Ghérasim Luca: Das Körperecho / Lapsus linguae

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ghérasim Luca: Das Körperecho / Lapsus linguae

Luca-Das Körperecho / Lapsus linguae

Ausgestreckt über der Leere
knapp über dem Tod
gespannte Ideen
der Tod ausgebreitet über dem Kopf
das Leben von zwei Händen gehalten

Zusammen die Ideen heben
ohne die Vertikale zu erwarten
und zur selben Zeit das Leben mitnehmen
vor die ziemlich gespannte Leere
Eine gewisse Zeit zum Innehalten bestimmen
Und Ideen und Tod in ihre Ausgangsposition bringen
Nicht die Leere vom Boden ablösen
Ideen und Tod gespannt betrachten

 

 

 

Ghérasim Luca: mit diesem Namen

ist nicht weniger als eine Entdeckung anzukündigen. „Le plus grand poète français“, sagt Gilles Deleuze, „mais justement il est d’origine roumaine, c’est Ghérasim Luca“, ein weiterer Autor aus der Generation von Ionesco, Cioran und Gellu Naum. Nachdem Ghérasim Luca lange vergeblich versucht hatte, außer Land zu kommen, verließ er Anfang der 50er Jahre Rumänien. Fortan schrieb Luca, der sich selbst als „étran-juif“ bezeichnete, nur mehr auf Französisch. Heute gilt Luca (1913-1994) in Frankreich als bedeutender europäischer Dichter des 20. Jahrhunderts. „Als kompromißloser Verächter von Dogmen aller Art, von Gesetzen, Ideologien und generell von religiösen oder philosophischen ‚Wahrheiten‘, für deren Durchsetzung die Sprache lediglich als Armatur benutzt – missbraucht – wird“, schreibt Felix Philipp Ingold in der „NZZ“, „meidet Luca ordentlich gebaute, auf vorbestimmte Aussagen festgelegte Satzgebilde und feiert stattdessen das einzelne Wort, dessen jeweilige Laut- oder Schriftgestalt er zum Anlaß vielfältiger Ableitungen, Variationen und Permutationen nimmt, die ihrerseits, dank subtiler Steuerung, ein neues, im eigentlichen Wortsinn ‚unerhörtes‘ Sinnpotenzial generieren. Daß Lucas Spiel mit der Sprache ein durchweg ernstes, wenn nicht todernstes Spiel ist, zeigt sich besonders deutlich bei der Auswahl seiner Themawörter, die fast ausschließlich dem weiten semantischen Einzugsbereich zwischen Liebe und Tod, Macht und Gewalt, Schmerz und Angst entstammen.“
Der Passion des Körpers und der Lust an der Sprache widmet sich auch die zweisprachige, von Mirko Bonné initiierte Ausgabe, die (fast integral) vier Gedichtbände Lucas versammelt. Die voneinander unabhängigen Übersetzungen Mirko Bonnés („Das Körperecho“) sowie Theresia Prammers und Michael Hammerschmids („Lapsus linguae“) stellen den Versuch dar, dieses „das Wort öffnende“ poetische Werk auch auf Deutsch produktiv zu machen.

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2004

 

Liechtenstein

– Ein Selbst-Vorwort. –

Es bereitet mir Schwierigkeiten, mich in sichtbarer Sprache auszudrücken. Mag sein, selbst in der Idee liegt Kreation-Kreaktion-irgendwas, irgendetwas, das dem Beschreiben entwischt, passiv wie es war, wie es ist, wie es sich notgedrungen aus einer Konzeptsprache ergibt. In einer Sprache, die der Bezeichnung der Dinge dient, hat das Wort nur einen Sinn, oder zwei, und wacht über die eingesperrte Klanglichkeit.
Bricht man die feste Form auf, wo sie verkrustet ist, treten neue Beziehungen zu Tage: Die Klanglichkeit erregt sich, schlummernde Geheimnisse werden laut, wer lauscht, wird eingeführt in eine Welt der Vibrationen, was voraussetzt, gleichzeitig körperlich an der gedanklichen Zustimmung Anteil zu nehmen.
Befreie den Atem und jedes Wort wird ein Signal. Höchstwahrscheinlich stelle ich mich damit in eine poetische Tradition, eine vage und in jeder Weise illegitime Tradition. Doch selbst der Ausdruck Poesie erscheint mir verfälscht. Vielleicht sage ich besser: „Ontophonie“. Der, der das Wort öffnet, öffnet die Materie, wobei das Wort nur der materielle Träger in einem Unterfangen ist, das auf die Umwandlung des Wirklichen zielt.
Ich will mich weniger in Verhältnis zu einer Tradition oder einer Revolution setzen als vielmehr eine Seinsresonanz enthüllen. Nicht hinnehmbar.
Dichtung ist ein „Silensophon“, das Gedicht ein Operationsfeld, auf dem das Wort einer Reihe von klanglichen Wandlungen unterworfen ist, deren Facetten jede der Mannigfaltigkeit der Sinne ein Stückweit von ihrer Überfrachtung nehmen. Ich durchlaufe heute einen Stimmraum, in dem der Lärm und die Stille einander anstoßen – Stein des Anstoßes –, in dem das Gedicht die Form der Welle annimmt, die es in Gang gesetzt hat.
Besser, das Gedicht verdrückt sich vor seinen Folgen. Mit anderen Worten : Je m’oralise.

Ghérasim Luca, Aula der Volksschule Vaduz, 1968

Wortphysik, hermetisch offen

– Ghérasim Luca, französisch und deutsch. –

Das noch wenig bekannte dichterische Werk des rumänisch-französischen Autors Ghérasim Luca (1913-1994) liegt neuerdings – erstmals in repräsentativer Textauswahl, erstmals auch in deutscher Fassung – als exzellent gestaltetes Janusbuch vor, als ein handlicher Doppelband von insgesamt 750 Seiten Umfang, der unter jeweils anderem Titel von hinten nach vorn wie – um 180 Grad gedreht – von vorn nach hinten gelesen werden kann. Im Buchinnern gibt es eine Scharnierstelle, an der die beiden Textkörper gleichsam Kopf an Fuss aufeinander treffen.
Der Objektcharakter des Buchs – seine Drehbarkeit, seine widerläufige Lesbarkeit – ist keineswegs bloss eine Marotte des Designers, sondern wurde erarbeitet in struktureller Übereinstimmung mit Lucas Texten, die nicht linear zu lesen sind und auch keine progressive Dynamik haben, die vielmehr – das Andere im Gleichen herausstellend – vom einzelnen Wort ausgehen, das sich in all seinen (z. T. längst vergessenen) Bedeutungen und in mancherlei lautlicher Assonanz (bis hin zur Klangidentität der Homophonie) entfaltet, her und hin gewendet oder auch anagrammatisch zerstückelt wird.
Lucas kompromisslose, dabei höchst ergiebige Spracharbeit ist weit mehr als blosse Spielerei, es ist eine besondere Art von Wortphysik – „hermetisch offen“ –, die sich mit unterschiedlichsten Mitteln und Methoden ihre eigene Metaphysik schafft. „Ein Buchstabe (lettre) ist das Sein (l’être) selbst, doch was ist eine Macht (pouvoir) ohne Laus (pou).“ Antwort: „sehen“ (voir). Dass solche Wortfügungen als unübersetzbar gelten müssen, liegt auf der Hand; dass – und wie – sie in der Zielsprache dennoch eine plausible Entsprechung finden können, ist durch den französischdeutschen Luca-Band belegt, an dem drei Übersetzer mit wechselndem Finder- und Erfinderglück beigetragen haben: „Wie das Verbrechen / zwischen dem Verb und dem Rächen.“

Felix Philipp Ingold, Neue Zürcher Zeitung, 25.11.2004

Theater der Mundhöhle

– Einer der größten Dichter eines grausamen Jahrhunderts: Gherasim Luca (1913–1994). –

