Francine du Plessix Gray: Majakowskis letzte Liebe

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Francine du Plessix Gray: Majakowskis letzte Liebe

Gray-Majakowskis letzte Liebe

V

Majakowskis letzte Lebensmonate waren von vielen Kümmernissen geprägt. Sem Stück Das Schwitzbad – eine heftige Attacke auf die zunehmend autoritäre Sowjetbürokratie, die aus seiner Sicht dabei war, die Revolution von 1917 zu verraten – wurde mit „tödlicher Eiseskälte“ aufgenommen, wie einer seiner Schriftstellerkollegen formulierte.1 Aber die Animosität des Publikums nahm immer persönlichere Züge an. Obwohl er den Wagen, den er Lili aus Paris mitgebracht hatte, nur selten benutzte und sie dafür auch jedesmal erst um Erlaubnis bitten mußte, wurde ihm der Besitz eines solchen Luxusguts angekreidet (ein nachvollziehbarer Tadel, wenn man bedenkt, daß es in der gesamten Sowjetunion seinerzeit höchstens ein paar Hundert Privatwagen gab). Ja, man kritisierte ihn sogar wegen des ausländischen Füllhalters, den er immer bei sich trug – der Waterman, den meine Mutter ihm zum Abschied geschenkt hatte. Seine am 30. Januar 1930 eröffnete Ausstellung Zwanzig Jahre Arbeit – Plakate, Gemälde, Graphiken, verschiedene Ausgaben seiner Bücher – wurde von allen offiziellen Schriftstellergruppen boykottiert und fast ausschließlich von Studenten besucht. Er eilte „mit traurigem Gesicht und auf dem Rücken verschränkten Armen“ durch die leeren Räume („Stell Dir vor, Noroschka, nicht ein einziger Schriftstellergenosse kam!“,2 beklagte er sich gegenüber der Polonskaja). An einem Januartag las er im Bolschoi-Theater – in Anwesenheit von Stalin und Wjatscheslaw Molotow – seine Ode an Lenin, aber selbst diese Ehrung vermochte ihn nicht aufzumuntern. Der Winter 1929–1930 war für ihn offenbar eine Phase künstlerischer Mißerfolge. Er fühlte sich zunehmend isoliert und spürte, daß er eine regelrechte Schreibblockade hatte3 – außer dem Poem „Aus vollem Halse“ brachte er nichts zustande. Dieses Gedicht, in dem er sich selbst als „tätig / in niedren Berufen“ beschreibt, „durch die Revolution / dann mobilisiert / und an die Front / berufen“ und in dem er beklagt, er sei „grob / meinem Lied / auf die Kehle getreten“, verrät auf eindrucksvolle Weise das ganze Ausmaß seiner Desillusionierung. Es zeigt, daß ihm immer schmerzlicher bewußt wurde, welche Diskrepanz zwischen den kommunistischen Idealen und der Realität in der Sowjetunion bestand, zwischen seinen persönlichen Sehnsüchten und dem Würgegriff des Kollektivs, zwischen der Gängelei des Sowjetstaats und der Freiheit, die für das psychische Überleben eines Dichters unerläßlich war.
In den Wintermonaten, kurz nach der Hochzeit meiner Mutter, wurde die Polonskaja nach eigener Aussage zunehmend von Majakowski bedrängt, sie möge ihren Mann verlassen und ihn heiraten. Doch nach Neujahr begann eine schwierige Phase in ihrer Affäre: Nora war von ihm schwanger geworden und hatte abgetrieben; danach war ihre sexuelle Lust auf ihn erloschen. Freunde stellten fest, daß ihn „eine Stimmung von Hilflosigkeit, Einsamkeit und Kummer (…) befallen hatte“4 und daß er zum ersten Mal in seinem Leben sehr viel trank. 

