller bin, weil ich in Mein Leben nie die Hauptrolle übernehmen wollte, stattdessen aber sämtliche Neben- und Statistenrollen in rasendem Wechsel zu spielen versuchte.)

Seit längerm meide ich die grossen Theater, reise lieber und immer häufiger und auch immer tiefer in die Provinz, um mir niemands Tragödien in einem Feuerwehrmagazin, in einer Turnhalle, einem Gemeindehaus anzusehn. Kürzlich fuhr ich mit dem Auto 637km von R. nach N. und zurück, hatte zwei Alpenpässe zu überwinden und traf grade noch rechtzeitig zur Premiere von Ibsens Jon Gab­riel Borkman ein, die in der Mehrzweckhalle von N. gegeben wurde. Furchtbar. Und … aber keineswegs zu bereuen. Die Anfahrt war Aufführung genug.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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