„Das Denken wird im Munde bereitet.“ Tristan Tzaras Satz stammt aus der blutigen Mitte eines Jahrhunderts, in dem Gedichte noch der Sprache zu Leibe rückten. Die Gedichte dieses Jahrhunderts, des zwanzigsten, bezeichnen nur einen kurzen, grausam klaren Moment in der langen Geschichte der Poesie. Sie waren aber nicht, wie es die Anhänger von Partei oder Seele damals und heute die von Funk und Fernsehen hinstellen, eitel, leerer Formalismus, Spiel mit Staub.
Das Denken, das Leben ist ein Bissen im Mund des Dichters. Wenn er die Wörter, seine Verse, zerkaut, zerkaut er den Stoff des Lebens selbst. „Der, der das Wort öffnet, öffnet die Materie“, schrieb Gherasim Luca, wie Tzara am heißesten Hot Spot der Avantgarde groß geworden, der nicht in Paris, Rom oder Berlin lag, sondern in Bukarest. „Je m’oralise“, sagte Luca, zugleich der schwärzeste und feinste der Künstler, die aus diesem Bukarest kamen – indem ich mich oralisiere (d.h. rezitiere), moralisiere ich. Es ging stets um viel mehr als bloß um Wörter, aber die Bühne, die dem Theater der Grausamkeit aufgerichtet wurde, lag mitten in der Mundhöhle.
Leise und artikuliert ging es also nicht immer zu, und auch an Maulheldentum hat es nicht gefehlt. Besonders heftig befehdeten sich Paris und Bukarest. Politisierte sich Paris, wurde in Bukarest bereits die „proletarische Poesie“ ausgerufen. Spottete man in Paris über die Familie, gab man in Bukarest vatermörderische Manifeste heraus. Betrieb man da die Subversion, war man hier schon an der „Subversion der Subversion“. Allerdings übertrumpften die Rumänen auch die Machogesten der Franzosen und beschimpften Jean Cocteau als „alte Schwuchtel“ und „Hure“. Man kannte kein Halten. Wie immer in der Geschichte der Avantgarde fegte am Ende eine höchst banausische Macht die Papiertiger der Kunst beiseite, und aus dem radikalen Erotiker Geo Bogza wurde ein Staatsdichter, Eugène Ionesco und Émile Cioran, die sich dem Faschismus bedenklich angenähert hatten, wanderten, als der Stalinismus übernahm, ebenso nach Paris aus wie zuvor schon Tzara, Victor Brauner und Constantin Brancusi, die sich der Revolution verschrieben, der künstlerischen, der politischen oder beiden zugleich.
Wenige Jahre, bevor auch ihn das neue Regime vertrieb, und er 1952, über Israel, ins Pariser Exil ging, fasste Luca, gemeinsam mit seinem Freund Dolfi Trost, seine Haltung in all diesen Kämpfen zusammen: „Wir erklären uns einverstanden mit Traum, Wahn, Liebe und Revolution. Wir weisen unter all ihren Aspekten zurück: Kunst, die Natur, die Nützlichkeit, die Trennung der Menschen in Klassen, das Gesetz der Schwerkraft, den Idealismus, die Therapie, das Gemälde, die Trennung von Traum und Leben, die Psychologie, die weiße Magie, das Elend, die Erinnerung, die Tagesreste des Traums, die euklidische Geometrie, die unvorteilhaften Zahlen und den Tod. Wir erklären uns einverstanden mit den Erfindungen des Delirs, den Tränen, dem Schlafwandeln, den realen Funktionen des Denkens, den Lebenselixieren, dem Umschlag von Quantität in Qualität, dem Konkreten, dem Absurden, der Negation der Negation, dem Begehren, der Hysterie, den Pelzen, der schwarzen Magie, dem Wahn der Deutung, der Dialektik der Dialektik, der vierten Dimension, dem Simulacrum, den Flammen, der Sünde, dem objektiven Zufall, den Wahnzuständen, dem Geheimnis, dem schwarzen Humor, dem Hellsehen, dem wissenschaftlichen Materialismus und den Blutflecken.“ („Présentation de graphies colorées, de cubomanies et d’objets“, Bukarest, Januar 1945)
Seine noch in Rumänisch geschriebene Prosa und Lyrik der dreißiger Jahre verbindet den schwarzen Humor Lautréamonts und Sades mit trotzkistischem Furor (was diese Schriften betrifft, muss ich mich auf Petre Raileanus aufschlussreiche Biographie verlassen). Luca fordert den „Pakt mit der Prostitution, um Unordnung in die Familien zu streuen“, wählt sich Hunde zu Helden, malt Selbstverstümmelungen oder Selbstmordversuche aus – „Ich versuche mich umzubringen, indem ich meinen Atem anhalte“ –, lässt sexuelle und politische Initiation mit großer Selbstverständlichkeit in eins fallen. Ernste Entschlossenheit verbindet sich wie später noch oft mit einer unwiderstehlichen Komik. Ein unveröffentlichtes Skript trägt den Titel: „Zwei unsichtbare Frauen pochen an die Tür, ein Todkranker gibt ihnen einen Umschlag von mir“.
„Moartea moarta“ (der tote Tod) schlägt eines der großen Themen seines Lebens an, den Aufstand gegen den Tod. „La mort de la mort de / c’est l’eau c’est l’or c’est l’orge / c’est l’orgie des os“ wird es in „La morphologie de la métamorphose“, einem Gedicht aus den achtziger Jahren, heißen, also wörtlich: „Der Tod des Todes des / ist Wasser ist Gold ist Gerste / ist Orgie der Knochen“. Und wenige Strophen darauf spricht er, in der Übersetzung von Theresia Prammer, vom „tod des toten todesdespoten / in form der flottierenden flut“. Die Überwindung des Todes im Flüssigen, in der Orgie, in der rauschenden, fließenden Form – das Thema ist bereits im funkelnden Frühwerk gefunden, es findet seine Vollendung im störrischen Spätwerk.
Und die Luca ganz eigene Methode ist schon im ersten seiner auf Französisch geschriebenen Bücher, dem „Vampire passif“ (1945, Neuaufl. 2001), am Werk. Mit Lyrik, Prosa und Fotografien umkreist dieser Vampir das, was er „O.O.O.“ nennt, „objektiv offerierte Objekte“; das können Fingernägel sein, auf Kleidern gefundene Haare, nach frischem Schweiß duftende Wäsche, abgerissene Bilder, Traumreste der Geliebten, Gesten und – das werden die O.O.O. par excellence werden – Versprecher und Verschreiber. Es sind Funde und zugleich Gaben, es sind erotische Trouvaillen und Körperteile, es sind Fetische.
Die Nähe zu André Bretons „objets trouvés“ und zu Hans Bellmers Puppen drängt sich auf, umso wichtiger erscheint es, mit Dominique Carlat („Gherasim Luca l’intempestif“, Paris 1998), die Unterschiede einzusehen: Anders als bei Breton wird hier auch Abstoßendes aufgelesen und weitergegeben – „Dinge, die mich kastrieren wollen“ überreicht er Personen, denen er sich in Hassliebe verbunden fühlt –, anders als bei Bellmer werden nicht bloß Körper zerstückelt und zusammengesetzt, sondern entsteht gänzlich Neues. Das gilt ganz besonders von den O.O.O., die seine Wörter sind. Vom Zerteilen, Zerschneiden, Zerhacken wird in den Gedichten nicht nur die Rede sein, sie zerteilen, zerschneiden, zerhacken „main-tenant“, jetzt und im „Hand-Umdrehen“, den Textkorpus. Doch sie kennen zugleich oder gerade deshalb ein unheimlich-heiteres Fließen, die „Wellenform“, wie der Dichter selbst sagt. „In der pythagoräischen Symbolik entspricht 000 dem Element Wasser, seine Bedeutung ist ‚Einheit von Geist und Stoff‘.“ (Raileanu)
Am wichtigsten aber ist, dass diese Objekte, anders als bei Breton und viel stärker als bei Bellmer, Abspaltungen eines zerfallenden Subjekts sind, sie gehören nicht der Welt, sie gehören dem Ich an, einem Ich, das sich selbst nicht mehr gehört: „Wie Lautréamont und Rimbaud hatte ich stets den Eindruck, ich werde erdacht, aber nie zuvor ist es mir widerfahren, dass dieses Andere, das mich denkt, mich selbst verlässt und vor mir als ein gegenständliches, greifbares Objekt erscheint.“ Für Luca ist der Fetisch Teil seiner selbst und doch fremd, ein erotisch hoch besetzter Gegenstand, ein Zufallsfund, mehr noch ein Zufallsapparat, und zugleich ein Zauber, mit dessen Hilfe sich das Andere, das uns erdenkt, erkennen lässt. Seine Fetische sind Fackeln im Dunkel von Trieb und Wahn. „ich schreib dich / du denkst mich“.
Der Zauber der Fetische liegt darin, dass, einem von André Breton auf die rumänischen Surrealisten gemünzten Wort zufolge, „die Verkennung zum Erkennen“ führt. Gerade dass es gegen seine Bestimmung gebraucht wird, beseelt das Zufällige, Komische, ansonsten Unbrauchbare. Missbrauch und Missverständnis werden hier zur Methode; es ist die fundamentale Methode von Gherasim Luca. Beginnt das Spiel des Begehrens und Erkennens mit gefundenen Objekten, sollen aus Objekten Wörter, fremde Wörter werden, französische Wörter.
Missbrauchte, missverstandene Wörter werden zu Objekten des Dichters, der Vers ist sein Messer und sein Wasser, „crime“ (Verbrechen) zerreißt in „cri“ (Schrei) und „rime“ (Reim), „jour“ (Tag) zerfließt in „joues“ (Wangen), die „vulve“ (Vulva) hat „vues“ (Blicke). Das Gefäß für das Flüssige, die fließende Form des pythagoräischen 000, ist die zerstückte und doch rauschende Rede, die „flottierende flut“ ergießt sich „zwischen dem fluss deines fetts und dem bett deines skeletts / zwischen dem teer deiner arterien und dem lodern in der lunge / zwischen der sendung deiner lenden und den lenden deiner hände / zwischen den häfen deiner schläfen und den taxen deiner achseln“ (aus „L’écho du corps“ in der Übersetzung von Mirko Bonné). Seine Form ist formlos. In jedem Vers präzise angeordnet, kennt sie weder Anfang noch Ende. Das Gedicht, seine Gestalt, seine Glieder „s’éclipsent“, gehen unter wie die Sonne, an ihre Stelle tritt ein dunkles Strömen. Nicht erst in Paris muss und will Luca ein „étranjuif“, Fremder (étranger) und Jude (être un juif) in einem, sein. Schon im antisemitischen Rumänien konnte er nicht heimisch werden. Tristan Tzara, bürgerlich Samuel Rosenstock, hat diese Fremdheit in sein Pseudonym gefasst, „triste“ (französisch für „traurig“) im „ara“ (rumänisch für „Land“), traurig im Lande. Luca, bürgerlich Salman Locker, denkt sich keinen Namen aus, er findet einen. Auch der Name ist also schon objet trouvé, zufällig und doch nicht ganz zufällig gefunden, bedenkt man die klangliche Ähnlichkeit von „Locker“ und „Luca“. Gherasim Luca hieß ein Sprachgelehrter, der sich im Alter in das Kloster auf dem Berg Athos zurückzog, dem er als Archimandrit vorstand. Dieser Name ist selbst ein frei gewählter, gebildet aus Georg (Gherasim), dem Drachentöter, und Lukas, dem Evangelisten. Der Dichter trägt den Ordens- und Wunschnamen eines Toten.
Sich selbst einen Namen zu verleihen, heißt auch, sich vom Namen des Vaters abzuwenden. Lucas Vater, ein Schneider, stirbt ein Jahr nach der Geburt des Sohnes. Anders als etwa der Dichter Gellu Naum, der seinen im Krieg gefallenen Vater betrauert, erkennt Luca die Gunst, die in der Vaterlosigkeit liegt. Schon 1945 erklärt er: „Der mythische Kampf zwischen der Freiheit und ihrem Gegenteil ist nun in einen zwischen Ödipus und Nicht-Ödipus übergegangen.“ Nicht umsonst taucht er in fast allen Büchern von Gilles Deleuze, dem Philosophen des Anti-Ödipus, auf, der Luca „für den größten Dichter der französischen Sprache“ gehalten hat; der französischen Sprache, nicht der französischen Literatur.
Der Meister der französischen Sprache konnte Luca werden, gerade weil sie weder Vater- noch Muttersprache für ihn ist, weil sie ihm fremd bleibt. Nur einer solchen unterwirft sich einer souverän. Und wenn der Dichter „auf die Nationen spuckt“, spuckt er auch auf Frankreich. Er gehört zu der Generation von Künstlern, für die der Holocaust stets der Horizont geblieben ist. Mit dem Pathos von 1789 ist es 1942 endgültig vorbei, und aus dem berühmten Vers der Marseillaise, „le jour de gloire est arrivé“, wird bei ihm „le four de gloire est arrivé“ (Bonné übersetzt: „Der glorreiche Tag liegt Ofen vor uns“). Frankreich muss Fremde bleiben. Sein Entsetzen darüber, dass die französischen Behörden ihn, den „étranjuif“, einbürgern wollen, erklärt sich so. Weil er für ein anderes Exil zu alt ist, wählt er die Flucht in den so sehr verabscheuten Tod. Wie sein Freund Paul Celan ertränkt er sich in der Seine.
Dem Französischen als Fremdsprache hat er vorher nicht gehörte Töne, eine seltene Leidenschaft abgewonnen, gerade indem er seine Rede dem Stottern annähert: „je t’ai je t’aime je / je je jet je t’ai jetez / je t’aime passioném t’aime / je t’aime je je jeu passion j’aime / passionné éé ém émer“ („Passionément“). Der Klang zersplittert die „sichtbare Schrift“, doch der Dichter befreit die „eingesperrte Klanglichkeit“ nur, um sie verklingen zu lassen. Lärm und Stille folgen aufeinander, „Lärm und Stille widersprechen einander“. Dieser Gegensatz bestimmt das Werk. „Viel mehr als um eine Tradition oder eine Revolution ist es mir darum zu tun, eine Resonanz des Seienden zu entdecken, das unerträglich ist.“ Deshalb müsse das Gedicht zugleich „Silentiophon“ sein. Im Vortrag meidet Luca die heute modisch gewordene Virtuosität, und wer ihn – z.B. auf der dem Buchobjekt „Théâtre de bouche“ (1984) beigelegten Platte – lesen hört, wird überrascht sein. Nichts von der Exaltiertheit eines Antonin Artaud, er liest sonor, kaum moduliert, wunderbar beherrscht. Es ist, als ob dieser Klangkünstler mit seiner Stimme kühl in die Luft schriebe, wie er mit seiner Schrift flüstern, schreien, kichern kann.
Carlat meint, erst wenn in Lucas Dichtung Schrift und Stimme zusammenkämen, wenn in der Schrift die Stimme, in der Stimme die Schrift zu erkennen sei, riefen sie jenen körperlichen Schmerz wach, den jeder Mensch bei seinem Eintritt in die symbolische, väterliche Ordnung erfahre, beim Sprechenlernen. Es ist wahr, Gewalt ist in jedem Vers von Luca, aber ebenso das Lachen über diese Gewalt. Seine Antwort auf Mallarmés „Würfelwurf“ nennt er einen „Démonologue“, zugleich einen dämonischen Monolog und eine „Würfel-Rede“. Darin heißt es: „De l’A au B / Laobé tire la langue / (de pendue)“ (etwa: Von A nach B / spannt Laobe oder Ahnachbeh die Zunge oder die Sprache / (des Gehängten)). In diesem Sinn ist Luca tatsächlich ein Formalist, sogar ein radikaler Formalist; das Alphabet wird ihm zur Tortur, das Gedicht zum „lieu d’opération“, nämlich zum Schlacht- und Spielfeld. Er schlägt das Alphabet mit dem Alphabet, den Zufall der Zeit mit der Zeit des Zufalls, er ist ein „Spieler gegen den Tod“ (Ulisse Dogà).