Mitten in diesem emotionalen Chaos entfremdete sich Majakowski seinen alten Freunden noch zusätzlich, als er im Februar 1930 in die RAPP eintrat – auf Drängen von Ossip Brik, der darin einen Weg für den Dichter sah, aus seiner Isolation auszubrechen (eine der eher konfusen Ideen Briks). Die der Parteilinie der KPdSU verpflichtete RAPP hatte bereits begonnen, unabhängigere sowjetische Intellektuelle wegen „Anarchismus“ und „trotzkistischen Abweichlertums“ zu attackieren, und wurde gerade von denjenigen Schriftstellern, die Majakowski am meisten schätzte – Pasternak und Achmatowa –, mit Abscheu betrachtet. Aber selbst diese sinistre Gruppierung reagierte auf Majakowskis Schritt nur mit Geringschätzung: Die RAPP-Funktionäre ordneten ihn einer kleinen Sektion zweitrangiger Jungautoren zu und unterzogen ihn der demütigenden Prozedur einer „Umerziehung“. Seine Lesungen wurden immer öfter durch Zwischenrufe aus dem Publikum gestört, und selbst Studenten – normalerweise seine eifrigsten Anhänger – begannen an seinen Gedichten herumzumäkeln, weil sie zu unverständlich seien. Hinzu kam, daß auch die Wohnung der Briks ihn nicht über seine Einsamkeit hinwegzutrösten vermochte: Ossip und Lili waren in jenem Winter gemeinsam nach England gereist. Zum ersten Mal, seit sie zu dritt zusammenlebten, war er sich in der Gendrikow-Straße allein überlassen. Außer Nora gab es niemanden, an den er sich hätte wenden können, weshalb er sie permanent mit Beschlag zu belegen versuchte. Es kam zu heftigen Wortgefechten, da die Polonskaja sich um ihre angehende Karriere kümmern wollte.
Am 11. April 1930 hatte Majakowski einen Lesetermin, zu dem er – erstmals in seinem Leben überhaupt – nicht erschien. Zwei Tage später rief er verschiedene Freunde an, um sich mit ihnen zum Abendessen zu verabreden, und mußte zu seinem Kummer erfahren, daß keiner von ihnen Zeit hatte. „Da kann man eben nichts machen“, hörte ein Kollege ihn zum Abschied murmeln. Schließlich ging er zu seinem Freund Walentin Katajew, der folgende Szene beschreibt: Den ganzen Abend lang kritzelten Wolodja und Nora Notizen auf kleine Pappfetzen aus einer Schokoladenverpackung, die Majakowski, der in dieser Nacht mehr trank als je zuvor, mit der Geste eines Roulettespielers quer über den Tisch zu Nora hinüberschob. Um drei Uhr in der Früh gingen sie zu Majakowskis Atelier in der Lubjanski-Passage. Noras Memoiren zufolge stritten sie sich sehr, und nachdem sie ein paar Stunden geschlafen hatten, ging der Streit am nächsten Morgen – es war der 14. April – von neuem los: Er bedrängte sie, bei ihm zu bleiben, während sie auf keinen Fall ihre Probe versäumen wollte. Wenn er sich weiter so besitzergreifend verhalte, sagte sie ihm, werde er sie nie wiedersehen.
Nachdem es ihr endlich gelungen war, sich dem eisernen Griff ihres Liebhabers zu entziehen, stürmte Nora um zehn Uhr fünfzehn aus der Wohnung. Ein paar Sekunden später hörte sie im Treppenhaus den Pistolenschuß. Sie rannte in sein Zimmer zurück. Der Schmauch hatte sich noch nicht verzogen.

Zu den zahlreichen Mythen, die sich um das Thema des Selbstmords ranken, gehört auch der, daß diejenigen, die viel davon sprechen, ihn nie begehen. Wie oft aber hatte Majakowski dieses Szenario seit seiner Jugend dichterisch beschworen!

Es ist wahrscheinlich besser,
ich setze
am eigenen Ende der Kugel Punkt
, 

hatte er 1915 in der „Wirbelsäulenflöte“ geschrieben. Oder, 1922, in „Das bewußte Thema“: 

Hebe mal
aaaaaaaDeinen Arm,
Und die Kugel
aaaaaaaaaaaZeigt dir
aaaaaaaaaaaaaaaaaaDie kürzeste Strecke
Ins Jenseits, rauchend und warm.