Stefan Ripplinger, Jungle World Nr. 51, 21.12.2005

Je wird Jeu

– Ghérasim Lucas Spiel mit der Existenz. –

„Das Denken wird im Munde bereitet.“ Tristan Tzaras Satz stammt aus jenem blutigen Jahrhundert, in welchem Wörter die Leiber, Gedichte die Wörter aufgefetzt haben. „The hand that signed the paper felled a city“, das sind die vorangegangenen Jahrhunderte. „Wollt ihr den totalen Krieg?“, das ist das zwanzigste; unter dem Gebell der Führer gehen Hekatomben zu Grunde.
„Sollen wir den Wörtern nicht mehr glauben?“ fragt Tzara, „seit wann sagen sie etwas anderes als das Organ, das sie ausschickt, denkt und will?“ In den Wörtern das Allerwörtlichste, in den Wörtern der Körper; es liegt ein alter Zynismus in diesem Reden, dessen Bühne die Mundhöhle ist. Von nun an ist Dichtung kein traumverlorenes Nachschmecken mehr, wir sitzen nicht länger mit Verlaine im Restaurant, sondern mit Rimbaud in der Feldküche. Das Denken, das Leben ist ein Bissen im Munde des Dichters. Wenn er die Wörter, seine Verse, zerkaut, zerkaut er den Stoff des Lebens selbst. „Der, der das Wort aufreißt, reißt den Stoff auf“, schreibt Ghérasim Luca, wie Tzara am hottest spot der Avantgarde groß geworden, d.h. nicht in Paris, Rom oder Berlin, sondern in Bukarest.
Die Radikalen von Bukarest wetteifern mit denen von Paris darum, die Lautesten zu sein. Politisiert sich Paris, wird in Bukarest bereits die „proletarische Poesie“ ausgerufen. Spottet man in Paris über die Familie, gibt man in Bukarest vatermörderische Manifeste heraus. Betreibt man da die Subversion, ist man hier schon bei der „Subversion der Subversion“ angelangt. Und wie immer in der Geschichte der Avantgarde fegt am Ende eine höchst banausische Macht die Papiertiger der Kunst beiseite.
Wenige Jahre bevor die Staatskommunisten ihn vertreiben, faßt Luca, gemeinsam mit seinem Freund Dolfi Trost, seine Haltung in all diesen Kämpfen zusammen:

Wir erklären uns einverstanden mit Traum, Wahn, Liebe und Revolution. Wir weisen in all ihren Aspekten zurück: Kunst, die Natur, die Nützlichkeit, die Trennung der Menschen nach Klassen, das Gesetz der Schwerkraft, den Idealismus, die Therapie, das Gemälde, die Trennung von Traum und Leben, die Psychologie, die weiße Magie, das Elend, die Erinnerung, die Tagreste des Traums, die euklidische Geometrie, die unvorteilhaften Zahlen und den Tod. Wir erklären uns einverstanden mit den Erfindungen des Delirs, den Tränen, dem Schlafwandeln, den realen Funktionen des Denkens, den Lebenselixieren, dem Umschlag von Quantität in Qualität, dem Konkreten, dem Absurden, der Negation der Negation, dem Begehren, der Hysterie, den Pelzen, der schwarzen Magie, dem Wahn der Deutung, der Dialektik der Dialektik, der vierten Dimension, dem Simulacrum, den Flammen, der Sünde, dem objektiven Zufall, den Wahnzuständen, dem Geheimnis, dem schwarzen Humor, dem Hellsehen, dem wissenschaftlichen Materialismus und den Blutflecken.

Aus der Verneinung der Vernichtung wird, Negation der Negation, ein großes Ja, aber eines, in dem Angst und Schrecken nachhallen, auch wenn es noch so laut hinausgeschrien wird. Nicht bloß Verweigerung, „nous sommes d’accord“ schreiben sich Trost und Luca aufs Panier. Es ist eine Flucht nach vorn. Arthur Rimbaud, notiert Hugo Ball in der Hochzeit von Dada, hat „den Dichter dem Flüchtling aufgeopfert“. Seither läßt sich mancher Dichter von der Nervosität des Flüchtlings, mancher Flüchtling von der des Dichters leiten. „In der Dichtung bewohnt einer nur den Ort, den er verläßt, schafft er nur das Werk, von dem er sich absetzt, bewahrt er nur die Dauer, indem er die Zeit zerstückelt“, schreibt René Char. Luca ist Pogrom1 und Deportation nur knapp entronnen. Er ist stets unterwegs, er ist nicht zu greifen. Seine Unruhe hat ihn gerettet, er wird sie nie verlieren.
Im Pariser Exil versammeln sich nach und nach die früheren Revolutionäre und die früheren Faschisten, die Juden wie Tzara und Victor Brauner und die Judenfeinde wie Mircea Eliade und Émile Cioran. Keiner von ihnen will noch an Rumänien erinnert werden. Die einen, weil sie wie Tristan Tzara, bürgerlich Samuel Rosenstock, „triste“ im „ara“ (rumänisch „Land“), traurig im Lande, waren. Die andern, weil sie nichts bedauern wollten. Ghérasim Luca als einziger bleibt sich gleich, weil er ohnehin immer ein anderer ist. „Aus Bukarest gebürtig, suchte er sich in seiner Jugend einen Namen und eine Abirrung (égarement)“, sagt er über sich selbst.
Die antisemitischen Regierungen Rumäniens widerrufen bald die liberalen Gesetze von 1919 und entziehen 1939 mehr als einem Drittel der Juden die Staatsbürgerschaft. Was ihm vorenthalten werden soll, weist Luca für immer zurück. Noch in Rumänien entrumänisiert er sich. Den neuen Namen findet ein Freund im Nachruf einer Zeitung: Ghérasim Luca hieß ein Sprachgelehrter, der dem Kloster auf dem Berg Athos vorstand, wo er in den frühen Dreißigern starb. Im Emblem dieses Namens reichen sich Georg (Ghérasim), der Drachentöter, und Lukas, der Evangelist, die Hände, ein Streiter und ein Lehrer, er ist ein nom de guerre und ein nom sacré. Sich gerade diesen Namen zu wählen, bedeutet zugleich Sakrileg und Identifikation mit dem Angreifer. Denn „der rumänische Faschismus, der unleugbar archaische Züge trägt, war die ursprünglichste Bewegung der extremen Rechten in Europa, aufgrund der besonderen Stellung, die er dem christlich-orthodoxen Mystizismus einräumte“, wie eine neuere Studie von Carol Iancu feststellt.
So hat es ganz und gar nichts Gemütliches, wenn sich in jenen Tagen ein radikaler Dichter und Künstler in einen ehrwürdigen griechischen Archimandriten, ein rumänischer Jude in einen orthodoxen Christen verwandelt. Aus Salman Locker, der, schreibt Dominique Carlat, alles andere ist als „locker“, wird Ghérasim Luca, von nun an führt er seinen Aufstand gegen den Tod unter dem Ordens- und Wunschnamen eines Toten.
Sich selbst einen Namen zu verleihen, heißt auch, sich von Nom und Nom du père abzuwenden. Lucas Vater, ein Schneider, stirbt ein Jahr nach der Geburt des Sohnes. Früh erkennt Luca die Gunst, die in der Vaterlosigkeit liegt. Schon 1945 erklärt er, der mythische Kampf zwischen Freiheit und Unfreiheit sei in den zwischen Nicht-Ödipus und Ödipus übergegangen. Nur Freiheit gibt dem Dichter eine Sprache, und die ist für ihn weder Vater- noch Muttersprache. Nur einer solchen unterwirft sich einer souverän.
„Alle Buchstaben, alle Wörter können als falsche Hypothesen angesehen werden“, sagt er in der Rolle des Vampire passif. In dessen „objektiv offerierten Objekten“ (O.O.O.) – zu Fetischen pervertierten Fundstücken und Gaben – kristallisiert sich sein Begehren. Es sind Objekte eigenen Rechts, eigener Logik. Luca folgt bis an sein Ende ihrer Spur, er skulptiert Objekte, Fetische, „Kubomanien“.
Und doch werden die Wörter der fremden Sprache zu seinen O.O.O. par excellence, der Vers wird sein Messer und sein Wasser; „crime“ (Verbrechen) zerreißt in „cri“ (Schrei) und „rime“ (Reim), „jour“ (Tag) zerfließt in „joues“ (Wangen), die „vulve“ (Vulva) hat „vues“ (Blicke). Es ist eine zerstückelte und doch rauschende Rede, deren „flottierende flut“ sich ergießt „zwischen dem fluß deines fetts und dem bett deines skeletts“. Die Form ist formlos; in jedem Vers präzise angeordnet, kennt sie weder Anfang noch Ende. Das Gedicht, seine Gestalt, seine Glieder „s’éclipsent“, gehen unter wie die Sonne, an ihre Stelle tritt ein dunkles Strömen.
Das Denken wird im Munde bereitet. Im Vortrag meidet Luca die Exaltiertheit eines Antonin Artaud, seine Stimme ist sonor, er phrasiert kaum. Es ist, als ob dieser Klangkünstler mit seiner Stimme kühl in die Luft schriebe, wie er mit seiner Schrift flüstern, schreien, kichern kann. Carlat meint, erst wenn in Lucas Dichtung Schrift und Stimme zusammenkämen, wenn in der Schrift die Stimme, in der Stimme die Schrift zu erkennen sei, riefen sie jenen körperlichen Schmerz wach, den jeder Mensch bei seinem Eintritt in die symbolische, väterliche, todbringende Ordnung erfahre, beim Sprechenlernen.
Es ist wahr, Gewalt ist in jedem Vers von Luca, aber ebenso das Lachen über diese Gewalt. Seine Antwort auf Stephane Mallarmés Würfelwurf nennt er einen „Demonologue“, was zugleich ein dämonischer Monolog als auch eine „Würfel-Rede“ ist. Darin heißt es: „De 1’A au B / Laobé tire la langue / (de pendue)“ (etwa: von A nach B / spannt Laobe oder Ahnachbeh die Zunge oder die Sprache / ( des Gehängten) auf). In diesem Sinn ist Luca tatsächlich ein Formalist, sogar ein radikaler Formalist. Seine Dichtung läßt sich noch im Paroxysmus immer als ein Spiel mit dem Gewaltsamen und Schrecklichen erkennen. Wenn das Alphabet zur Tortur wird, wird das Gedicht zum „lieu d’opération“, nämlich zum Schlacht- und Spielfeld. Der Dichter schlägt das Alphabet mit dem Alphabet, den Zufall der Zeit mit der Zeit des Zufalls, er ist ein „Spieler gegen den Tod“ (Ulisse Dogà).2
„Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk“, empfiehlt Ball. Luca ist aber selbst in seiner auskultierenden Analyse von „… je t’aime je je jeu passion j’aime…“ viel weniger ein Alchimist als ein Chemiker (immerhin hat er sich der Chemie zwei Jahre lang gewidmet). Ihm geht es um das Physische, nicht um die Metaphysik. Er will nicht in den heiligsten, er will durchaus in den unheiligsten Bezirk vordringen. Er schirmt sich nicht ab, er spart sich nicht auf, und wenn das „je“ zum „jeu“ wird, steht die Existenz selbst auf dem Spiel.
Seine Dichtung will nicht Welt oder Ich spiegeln, sie will sie spielen. Sie erschöpft sich weder im Klang noch zieht sie sich auf ihn zurück. Der Klang ist eine Resonanz von körperlich erfahrener Existenz, von Lust, Trieb, Angst und Haß, und das sind keine geschichtslosen Gespenster. Daher rührt der Ernst, der diesem Dichter und seinen Lesern das Lachen abpreßt. Wer mit ihm nicht ernst sein kann, kann nicht mit ihm lachen.

Stefan Ripplinger, Schreibheft, Nr. 67, September 2006

Auf das Wohl des Todes

– Noch kennt ihn hier niemand. In Frankreich hat sich selbst Gilles Deleuze seiner angenommen. Die Rede ist von dem 1994 verstorbenen Dichter Ghérasim Luca, dessen Arbeiten in einer umfangreichen und gelungenen Übersetzung jetzt auch bei uns vorliegen. –

Ein wirklich eigentümliches und seltenes Buch, das nun erschienen ist, und das uns den in Deutschland bislang unbekannten Schriftsteller Ghérasim Luca näher bringen soll. Luca, der 1913 in Bukarest geboren wurde, dort mehrsprachig mit einem Faible für das Französische aufwuchs, hielt sich bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in den Pariser Kreisen der Surrealisten auf. Als Sohn eines jüdischen Uniformschneiders konnte und wollte er den antisemitischen Anfeindungen in seiner rumänischen Heimat dann nicht mehr standhalten und reiste 1952 über Israel endgültig nach Paris aus. Nicht nur geographisch, auch sprachlich trennte er sich von seiner Vergangenheit – die französische Sprache schien ihm fortan das adäquateste Ausdrucksmittel für seine künstlerischen Bemühungen zu sein. Wirklich heimisch ist er aber auch im französischen „Exil“, in dem er über vierzig Jahre ohne offizielle Erlaubnis lebte, wohl nicht mehr geworden. Mit einem Sprung in die Seine nahm er sich 1994 das Leben.

Außergewöhnlicher Aufbau
Was erwartet uns in diesem knapp 800seitigen Band, den man, erstaunlich aber wahr, gar nicht verkehrt herum ins Bücherregal stellen kann. Man kann das Buch drehen und wenden, und doch hält man immer mindestens einen Anfang in den Händen. So wurde konsequent und pfiffig auch im Text selbst an einer bestimmten Stelle der Satzspiegel einfach um 180 Grad geschwenkt, und doch hat man wohl selten ein Buch mit so viel Lust auf den Kopf gestellt. Die Arbeiten von Ghérasim Luca sind nämlich in der Tat eine wahre Entdeckung, und das nicht nur, weil bislang eher wenig von ihm in die deutsche Sprache übertragen wurde. Luca steht in familiärer Nähe zu einer Strömung der deutschen Literatur, die immer etwas schmucklos und nüchtern als die „experimentelle“ bezeichnet wird, und deren prominenteste noch schreibende Vertreter vielleicht Friederike Mayröcker, Oskar Pastior und Paul Wühr sind.

Gelungene Übersetzung
Fast wie ein „missing link“ muten die Gedichte von Ghérasim Luca an, da sie aufs Intensivste mit den elementaren Bestandteilen der Sprache arbeiten, und diese Elemente schließlich behauen und geschliffen werden, bis sie in einem neuen semantischen, phonetischen oder gar visuellen Glanz erstrahlen. Dabei sind den Übersetzern Mirko Bonné, Theresia Prammer und Michael Hammerschmid dann Lösungen eingefallen, die in einigen Fällen sogar das Original hinter sich lassen. Das in dem französischen Wort „jeu“ das Personalpronomen „je“ drinsteckt, hat Luca elegant in einem Vers verpackt. Wie läuft es damit aber im Deutschen, denn „Spiel“ und „Ich“ passen klanglich offensichtlich gar nicht zueinander? In dem Wort „Gedicht“ verbirgt sich noch ein „Ich“, welches dann auch als eine gelungene übersetzerische Alternative verwendet wurde.

Ergiebige Suche nach den Schwerpunktthemen unserer Existenz
Die Lyrik von Ghérasim Luca (by the way: zwar sind die Texte allesamt als „Gedichte“ deklariert worden, doch fällt es schwer, einzelne Arbeiten, die fortlaufend im Blocksatz mit intakter Syntax über die Seite rollen, so zu kategorisieren) entgeht aber dem Vorwurf, dass es sich hier um ein zwar subtiles, aber schließlich doch neckisch-belangloses Spiel mit Sprache handelt, denn in den Texten steckt ein ganz einhelliges Element von Existenzialität. Will man semantische Felder aufbauen, um zu zeigen, um welchen Pol sich die Welt dreht, von der Luca spricht, so müssten diese Felder wohl häufig mit Begriffen wie „Tod“, „Angst“, „Sexualität“ und „Gewalt“ überschrieben werden: Die Leere nach vorne beugen / indem man eine Drehung nach links macht / um die Schauder zum Tod zu führen / Zurückkehren in die Ausgangsposition / Die gespannten Ängste behalten / und das Leben so weit als möglich / an den Tod annähern. Gerade diese Mixtur aber, die das Spiel mit der Sprache, die Freude an der Form, mit einem so schonungslos wie realistischen Blick auf die Wirklichkeit verknüpft, macht dieses Buch zu einem ungemein ergiebigen Lektüreerlebnis.