Doch als der Selbstmord tatsächlich passierte, kam er daher mit der Wucht einer nationalen Katastrophe. Pasternaks Bericht über das Chaos, das der Tod des Dichters in Moskau auslöste, gilt heute als geradezu klassische Schilderung des Geschehens: 

Zwischen elf und zwölf zogen Wellen, die der Schuß geboren, immer noch weitere Kreise. Die Nachricht brachte die Telefondrähte zum Schwanken, sie überzog die Gesichter mit Blässe und trieb alle zur Lubjanskij-Querstraße, über den Hof ins Haus, wo sich schon auf der ganzen Treppe Menschen aus der Stadt sammelten, sie weinten und drängten sich gleich den Hausbewohnern, durch die Macht des Ereignisses durcheinandergewürfelt und efeugleich an die Wände getropft.5

Auch hinsichtlich des zentralen Motivs für den Freitod Majakowskis ist Pasternaks Analyse sehr einleuchtend:

Mir scheint, Majakowskij hat sich aus Stolz erschossen, weil er in sich (…) etwas verurteilte, mit dem sich seine Eigenliebe nicht abzufinden vermochte.6

Der Dichter hinterließ einen Abschiedsbrief „An alle (Vsem)!“ – geschrieben in großer, klarer Handschrift auf drei großformatigen weißen Bogen –, mit dessen Abfassung er offensichtlich zwei Tage vor seinem Tod begonnen hatte. Der Anfang lautet:

Gebt niemandem die Schuld, daß ich sterbe, und bitte kein Gerede. Der Verstorbene hat das ganz und gar nicht gemocht. Mama, Schwestern, Genossen, verzeiht mir, das ist keine Lösung (andern rate ich davon ab), aber für mich gibt es keinen Ausweg mehr.7 

Aus Dokumenten des Majakowski-Museums geht hervor, daß ein hoher Offizier der Geheimpolizei, deren Zentrale sich ja in unmittelbarer Nähe befand, nach Nora der erste Bekannte des Dichters war, der in sein Zimmer eilte. Er nahm sämtliche Papiere Majakowskis an sich und übergab die meisten davon ein paar Tage später den Briks, die die Nachricht in Berlin erhalten hatten und umgehend nach Moskau zurückgekehrt waren. „Ich krame in Wolodjas kleinen Papieren herum“, schrieb Lili ein paar Wochen nach der Tragödie an einen Freund, „und manchmal scheint mir, ich tue, was ich zu tun habe.“8 In der seriösen Majakowski-Forschung wird allgemein davon ausgegangen, daß Lili die Briefe meiner Mutter innerhalb weniger Wochen nach dem Tod des Dichters verbrannte. Davon war auf jeden Fall meine Mutter selbst überzeugt, und sie behauptete auch, Beweise dafür zu haben: „Es war unerhört von Lili, meine Briefe zu verbrennen“, sagte sie 1981 in einem ihrer Gespräche mit Smakow.

Sie hatte kein Recht dazu… Ich habe ihr verziehen, weil sie sich in einer kurzen Notiz, die mir von einem sowjetischen Professor ausgehändigt wurde, dazu bekannte… Aber ich verstehe einfach nicht, weshalb sie es getan hat. War es Eifersucht? Warum sollte sie alle Spuren und Beweise seiner Liebe zu mir zerstören? Wenn das ihre Absicht war, dann hätte sie das Gedicht „Brief an Tatjana Jakowlewa“ verbrennen sollen… Aber, naja, das stand nicht in ihrer Macht.“9

Einen möglichen Beweis für Majakowskis Liebe zu meiner Mutter gab es allerdings, den Lili nicht zu vernichten beschloß – ein Gedicht ohne Titel, das sich unter den letzten Einträgen in seinem Notizbuch befindet und heute als eines der bedeutendsten Werke seiner gesamten Liebeslyrik gilt. Es war das nämliche Gedicht, aus dem er mehrere Zeilen für seinen Abschiedsbrief übernahm (von mir hier nicht kursiviert wiedergegeben): 

Es ist nach eins wahrscheinlich schläfst du schon
Ich seh die Milchstraße als
Oka glitzern
Wozu dich wecken oder stören ich verschon
Dich mit Depeschen der Gedankenblitze
Wie man so sagt der Fall ist erleidigt
Das Boot meiner Liebe am Alltag zerschlug
Wir beide sind quitt und hiermit befrei ich dich
Von der Frage wer wen betrog und ertrug
Nun sieh dir diese tiefe Stille an
Die Nacht verlangt vom Himmel Sternen-Obolus
In solchen Augenblicken redet man
Zu den Epochen und dem ganzen Globus.