Thomas Combrink, titel-forum.de, Januar 2005

Die vergeblichen Schreie

– Textkörper: Eine Werkauswahl des Dichters Ghérasim Luca. –

In Händen hält man ein exzellent gestaltetes, untadelig gedrucktes Buch von rund siebenhundert Seiten Umfang, eine Art Kippobjekt, das man drehen und wenden muß, weil in ihm zwei Bücher zusammengeführt sind, von denen jedes seine eigene Titelei hat und die beide – von vorn nach hinten und / oder von hinten nach vorn gelesen – irgendwo in der Mitte jeweils umgekehrt aufeinandertreffen. Ein erotisches Buch schon der äußeren Form nach, ein Buch, das zwei gegenläufige, einander ergänzende Textkörper zur Verschmelzung bringt.
Was da so ingeniös zu einem großen zweisprachigen Doppelband vereint wird, ist das durchaus disparate, in einer Vielzahl schmaler Einzeldrucke verstreute Werk des rumänisch-französischen Dichters Ghérasim Luca (1913 bis 1994), von dem auch in der Originalsprache keine vergleichbar umfangreiche und repräsentative Textausgabe vorliegt. Luca, seit 1952 als „papierloser“ Einwanderer in Paris ansässig und immer auch als bildender Künstler aktiv, stand den späten Surrealisten um Victor Brauner und Wifredo Lam nahe, war mit Paul Celan befreundet, wurde aber erst in seinen letzten Lebensjahren, als der Verleger José Corti mit dem Nach- beziehungsweise Neudruck seiner Wortarbeiten begann, einem breiteren Publikum bekannt.
Als „Wortarbeiter“ ist Ghérasim Luca durchaus zutreffend charakterisiert, denn dem einzelnen, dem kontextfrei gesetzten Wort und dessen vielfältigen – semantischen wie klanglichen – Schattierungen gilt sein vorrangiges Interesse. Als Sprachverrückter ist er zugleich ein Sprachverächter, der jeder sprachlichen „Kommunikation“ und vollends jeder sprachlich durchgesetzten „Wahrheit“ zutiefst mißtraut. So meidet er denn auch konsequent sowohl diskursives wie metaphorisches Reden, das lediglich eine jeweils vorbestimmte Bedeutung zu transportieren hätte. Lucas poetischer Impulsgeber und zugleich sein Arbeitsmaterial ist das Wort als solches, das Wort in seiner puren, zumeist ambivalenten Laut- oder Schriftgestalt, und ebendiese sinnlich faßbaren Sprachqualitäten nimmt er zum Anlaß vielfältiger Ableitungen, Variationen und Permutationen, die ihrerseits – gleichsam autopoetisch – einen unvorhersehbaren, ja unerhörten Eigensinn gewinnen können. So ließe sich etwa aus „ô je dis jour“ (o ich sag’ Tag) das Wort „aujourd’hui“ (heute) herauslesen oder aus „héros-limite“ (Grenz-Held) die Fügung „éros hors limite“ (Eros entgrenzt).
Lucas bevorzugte Verfahrensweisen sind nebst dem Einsatz von Gleichklängen (Assonanzen, Homophonien) die Bildung von „Koffer-Wörtern“, in denen mehrere Begriffe gleichsam komprimiert sind (wie zum Beispiel in „pouvoir“, Macht, die Elemente „pou“, Laus, und „voir“, sehen), sowie die lautliche oder anagrammatische Entfaltung vorgegebener Themawörter („… pour l’aimée à aimer l’amour …“. Anhand der nun greifbaren zweisprachigen Werkausgabe, die als Buchobjekt der ausufernden, bisweilen widerläufigen Schreibbewegung des Autors optimal entspricht, läßt sich überprüfen, ob und inwieweit derartige Texte übersetzerisch einholbar sind.
Das Unterfangen ist höchst anspruchsvoll, da bei Luca die Klanggestalt vor dem Bedeutungsgehalt durchweg klare Priorität hat. Und da Klang, im Unterschied zu Bedeutung, niemals adäquat von einer Sprache in die andere übertragen werden kann, ergibt sich die Notwendigkeit, die Originaltexte in der Zielsprache – mit deren Mitteln und unter deren spezifischen Bedingungen – nachzubauen. Naturgemäß gibt es dafür jeweils mehrere Möglichkeiten, so daß Übersetzungen solcher Art nicht im üblichen Verständnis von „richtig“ oder „falsch“ beurteilt werden können. Die Frage ist vielmehr: Entspricht der übersetzte, also nachgebaute Text der lautlichen Struktur und formalen Machart des Originals?
Drei hochmotivierte Übersetzer haben sich der Wortarbeit Ghérasim Lucas angenommen, um auch im Medium des Deutschen eine Vorstellung vom „entgrenzten Eros“ der Sprache zu vermitteln. Mehr als dies wäre ohnehin kaum zu erreichen. Zwei, drei Übersetzungsproben müssen an dieser Stelle als Beleg genügen. Beleg für ein frappierendes Gelingen: Wo bei Luca als gleichklingende Entsprechung zu „l’écrivain“ (der Schriftsteller) die Wortfügung „les cris vains“ (die vergeblichen Schreie) verwendet wird, findet der Nachdichter den Ausdruck „Schreiblockade“, der sich nur durch einen einzigen Buchstaben beziehungsweise dessen Verdoppelung von der sattsam bekannten „Schreibblockade“ unterscheidet – dieser minimale, assoziativ leicht zu realisierende Unterschied („Schrei-“ / „Schreib-“) verweist in der Zielsprache sowohl auf die Vergeblichkeit des Schreiens wie auch auf den Schriftsteller, dessen Bezeichnung im Französischen ebenfalls das Wort für „vergeblich“ (vain) enthält.
Funde und Erfindungen dieser Qualität bietet die deutsche Textfassung zwar nur vereinzelt (namentlich in dem von Mirko Bonné übersetzten Buchteil), aber auch mit Blick auf das große Ganze ist doch, ungeachtet diverser Mißverständnisse und allzu eigenmächtiger Annexionen, manch eine glückliche Lösung zu verzeichnen.
Die Tatsache, daß einer von Lucas stärksten Texten, nämlich die weitläufige Paraphrase auf das Wort „passionnément“ (leidenschaftlich), von jedem der drei Übersetzer eigens ins Deutsche gebracht wurde, macht deutlich, worin das Problem der zwischensprachlichen Vermittlung in diesem wie in andern Fällen besteht. Ausgehend von „passion“ (Leidenschaft), entfaltet der Autor am Leitfaden des Sprachklangs ein Dichtwerk, das von „pas“ (nein; nicht; Schritt) und „papa“ via „bas“ / „basse“ (niedrig), „passer“ (vorbeigehen) oder „pisser“ (pissen) zu „ration“ und „nation“ viele sich anbietende Assoziationen in sich aufnimmt.
Während die eine Nachdichtung vom Wortlaut des deutschen Titelbegriffs („leidenschaftlich“) ausgeht und dementsprechend mit lautähnlichen Elementen wie leider, leidig, Leiter, leichter, leitet und so weiter operiert, beziehen sich die anderen auf den Wortklang des Originals (aba, aber, ba ba, Raben, schabt er) oder auf dessen mehrfache Bedeutung (nei, neinerlei, mein Eid; fehl, fällt; tritt, trifft, Schritt, Schrift et cetera). All diese Lesarten sind gleichermaßen berechtigt, und jede ist – trotz beträchtlicher Differenzen – gleichermaßen richtig. Es braucht schon den richtigen „Biß“ (morsure), um den „sicheren Tod“ (mort sûre) der konventionellen Wortbedeutungen herbeizuführen: „So gehen wir zugrunde und lieben alles, was uns flieht, alles, was in uns schallt, und alles, woran es uns fehlt…“

Felix Philipp Ingold, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.3.2005

Roggen im Flohrock

– Bei aller Komik: Der rumänische Surrealist Ghérasim Luca dichtet mit philosophischem Ernst. –

„In mir trage ich die Traurigkeit jener Dichter, die ihr ganzes Leben, aber auch ihr ganzes Leben lang nach Kräften versucht haben, keine Literatur zu machen, und schließlich beim Durchblättern ihrer gut hundert Seiten feststellen mußten, daß sie nichts anderes als Literatur gemacht haben“, resümierte der rumänische Dichter Gellu Naum in einem späten Essay. Womöglich ist das eine Einschätzung, die sein zwei Jahre älterer Weggefährte Ghérasim Luca angesichts des eigenen Werkes geteilt hätte, das 2001 durch eine Neuauflage der Editions Gallimard eine beinahe kanonische Würdigung erfuhr – sieben Jahre nach Lucas Freitod in der Seine.
Zu Beginn ihrer Karrieren waren Luca und Naum gemeinsam nach Paris gereist, wo sie mit dem Kreis von Dichtern um André Breton Umgang pflegten. Später gründeten sie in Bukarest selbst eine Surrealistengruppe. Noch 1947 arbeiteten sie zusammen an verschiedenen Buchprojekten, bevor Luca sich für einen dauerhaften Aufenthalt in Paris und damit in der französischen Sprache entschied.
Mehr noch als darum, die „Poesie abzuschütteln, indem man Poesie macht“ (Naum), geht es Luca um die Befreiung der Worte selbst. Wo sich die „Idee von Freiheit“ nur in „Sklavenworten“ ausdrücken lässt, löst er alle Ketten: „In einer Sprache, die der Bezeichnung der Dinge dient, hat das Wort nur einen Sinn, oder zwei, und wacht über die eingesperrte Klanglichkeit. Bricht man die feste Form auf, wo sie verkrustet ist, treten neue Beziehungen zu Tage: Die Klanglichkeit erregt sich, schlummernde Geheimnisse werden laut“. Luca gelangt über diese Erregung zu einer zwanglosen Sprache, die das rein Lexikalische meidet und stattdessen der Silbe, dem Morphem, dem Laut zu ihrem Recht zu verhelfen sucht, bevor er diese Minimalbausteine zu neuem Sinn, nicht zuletzt auch zu neuem Unsinn zusammenfügt. Indem er sich vom Klang leiten lässt, entdeckt er das „Frohlocken einer idealen Furcht / Roggen im Flohrock / Lockruf / und loser Lack des Blütenblatts“.
Das produktive Stammeln, der „Lapsus linguae“, der Versprecher also, werden zum gestaltenden Prinzip, wobei der Moment des Zerstörens stets auch Sprachreflexion und kreativer Akt ist.
Natürlich aber ist Lucas freie Klangpoesie bei all dem fest in der Tradition verwurzelt – sei es, dass er Lautréamonts Regenschirm und Nähmaschine erneut auf den Seziertisch hievt oder den Anfang aus Mallarmés berühmtem Poem „Un coup de dés“ aufgreift, um ein ganz ähnliches Spiel mit verschiedenen Drucktypen und dem Weiß der Seite zu beginnen. Zu dieser Arbeit mit einem von Autor und Leser geteilten Zitatenfundus gehört auch Lucas Verballhornung der Marseillaise durch simples Auswechseln eines einzigen Buchstabens: „Le four de gloire est arrivé“, schmettert es bei ihm, was Mirko Bonné mit „Der glorreiche Tag liegt Ofen vor uns“ ins Deutsche überführt.