In seinem Abschiedsbrief gab es nur ein Wort aus dem Gedicht, das er geändert hatte: Die Zeile „Wir beide sind quitt“ heißt dort „Bin quitt mit dem Leben“.10

 

 

 

1928

verliebte sich der Revolutionsdichter Wladimir Majakowski auf einer Reise in Paris in Tatjana Jakowlewa, der er zwei unsterbliche Poeme gewidmet hat. Die Verbindung stand unter keinem guten Stern: In Moskau wachte Lily Brik, Muse und Quälgeist, darüber, daß die Liebenden getrennt und Briefe unbeantwortet blieben; Tatjana heiratete einen französischen Diplomaten, Vater der Autorin dieses Buchs; Majakowski, isoliert und verzweifelt, erschoß sich kurz danach, während Tatjana nach dem Krieg zu einer Ikone der Modewelt Manhattans aufstieg. Das Geheimnis ihrer großen Liebe bewahrte sie bis an ihr Lebensende. Ihre Tochter hat es gelüftet und diese bittersüße Geschichte aufgeschrieben.

Berenberg Verlag, Klappentext, 2008

 

Amour triste

Am 25. Oktober 1928 kniete ein sowjetischer Dichter auf einem Trottoir in Paris nieder, um einer jungen russischen Emigrantin seine Liebe zu gestehen. Was sich wie eine literarische Fußnote zum Thema „Große russische Seele“ ausnimmt, beschäftigte in der Folge politische Kreise in Ost und West.
Der schmachtende Poet war immerhin Wladimir Majakowski, vormaliger Futurist und selbsternannter Propagandist der Revolution. Das Objekt seiner Begierde hieß Tatjana Jakowlewa und hatte gleichermaßen einen Hang zur Poesie wie zu Adelstiteln. Die weitgehend keusche Liaison konnte weder der Familie der Jakowlewa noch dem russischen Geheimdienst, der Tscheka, gefallen. Mit der Publikation von Gedichten für seine neue Flamme eröffnete der Dichter eine weitere Front: Lilja Brik, die lange Zeit mit Ehemann Osip und Majakowski in einer Menage à trois lebte, zeigte wenig Lust, ihren Platz als Muse zu räumen.
Das Scheitern der Beziehung war somit vorgezeichnet, und der Weg dorthin vollzog sich mit der Unerbittlichkeit eines Dostojewski-Romans, wenngleich rascher. Die Genossen ließen Briefe zwischen Paris und Moskau verschwinden, und die Verwandten der Jakowlewa suchten nach – in ihren Augen – besseren Kandidaten für die exzentrische junge Dame. Lilja Brik wiederum wurde von ihrer in Paris lebenden Schwester Elsa Triolet, Autorin und Gefährtin des Surrealisten Louis Aragon, laufend informiert und fädelte eine Affäre des russischen Dichters mit einer jungen Schauspielerin ein.
Es kam, wie es kommen musste: Tatjana Jakowlewa nahm im Herbst 1929 den Heiratsantrag eines anderen Mannes an, Majakowski saß deprimiert in Moskau und konnte aufgrund der neuen Anordnungen Stalins nicht mehr ausreisen. Sein satirisches Stück Die Wanze war keineswegs das, was sich die tonangebenden Funktionäre des Proletkults vorgestellt hatten. Am 14. April 1930 schießt sich Wladimir Majakowski mit einer Pistole ins Herz.
Tatjanas Tochter, Francine du Plessix Gray, hat diese Geschichte aufgeschrieben. Und warum sollte man sie lesen? Weil der stilsichere Text Alltagsgeschichte und große Politik in unpathetischer bis ironischer Weise miteinander verzahnt. Weil die Konstellation wie eine Anregung zu Sartres Das Spiel ist aus anmutet. Und weil gute Bücher einfach gelesen werden wollen.