Das Potential des Unsinnigen großartig genutzt
Lucas Poesie ergibt sich nicht dem Nonsens in seiner landläufigen Bedeutung als bloßer Albernheit, sondern nutzt das Potential des Unsinnigen und Widerständigen in der Überzeugung, dass „man dem Absurden nur / durch das Absurde entrinnt“. So ausgelassen und komisch seine Poesie zuweilen ist, so deutlich ist stets der philosophische Ernst, der ihr zugrunde liegt, und so bestimmt er gegen „eure rattenration wehleidigkeit“ zu Felde zieht, so bestimmend ist andererseits sein nüchterner Blick auf „das Sein des Scheiterns und das Scheitern des Seins / doppelte Leiter/ die nur dazu dient einen Sarg/  auf einen Sockel zu hieven“. Der existentiellen Sinnlosigkeit setzt Luca daher die Sinnlichkeit des Körperlichen und der Sprache entgegen.
Ein Gedicht wie „Das Körperecho“ ist ein Fest fürs Ohr und eine nahezu unwiderstehliche Liebeserklärung an beide: „zwischen dem hof deiner hüften und dem haus deines hauchs / zwischen dem hader deiner leiste und den leisten deiner adern / zwischen den schenkeln deines streichelns und dem harzduft deines herzens / zwischen dem gelingen deiner gelenke und der nummer des namenlos glatten / nabels deines schattens“.
Angesichts der Virtuosität, die Luca im Jonglieren mit den Partikeln der Sprache zur Schau stellt, scheint ein Übersetzer von vornherein auf verlorenem Posten zu stehen. Um ein wort- und sinngetreues Übertragen kann es kaum gehen, wohl aber um ein Teilhaben an der Lucaschen Sprachlust. Und tatsächlich schlagen die drei Übersetzer – Mirko Bonné, der für die eine, sowie Theresia Prammer und Michael Hammerschmid, die für die andere Hälfte der Auswahl einstehen – die erstaunlichsten Volten und machen vielfach aus der Unmöglichkeit ein Gelingen. Nicht der geringste Reiz der Lektüre besteht deshalb im Nachvollziehen der Schritte, die vom französischen Original zur deutschen Fassung führten – was schließlich im Vergleich zweier Übertragungen ein und desselben Zyklus’ gipfelt, die in der Buchmitte aufeinander treffen.
Der Leser ist immer wieder eingeladen, über den heiklen Punkt zu reflektieren, an dem eine entfesselte Semantik im Leerlauf zu enden droht. Es ist an ihm zu entscheiden, wie weit er Luca in den sprachlichen Freiraum zu folgen bereit ist: „In einer der entlegensten/ Gegenden meines Geistes / wo ich mein Lager aufschlug, am Fuße des Buchstabens / auf einer Höhe von Null Fuß / segelt eine kleine Anzahl / ganz ungewöhnlicher Ideen / die nicht aufzugreifen einem Frevel / gleichgekommen wäre / im Fluge meiner Unaufmerksamkeiten“.

Jan Wagner, Frankfurter Rundschau, 8.9.2005

 

Versprechen, unhaltbar

– Nachträgliches zu einer unmöglichen Übertragung. –

Engel in Gestalt von leuchtenden Rosen und Sternen
werdet ihr
durch das unendliche Licht schweben sehen.
Wer dürfte ihnen
mit unseren tollwütigen fortschrittlichen
Atombonbonnieren entgegentreten (?)

(Hans Arp)

Un’idea di stile: uno stilo!
(Pier Paolo Pasolini)

Je reçois actuellement des nouvelles assez inquiétantes
sur le langage.

(Ghérasim Luca)

 

„BALBUTIA-T-IL“

„Stotterte er“, hieß der Aufsatz von Gilles Deleuze, durch den der Name Ghérasim Lucas mit gut einem halben Jahrhundert Verspätung auch im deutschen Sprachraum zum Begriff wurde. Die von Deleuze formulierten Thesen, inzwischen nicht nur unter seinen Getreuen Allgemeingut, dominierten über Jahrzehnte hinweg die Rezeption des Autors Ghérasim Luca: formal engagiert, kompromißlos avantgardistisch, mehr zitiert als gelesen. Gilles Deleuze’ einnehmende (doch auch vereinnahmende) Betrachtungen, zumal sein Verweis auf Luca als Dichter, dem es gelungen sei, die Sprache – die Wahlsprache Französisch – „zum Stottern zu bringen“, bewirkten jenen Bruch in der Rezeption, der Lucas literarische Imago ein für alle Mal festzuschreiben schien: Luca wurde zum Gralsheiligen einer avancierten Literaturtheorie, zum Vertreter eines Gegenkanons, der mit dem Kanon zwar die prominenten Namen, nicht jedoch deren zum Klischee geronnene, ungebrochene Wahrnehmung teilt:

Nicht Stotterer in seinem Sprechen, sondern Stotterer der Sprache selbst, Fremder in seiner eigenen Sprache sein. Eine Fluchtlinie erzeugen. Die frappierendsten Beispiele: Kafka, Beckett, Ghérasim Luca, Godard.

Mit diesen Worten inthronisiert Deleuze das Stottern als produktives Prinzip eines Schreibens, das innerhalb der eigenen Sprache eine neue, nicht gekannte Sprache herauszubilden vermag, das die eigene Sprache wie eine Fremdsprache gebraucht. Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich zu „minimieren“, das Sprechenlassen, das Mitsprechenlassen zu kultivieren. Die freiwillige Verkleinerung des Sprechenden (die auch die Züge einer Vereinigung, Einswerdung mit dem Besprochenen trägt) geht einher mit der Fähigkeit, Zustände der Entregelung, Erregung zu erzeugen, eine Herangehensweise, die ebenso affektiv besetzt ist, wie sie sich einer „literarischen Mathematik“ annähern kann.
Wo die Sprache sich den Launen ihrer Laute überläßt, rührt sie an jenen Raum, zu dem Michel Foucault in Bezug auf Raymond Roussel anmerkt, daß er durch das Weiterspinnen und Variieren einer Kernstruktur etwas unter oder hinter den Wörtern sichtbar mache. Roussels rotierend-assoziierender Verfahrensweise setzt Lucas Anagrammkunst jedoch etwas anderes entgegen: Seine sprachliche Welt ist nicht präzise, formelhaft, mechanistisch wie jene Raymond Roussels; sie glänzt auch nicht durch methodische Geschlossenheit oder einen verbindlichen procédé, sondern läßt sich darauf ein, dem durch Anagramme gewonnenen Bedeutungsplus Mal für Mal nachzuphantasieren, dergestalt, daß die primär phonetisch-akustische Wortableitung auch thematisch „spruchreif“ werden kann. Stellt eine Systematik sich ein, wird sie alsbald durch ein Zuweitgehen, Zuweitdrehen ad absurdum geführt, fast immer hervorstechend ob seiner Radikalität: Luca verfährt etymologisch oder gegen-etymologisch, stellt die phonetischen Zusammenhänge über die syntaktischen, legt die Wörter bloß bis an ihre Wurzeln oder entwurzelt sie auch schon einmal zugunsten von ungleichen Wahlverwandtschaften, läßt die Mitteilung durch Worte der Teilung von Wörtern weichen: „Chaque mot se divise, mais en soi-même“ (Gilles Deleuze über Beckett). Mäandernde Klangdynamiken, Schachtelwörter (Ghérasim Luca selbst spricht von einer Mischung aus „contenu“ und „contenant“, also aus Enthaltenem und Enthaltendem, Inhalt und Behälter: wie die „voix silanxieuse“, die „stillschreiende“, „stillschweigende“ Stimme, die, lautlich gelesen, zugleich ein „beklemmender Weg“ sein kann). Unausgesetzte Sequenzen von Binnenreimen und klangähnlichen Wortfolgen, sind Lucas Texte lexikalische Spiegelkabinette, unstete Buchstabenpatterns: Wörter auf der Flucht.
Alchimistisch, sezierend und synthetisch ist diese sprachliche Haltung, der man auch die Begeisterung für das Magische und Rituelle ansehen kann, für jenes Gleiten der Wörter, das Foucault bei Michel Leiris beobachtete. Und wie Michel Leiris gräbt Ghérasim Luca in den „Falten der Wörter“ nach Geschichten und Geschichte, nach dem individuellen, sprach- und menschheitsgeschichtlichen Gedächtnis. In den Kombinationen und Permutationen sucht er die Multiplikation: als ein Werden ohne Zwang zum Entstehen, als ein Wachsen ohne Zwang zum Erwachsenwerden. In der zwitschernden, surrenden Polyphonie seiner „Vogel-“, „Fliegensprachen“, in seinen Flugbahnen und Fluchtlinien, Flimmerflächen und Flatterstrukturen ist dieses Schreiben „mimetisch“ bis zum Verschwimmen mit seinem Referenten.
Aber es gibt auch einen Luca nach Deleuze. Es gibt ihn in zahlreichen Kommentaren von „anderer“ Seite, es gibt ihn in all den Texten, die anderen als „Stotterprinzipien“ folgen, und es gibt ihn nicht zuletzt dank jener gesteigerten Innenperspektive auf die Texte, wie sie das Übersetzen notwendigerweise voraussetzt: als zugewandte, verwandtschaft-suchende Lektüre, in Analogie nicht nur zu einzelnen Syntax- und Bedeutungskonstruktionen, sondern in Analogie zur Ordnung / Unordnung des Originals im ganzen.