Gerald Jatzek, Wiener Zeitung, 2.3.2009

Emotionaler Rettungsanker

– Zwei Jahre vor seinem Selbstmord hatte sich der Revolutionsdichter Wladimir Majakowski in die Exilrussion Tatjana Jakowlewa verliebt. Für ihn war die Verbindung so etwas wie ein emotionaler Rettungsanker. Sie selbst hatte meist nur in Andeutungen über ihre Liebe gesprochen, die vorhandenen Dokumente galten als Geheimnis umwoben. –

Erste und letzte Lieben haben immer etwas, was Geheimnis und Dramatik verheißt. Und wenn die Liebenden auch noch prominent sind, wird unser Voyeurismus in besonderer Weise angesprochen.
Der prominente Liebende war der Dichter Wladimir Majakowski – eine Art Popstar seiner Zeit. Wenn er seine Gedichte – wie es damals in der Sowjetunion üblich war – auf großen Plätzen oder in Stadien sprach, tobte die Jugend. Majkowski war das, was man gemeinhin einen richtigen Kerl nennt: kantig, charmant, elegant und sehr liebevoll. Ein Mann, dem viele, schöne, kluge Frauen zuflogen.
Eine von ihnen war die Mutter der Autorin, die Russin Tatjana Jakowlewa. Sie selber hatte meist nur in Andeutungen über ihre Liebe zu Majakowski gesprochen. Die vorhandenen Dokumente, ein Reihe von Briefen, galten als Geheimnis umwoben. Die Romanze von Tatjana mit dem Dichter dauerte etwa 18 Monate bis zu seinem Tod – da war er 36 Jahre alt.
Majakowski, Jahrgang 1893, wurde in einem kleinen Dorf im Westen Georgiens geboren. Er interessierte sich von frühester Jugend an für politische Vorgänge. In der kulturellen Szene wurde er durch sein futuristisches Manifest „Eine Ohrfeige für den öffentlichen Geschmack“ zum umjubelten Star, der auch viel dafür tat als „junger Wilder“ in die Schlagzeilen zu geraten.
Dass dieser Kerl aber eine äußerst zarte Seele hatte, verletzlicher war, als er zugeben wollte, erkannten vor allem die Frauen. Unter den zahlreichen, die seiner Faszination erlagen, war Lilja Brik, mit der er in einer Ménage à Trois – Lilja Brik, Ossip Brik, ihr Mann, und Wolodja – bis zu seinem Lebensende zusammen lebte.
Majakowski war grundsätzlich ein komplizierter Mensch.
Zum einen maßlos auf seine Individualität bedacht, zum anderen ein mächtiges Sprachrohr des kommunistischen Kollektivs. Dieser Bruch zwischen privatem Anspruch und öffentlicher Aktivität musste zur psychischen Zerreißprobe führen und seine Depressionen nachhaltig fördern.
Die generelle politische Situation tat ihr Übriges. Nach Lenins Tod 1924 wurde dessen relativ tolerante Haltung den Künsten gegenüber durch Stalins rigide Doktrin des sozialistischen Realismus verdrängt. Majakowski wurde wegen bürgerlichen Individualismus getadelt – und solcher Tadel durch Stalin und seine Handlanger war nicht ungefährlich.
Majakowskis Verzweiflung an den Zuständen steigerte sich mehr und mehr. Darum war diese Liebe zu Tatjana Jakowlewa, die er bei einem Aufenthalt in Paris kennenlernte, so etwas wie emotionaler Rettungsanker. Die Jakowlewa war 13 Jahre jünger als Majakowski, stammte aus einer recht exzentrischen Familie und kam als 19-jährige nach Paris, wohin schon etlicher ihrer Verwandten emigriert waren.
Wenn das keine Story ist: der große bolschewistische Dichter macht der antikommunistischen Emigrantin in Paris schon nach 14 Tagen ihrer Bekanntschaft einen Heiratsantrag. Er schreibt Gedichte für sie, schenkt sie ihr natürlich. Majakowski bestürmte Tatjana mit Telegrammen und Briefen, die leidenschaftlicher nicht sein konnten. Er wollte seine Passion auch nicht verheimlichen und gestand sie sogar Lilja Brik. Bald überschlagen sich die Ereignisse.
1929 reiste Majakowski wieder nach Paris – das Visum war begrenzt, er selber desillusioniert. Seine revolutionäre Heimat war ein Land der Funktionäre geworden, doch in Frankreich wollte er nicht bleiben und sie, Tatjana wollte nicht wieder in die kommunistische Sowjetunion. Er fährt wieder nach Hause und sie heiratet einen reichen französischen Diplomaten. Majakowski macht in Moskau einer verheirateten, jungen Schauspielerin Avancen. Lilja Brik versucht ihn trotzdem mit allen Mitteln weiter an sich zu binden.
Seine Stücke werden scharf kritisiert, die Lyrik zum Teil als dekadent verurteilt, er beginnt zu trinken. Und was er lyrisch so oft mit großen dramatischen Worten gefeiert hat, wird zum bitteren Ernst. Am 14. April 1930 schieß er sich eine Kugel in den Kopf und hinterlässt folgendes Telegramm:

An alle! Gebt niemandem die Schuld, dass ich sterbe, und bitte kein Gerede. Der Verstorbene hat das ganz und gar nicht gemocht. Mama, Schwestern, Genossen, verzeiht mir, das ist keine Lösung (anderen rate ich davon ab), aber für mich gibt es keinen Ausweg mehr.

Diese filmreife Geschichte hat Francine du Plessix Gray, die Tochter, mit Empathie recherchiert und detailliert aufgeschrieben. Trotzdem ist es kein langatmiges Buch geworden. Ich habe es „in einem Zuge“ gelesen, mich auch noch in Majakowskis Gedichte vertieft, die das Buch ergänzen. Dass die Autorin, die Tochter der Porträtierten Tatjana, auch mit dem Weichzeichner arbeitet, der Romanze etwas mehr Tiefe gibt, als sie vermutlich hatte, macht das Buch nicht weniger lesenswert. Warum wer wen liebt – wer kann das schon beurteilen? Liebe ist immer interpretierbar. Und letzte Lieben sind ohnehin von einer besonderen Aura umgeben.

Astrid Kuhlmey, Deutschlandfunk Kultur, 22.9.2008

Un amour de M.

Ob sie Majakowskis „letzte Liebe“ war oder seine vorletzte, ob sie seine „Lieblingsmuse“ war oder eine seiner Musen, kann man offen lassen. Eine große späte Liebe war sie jedenfalls: die 22jährige russische Emigrantin Tatjana Jakowlewa, die der 35-jährige legendäre Dichter der russischen Revolution, Wladimir W. Majakowki, auf einer seiner Auslandreisen 1928 in Paris kennen lernte. Und für sie war es weitaus mehr als ein exotisches Abenteuer mit einem berühmten Künstler, der sie mit Versen wie diesen umwarb:

Keine
Götterparadiese:
Ein verschlissener
Motor,
läuft
das Herz
mit neuem Diesel
plötzlich
besser
als zuvor!

Zwei lange Gedichte widmete Majakowski Tatjana Jakowlewa. Für die vulgäre Diktion eines verletzlichen, leidenschaftlichen Dichters hatte eine auf Eleganz und gesellschaftlichen Aufstieg bedachte russische Emigrantin durchaus Sinn, die 1921 während der großen Hungersnot in ihrem Heimatland an Straßenecken Gedichte für Soldaten der Roten Armee aufgesagt und dafür Brot erhalten hatte. „Die meisten Leute, die ich hier treffe, sind ,society people‘, die keine Lust haben, ihr Hirn zu benutzen“, schrieb Tatjana Jakowlewa nach Majakowskis Abreise aus Paris Ende 1928 an ihre Mutter in Moskau.

Majakowski war eine Herausforderung für mich. „Meine“ Gedichte waren hier ein großer Erfolg. Und jetzt erscheint mir alles hier unbedeutend und banal. Er ist der erste Mann, der seine Spuren auf meiner Seele zu hinterlassen vermochte.