„JE M’ORALISE“
Als nimmermüder mündlicher Vortragskünstler und unverdrossener Moralist setzt sich Luca in seinem wohl berühmtesten poetologischen Selbstkommentar „das Befreien des Worts aus seiner gefängnishaften Lautlichkeit“ zum Ziel:

Doch der Begriff Poesie an sich ist irreführend. Ich ziehe vielleicht ,Ontophonie‘ vor. Wer das Wort öffnet, öffnet die Materie, und das Wort ist vielleicht nicht mehr als der materielle Träger einer Suche, die sich die Verwandlung des Realen zum Ziel gesetzt hat. (Ü.: Mirko Bonné)

Das Wort als Materie zu behandeln, alchimistisch in andere Materie zu verwandeln, das ist der Kern von Ghérasim Lucas „Ontophonie“. Ein streckenweise recht unsicheres Unterfangen: Ghérasim Lucas Wortkunst zeichnet sich nicht durch Lesbarkeit aus, sie entkleidet die Wörter von dem Gewohnten und den Sprecher von seinen Gewohnheiten. Schöpfung ist für Luca der Bruch mit der Form, bald über Laut-Mutationen innerhalb des Gedichts, bald über ein fächer- oder flächenbrandartiges Ausbreiten der Signifikanten.
Bei aller Betonung der Wortartistik des späteren Luca wird freilich gerne übersehen, daß es auch innerhalb der französischen Produktion durchaus keine klar erkennbare formale Linie gibt: In Zyklen wie „Apostroph’ Apocalypse“ haben die Wörter isoliert ihren Auftritt, Vers für Vers durchbuchstabiert, mit vertikalen Reimen und Varianten. Ein anderes, über Dutzende von Seiten sich hinstreckendes Langpoem („Le verbe“), macht die Wörter zu Protagonisten einer Geschichte, die das Gedicht selber ist: die Geschichte der Wörter, aus denen es besteht. „Prendre corps“ wiederum, eines von Lucas bekanntesten Listengedichten, arbeitet mit dem durchgehenden Verbalisieren von Substantiven. Hier folgt der Leser der stückweisen Eroberung eines Körpers, des Körpers der Geliebten, während auch das Gedicht, und zwar Verb für Verb, Körper annimmt.
Die Ausschöpfung der virtuellen und reellen Bedeutungsmöglichkeiten eines Wortes bis hin zu seiner materiellen Annullierung (sprich: bis zu seinem Aufgehen in jenem Raum, den es semantisch evoziert hat) wird in dem von Gilles Deleuze mehrfach zur Sprache gebrachten und vielleicht berühmtesten Gedicht des Autors, „Passionnément“, anvisiert: ein „Stottergedicht“, doch auch ein Flächengedicht, eine flimmernde Gedicht-Oberfläche, der allerdings kaum durch eine „Oberflächenübersetzung“ beizukommen wäre, sondern die ebenso in der Zielsprache ein Ausloten der Wörter in ihrer ganzen etymologischen und assoziativen Dichte verlangt. „Passionnément“ spielt mit Entgrenzungen, mit dem Hinüberfließen zu Angrenzendem, sprengt Worthüllen (Worthülsen) ab in der Sehnsucht, „den Atem zu befreien“. Das Ergebnis ist ein Panoptikum von Umspringbildern, eine dauerhaft vorläufige Form:

émerger aimer je je j’aime
émer émerger é é pas
passi passi éééé ém
éme émersion passion
passionné é je

erschließen lieben ich ich ich liebe
ersch erschließen en en leider
leide leide enenenen er
ers erschleichen leiden
leidenschaft en ich
(Ü: Mirko Bonné)

ausbricht liebe ich ich liebe
aus ausbricht au au nicht
schrift schrift ichichich brich
aus austritt leiden
leidenschaft li ich

(Ü: Theresia Prammer)

dieben lieben ich ich ich liebe
üben dieben ie ie aber
schaft schaft iiii ib
iebsch diebschaft liebschaft
gelitten oje

(Ü: Michael Hammerschmid)

Auch bei Texten wie „L’anti-toi“, „La voie lactée“ oder Héros-limite geht die rhizomatische Verselbständigung der Silben so weit, daß sich der Übersetzende nur mehr über das dünne Seil bewegen kann, das die Wortverbindungen spannen. Doch was bei lautassoziativen Langgedichten dieser Prägung erschwerend, ja geradezu verunmöglichend hinzukommt, ist: es gibt darin ein Erzählen, wobei noch die kleinsten Worteinheiten auf vollendete Weise eingebunden sind in ein wucherndes und zugleich auf einen Referenten hin ausgerichtetes Klanggebilde, also jedes „und“, jedes „weil“, jedes „aber“, jedes „auch“ neben der phonetischen auch eine narrative Aufgabe zu erfüllen hat (oder umgekehrt). Der Klangkörper des Deutschen muß seine eigene Organisation finden und trotzdem eine semantische Plausibilität bewahren, wie in den zwischen Katalogisierungswahn und Delirium oszillierenden Ausführungen über die ,erotische‘ Ziffer „0“ aus Héros-limite:

Ile, île, cet objet est comme une île, île unique, tour, tour infinie et unique, île, île, il est le seul, le seul objet métaphysique de ma collection de trous entourés d’un contour métallique et, malgré son grand, son grand défaut d’être gras, grand et métaphysique, malgré son grand et gras défaut faux de ne pas être du tout, il reste l’objet près, l’objet préferé de ma collection.

Wie eine Insel ist dieser Gegenstand, Insel, einsam, inselig, selig, unendlich selig und einzigartig, Insel, Insel, es ist der einzige, der einzige metaphysische Gegenstand meiner Sammlung von Löchern, mit metallischen Umrissen umrissen und, trotz seines großen, seines großen Lasters bloß, groß und metaphysisch zu sein, trotz seines großen und bloßen lastenden Lasters gar nicht zu sein, bleibt er der eine, bleibt er der feinste Gegenstand meiner Sammlung. (Ü.: Theresia Prammer)

In Héros-limite ist der somatische Strom, der die Gedichte generiert, ganz außergewöhnlich virulent, und damit eben auch die Tatsache, daß er vielleicht wirklich nur auf diese Weise in dieser Sprache entstehen kann: weil er aus ihr heraus entsteht. Und wenn die Laute, die der Sprechende sich anbildet, eine Anbindung an seine Erfahrung aufweisen, so bedürfte es, um Lucas Anagramme als Verweise auf eine „Sprache unter der Sprache“ (Jean Starobinski) zu übersetzen, genaugenommen eines zweiten Schöpfungsakts.
Dem Übersetzer stellt sich hier, mehr noch als bei anderen Stücken, die Frage, ob ein solches Schreiben, phonetisch-somatisch angetrieben, nicht zu einer Lockerung der semantischen Kontrolle, zu einer „emphatisch-somatischen“ Neuschöpfung berechtigt? Insofern sind Lucas Gedichte natürlich nicht übersetzbar: Denn weder kann man als Übersetzer in Lucas Haut schlüpfen und zur Gänze darin verschwinden, noch würde man sich vermutlich bei der Konstruktion eines analogen Gedichts im Deutschen um dieselben „Themawörter“ (F. Ph. Ingold) bemühen, ganz andere würden sich anbieten, die Assoziationsketten würden keine sekundären, sondern primäre sein. Was also tun? Dem Klangkörper den Vorzug geben? Nach Äquivalenten für Sinn suchen? Wort für Wort übersetzen? Beides hat etwas für sich: der Sinn fordert ein sprachliches Äquivalent, und die Sprache ergibt Sinn. Manchmal hält man zu sehr am Original fest, manchmal verzagt man und möchte alles verwerfen, manchmal steht man plötzlich woanders, blickt von dort auf Luca zurück und hat ein schlechtes Gewissen. Das ist die Fluchtbewegung, die den Texten eingeschrieben ist und die ansteckt. Nur ist dieses Sprachspiel, Wechselspiel aus Wortrausch und Worttausch, eben nur die eine Komponente bei Luca, seine alchimistischen Sprache-Welt-Gleichungen sind die andere. Und es bleibt, in jeder Phase der Übersetzung, zu hinterfragen, wie die beiden zusammenhängen. Und das nicht so sehr im Glauben an das Absolute und punktuell Unumstößliche der Verquickung von „Wie“ und „Was“, sondern in einem Text, der sich den Lucaschen anverwandelt, der Luca nachspricht, der aus Luca spricht, der spricht wie Luca (aber es könnte auch Luca sein, der manchmal spricht wie wir).
Umgekehrt sieht der Übersetzer auch, was nicht dasteht, er kommt auf Lösungen, auf die der Autor nicht gekommen wäre, und in Versuchung, die Originale umzuschreiben; die Arbeit des Übersetzens bringt den Text des Originals ins Wanken. Und auf dem Sprung zur Vertextung geschieht nicht selten etwas, was diese Vertextung unmöglich macht, was aus den Sinngebieten immer wieder zurückführt in die reine Sprache. „Le poème s’éclipse devant ses conséquences“, faßt Luca den Umstand selbst in Worte: das Gedicht als Lawine, die über sich die Kontrolle verliert, befangen in einem artikulatorischen Kraftakt der unsystematischen Entfaltung, wobei das Auszudrückende fortwährend entrückt, „sich verdrückt“.
Neben der geläufigen wäre somit stets die gegenläufige Spur zu übersetzen, neben der lautlichen die thematische, neben der faktiven die evokative, neben der aktiven die fakultative usw. Ein solches Verfahren dürfte auch ein Verfahren in einem vielfachen Sinne sein: als Verlust der gegebenen Route, als insistente Antwort auf eine ständige Verfahrenheit, als Sichfestbeißen an einer Begriffskonstellation, als Knacken der vom tagtäglichen Gebrauch überlagerten vieldeutigen Fügung. So kommt die Rohfassung, in der die Fundamente offenliegen, einer neuen Zusammensetzung harrend, wahrscheinlich bisweilen sowohl der Intention als auch der Intensität und Spannung des Lucaschen Schreibens am nächsten, in seinen winzigen morphologischen Abweichungen, in der monomanischen Konsequenz seiner Lautverkettungen, in seiner ganzen „formalen Tiefe“ (Michel Foucault).

Wenn es zutrifft, daß man Ghérasim Luca nach herkömmlichen (woher kommenden?) Maßstäben nicht übersetzen kann, so ist doch ebenso vorstellbar, daß dieser Unmöglichkeit zugleich ein außerordentliches Potential innewohnt. Im kompositorischen Umgang mit Silben und Zeichen, in der utopischen Hinwendung zu einer Universalsprache ist dieser Ansatz freilich linear nicht übersetzbar, doch er wird es, wenn man das Übersetzen nicht lediglich als Überführen einer Bedeutungsfracht von einem Ufer zum anderen verstehen will, sondern anfängt, sich affizieren zu lassen, einzutreten in einen Textraum, ein Stück des Weges mitzugehen mit dem Autor: langatmige, geduldige Parallelaktion, Suche nach der adäquaten Versuchsanordnung, Auftrennen und Neu-Benennen, Aufdröseln und probeweises Wieder-Aneinanderhalten; auf jede Entschlüsselung kommt eine neue Verschlüsselung. Luca ins Deutsche versetzen, nicht ihn übersetzen.
Das langsame, nachstellende Verfahren lohnt sich auf jeden Fall bei jenen Gedichten, die auf Begriffe zulaufen, übereinander projiziert und aufs äußerste komprimiert. Hier stellt das Wort-für-Wort- (und zugleich: Wort-im-Wort-) Übersetzen keine Notlösung dar, gilt es doch auch nicht so viele thematische Kerne zur Deckung zu bringen. Und es herrscht vor allem nicht dieser Syntaxzwang, der die langen „Prosagedichte“ zu einer so atemlosen übersetzerischen Berg-und-Tal-Fahrt macht; man kann in der Regel punktuell über Lösungen nachdenken und dabei den Satzbau als eine Art Bausatz der unerschöpflichen Kombinationsmöglichkeiten begreifen.