Dieser Mann war ein schwieriger Dichter in schwieriger Zeit, der die 13 Jahre jüngere Emigrantin vor eine schwierige Entscheidung stellte. Eine schwierigere wohl, als Karl Dedecius annahm, der 1965 Majakowskis Liebesbriefe an Lilja herausgab. Mit Lilja Brik und deren Mann, dem Literaturwissenschaftler Ossip Brik, lebte Majakowski in einer Ménage à trois von 1915 bis zu seinem Tod zusammen. Dedecius konnte noch annehmen, die „vom dichterischen Ruhm Majakowskis geblendete“ Tatjana habe den Dichter enttäuscht:

Sie wollte dem Bären nicht in den Wald folgen.

Was die Pariser Begegnung für die beiden Betroffenen wirklich bedeutete, von denen der eine, Majakowski, sich 1930 nach dem „Jahr des großen Umbruchs“ und dem Beginn der stalinistischen Diktatur das Leben nahm, und die andere, Jakowlewa, einen französischen Diplomaten heiratete und vor den Nationalsozialisten in die USA emigrierte, das erfährt man nun durch das Buch, das Jakowlewas Tochter Francine du Plessix Gray über ihre Eltern publizierte.
Diese „Eltern“ sind die Mutter und deren drei Männer: die „Herausforderung“ Majakowski, der 1940 von faschistischer Artillerie über dem Mittelmeer abgeschossene erste Ehemann Bertrand du Plessix, und der zweite Ehemann, der US-amerikanische Medienzar Alex Liberman. Das authentische Material, auf das sich die Autorin stützen kann, bilden – außer den beiden der Mutter gewidmeten Gedichten – die ihr vermachten Briefe und Telegramme Majakowskis, sowie die im Moskauer Majakowski-Museum aufbewahrten Briefe Tatjanas aus Paris an ihre in Moskau lebende Mutter.
Manches hätte man sich übersichtlicher gewünscht, vor allem eine dokumentarische Zusammenstellung der erhaltenen Briefe und Telegramme Majakowskis an Jakowlewa. (Die von ihr an ihn gerichtete Korrespondenz wurde offenbar von Lilja Brik vernichtet.) Doch eine faszinierende Lektüre sind die ins Deutsche übertragenen Kapitel aus der Biographie der Autorin über ihre Eltern allemal. Dem Leser wird vor Augen geführt, welch große Zäsur in persönlicher, kultureller und politischer Hinsicht die Selbsttötung des „Trommlers der Revolution“ bedeutete, der über sich sagte:

Ich – so groß und überflüssig.

Renate Wiggershaus, Frankfurter Rundschau, 14.10.2008

Klatschpresse-Niveau

Die Autorin hebt Majakowski als Autor in den Himmel, weil ihre Mutter einige Monate eine Beziehung mit ihm hatte. Um sich selbst aufzuwerten, muss man also den Kurzzeit-Lover auf ein Podest stellen. Verstanden hat sie ihn nicht, weder poetisch, noch politisch. Konsequent gesehen, war du Plessix Grays Mutter Majakowskis vorletzte Liebe. Aber die letzte wird mal kurz als unernsthaft abgehandelt. Das ganze Buch ist eine permanente Beziehungs-Konkurrenz, ob es sie gab oder nicht, zu Majakowskis größter Liebe, Lilja Brik. Das Niveau wird einfach dem Dichter nicht gerecht. Einzig wertvoll scheinen zwei Seiten mit Fragmenten aus einem Poem Majakowskis von 1930, die mir aus anderen Werksammlungen bisher nicht bekannt waren.

Amazon Customer, amazon.de, 10.7.2016

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Anja Hirsch: So, Genossin, Sie gestatten?
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.2008

Alexander Kluy: Als das Boot meiner Liebe am Alltag zerschlug
Der Standart, 12.9.2008

Elisabeth Wehrmann: Schuss ins Herz
Die Zeit, 9.10.2008

 

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin
Nachruf auf Francine du Plessix Gray: SZ

 

Christine Gölz: Wladimir Majakowski

Zum 85. Geburtstag von Waldimir Majakowski:

Fritz Mierau: Majakowski lesen
Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1978

Fakten und Vermutungen zum Autor + Erinnerungen + Tribute +
IMDb + Pennsound + Internet Archive 1 & 2 + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 1/2.

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 2/2.

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