L’ATOME, LA TOMATE
Es kann gefährlich sein, einen Buchstaben in die Welt zu setzen, denn der Autor oder genauer gesagt der Setzer kann nicht wissen, was aus ihm wird. Man schreibt ein B, es kann eine Blume draus werden, aber auch eine Bombe. (Yoko Tawada)

Wörter dürfen auch in Ghérasim Lucas Dichtung verantwortlich gemacht werden für mitunter folgenschwere Entwicklungen. Von Kriegen, Katastrophen, Verletzungen ist vor allem in den Paralipomènes (1976) die Rede, von Leiden, Verstümmelungen, Verlusten. Luca gibt ihnen stets die höchste und dramatischste Färbung, sarkastisch überzeichnet, in ein Extrem gesteigert, das den Galgenhumor zum poetischen Konzept erklärt. Dabei kann das Segmentieren von Begriffen und Satzteilen bisweilen auch ein wenig plakativ ausfallen: Der Triade „NU’ CLÉ’ AIR’“ läßt sich im Zyklus „Apostrophe’ Apocalypse“ nachspüren, einer Gedichtfolge, die stutzig macht ob der spektakulären Grausamkeit der Bilder. Da gibt es „Krüppel“ und „Krüppelstümpfe“, Menschen, die „armlos“ manuelle Tätigkeiten verrichten, Menschen, die sich treffen zum „Tete-a-tete“ unter der Guillotine:

Vor „lauter
(wieder ein Krüppel
geköpft und am B’oden)
Seins-Apostrophieren
seinen Kopf verlieren

(…)

Mit Fingerspitzengefühl
verhandelt
die abgehackte Sprache
mit den Armen

(…)

Man entgeht durch lapsus linguae
aaaaaaaaaaaaaaaaadurch lapsus vitae
durch lapsus linguae
aaaaadurch lapsus vitae entgeht man

(…)

Fußlos, fliehenden Schritts

Doppelt einarmig
aaaaaaaaaaarm-selig

(…)

(K)ains’s’apostroph
vom Würfel zum Narren ge(M)acht

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazu Fall gebracht!
(Ü.: T. Prammer / M. Hammerschmid)

Wenn man von einem Satzzeichen sprechen kann, das hier leitmotivische Funktion übernimmt, so ist dieses Satzzeichen mit Sicherheit das Apostroph. Und ähnlich wie das Apostroph (formal-typographisch) die Bewegung des Atomspaltens nachbildet – das Öffnen der Materie durch Öffnen der Wörter –, machen die Motive und Themen der Gewalt im Zyklus „Apostroph’ Apocalypse“, einer Art Endlosschleife der Gewalthandlungen, die Versehrtheit der Sprache erklärbar und augenfällig, lassen die Schnittstellen innerhalb der Wörter sich identifizieren mit den Verwundungen der dargestellten Opfer. Und auch die Sprache als Mittel der Darstellung ist eines dieser Opfer, ist eine gebrandmarkte, in Mitleidenschaft gezogene, angetastete, verstümmelte Sprache. So liegt es nicht fern zu vermuten, daß es einen nicht zufälligen, sondern substantiell-manifesten Zusammenhang gibt zwischen der Verstümmelung und dem Verstummen.
Ein solches Fanal des totalen Verstummens birgt die Vision des Atomkriegs, eine Vision, die sich bei Ghérasim Luca wie vielleicht sonst nur bei Andrea Zanzotto auch in einer reflektierten sprachlichen Haltung kristallisiert. So hat es mit der Rede von den Atomen stets auch eine poetologische Bewandtnis. In dem Impuls, Wörter „zu öffnen“, um ein Potential aus ihnen zu befreien, schreckt dieses Wort(kern)spalten übrigens vor komischen Ableitungen keineswegs zurück: vom „Atom“ zur „Tomate“ ist es nur ein kleiner Schritt. Eine Ironie, mit der dem Thema der Zerstörung der Menschheit ebenso begegnet wird wie jenem der Zerstörung des Diskurses über die Menschheit, des Archivs.
Aufschlußreiches zu Prämissen einer solchen „atomaren Poetik“ findet sich bei Jacques Derrida:

Die atomare Bewaffnung hängt mehr als jede bisherige Bewaffnung – so scheint es – von Informations- und Kommunikationsstrukturen, von Sprachstrukturen, auch solchen der nicht-vokalisierbaren Sprache, der graphischen Chiffrierung und Dechiffrierung ab. Aber sie ist auch ein auf fabulöse Weise textuelles Phänomen in dem Maße, in dem – bis zum Augenblick – ein Atomkrieg nicht stattgefunden hat: Man kann davon nur sprechen und schreiben.

Daß es die Vernichtung der Archive geben kann, aber kein Archiv der Vernichtung (in dem die Vernichtung aufgezeichnet werden könnte, wenn alles vernichtet wäre), all das ist im Zyklus „Apostroph’ Apocalypse“ als Prämisse mitgedacht, und es macht ihn, neben seiner sprachlichen Emeuerungskraft, zu einem so kompromißlos „heutigen“ Text.
Das Insistierende (und manchmal Penetrante) an einem solchen Sprechen und Schreiben von etwas eigentlich Unaussprechlichem und kaum Beschreibbaren hat Ghérasim Luca sich auch in einem seiner bekanntesten Langgedichte, „La clef“, zur Aufgabe gemacht:

Et la guerre n’est pas absurde
ni la paix qui l’incite
leur logique démographique peut nourrir
l’ogre de l’équivoque
jamais le démon de la rage
et de l’absurde
(…)

Und der Krieg ist nicht absurd
noch der Friede der ihn auslöst
ihre demographische Logik kann
den Gnom des Zwiespalts unterhalten
niemals den Dämon der Wut
und des Absurden
(…)
(Ü.: T. Prammer / M. Hammerschmid)

Eine derart selbstverständlich daherkommende und nur durch „entwaffnende“ formale Mittel gebremste Drastik im Umgang mit Gewaltthematiken birgt jedoch – wo der Grat zwischen Denunziation und Demagogie schmaler und schmaler wird – auch die Gefahr des Leichtfertigen und Plakativen in sich, ist von einer Brutalität, die sich (auch hier ist die Metapher grausam wahr) „totlaufen“ kann und einen gegenüber dem Abgebildeten abstumpfen läßt. Luca, der Wort-Alchimist. Doch nicht alles, was hier von Gold spricht, glänzt: es sind nicht immer die gelungensten Gedichte, die sich da thematisch gravitätisch gerieren, das „fliehende Wort“ auf Diskurs-Kurs verliert mitunter an Schärfe, wird dozierend, faktisch und didaktisch. Solchen Passagen darf man beim Übersetzen ruhig auch einmal mit jener befreienden Albernheit begegnen, die zur Thematik nur scheinbar in Widerspruch steht, sich an die Verballhornungen haltend, lachend über eine umwegige oder abwegige Formulierung, alles Denkbare durchprobierend: Über den Ausschluß des Unmöglichen läßt sich das Mögliche aufschließen.
Weniger gewalttätig (aber nicht weniger sprachgewaltig) geht es in den längeren Lautprosastücken zu, von denen „La voie lactée“ neben Héros-limite und „L’anti-Toi“ vielleicht das überzeugendste Beispiel darstellt. Schon aus dem Titel ergeben sich für das ganze Gedicht relevante Übersetzungsprobleme. Denn „La voie lactée“, das bedeutet einerseits schlicht: „Milchstraße“, phonetisch schwingt freilich noch ein zweites Wort, nämlich „Ja voix“, die Stimme, mit. Es lag also vielleicht nicht allzu fern, in Lapsus linguae den Titel in „Milchstraße, Milchsprache“ aufzuspalten: in Anlehnung an Andrea Zanzottos „lingua lattea“, an die zerfließende Sprache, die phatische, somatische Sprache, die Vor-Sprache, die noch nicht normalisiert, grammatisch fixiert ist, die anti-diskursive Sprache par excellence.
Auch Luca strebt nach der „Verflüssigung“ der Sprache und verzichtet dabei durchaus nicht auf Nuklei von Bedeutung und Sinn. „La voie lactée“ zugrunde liegt ein aus kabbalistischen Traktaten gewonnener Sprachbegriff, der die göttliche Schöpfung „als Akt des Schreibens“ auffaßt, „in dem die Buchstaben sozusagen die materiellen Vehikel repräsentieren, durch die sich das Schöpfungswort Gottes – einem Schreiber gleich, der seine Feder führt – in den geschaffenen Dingen verkörpert.“ So wird der Schöpfungsbericht in diesem Gedicht auch thematisch fruchtbar gemacht, wobei zum einen der Schöpfungsgedanke mit jenem der Vernichtung des Menschen durch den Menschen kurzgeschlossen wird, und das Sprechen, andererseits, in Analogie zum Gotteswort verstanden werden soll: die Schöpfung nachzuschöpfen ist das geheime und nicht kleine) Anliegen der uferlosen, gattungsübergreifenden Sprachschöpfung „La voie lactée“; im Streben nach jenem Zustand, wo Sprache und Schöpfung in eins fallen, wo die Durchdringung von Sprache und Welt am größten ist. Und nicht zufällig ist dieses Gedicht im Paradies angesiedelt, kannte doch das paradiesische Sein, nach Benjamin, nur eine Sprache. Mit der Verbannung aus dem Paradies setzt die Übersetzung ein, will sagen: das Sprechen, das Namengeben.

WARTEN
Wenn kein Stein auf dem anderen bleibt, ist das noch Übersetzung? Wo beginnt die Willkür, wo gerinnt die Biegsamkeit zum Kompromiß? Könnte es manchmal konstruktiver sein, ein Haus nicht fertigzubauen? Es bewenden zu lassen bei diesem tastenden Explorieren von Gängen (Ganglien), den Teilungen, Verzweigungen der Sprache nachspürend? Wir als Übersetzer mußten uns fragen: wie sieht die Welt aus von der Warte dieser Sprache, von der Warte dieses Gegenstands, und wir mußten Gehversuche anstellen in diesem Gegenland: immer im Ungefähren, keineswegs ungefährdet. Eine Aufgabe des Versetzens und Neuzusammensetzens, des Freisetzens auch, wobei jedes Wort umgewendet, neu gehört und nach Maßgabe der deutschen Phonetik (auch im performativen Sinn) neu interpretiert werden muß. Ein ums andere Mal treten so überraschende Bedeutungen hervor, von denen oft über weite Strecken unklar bleibt, wieviel Raum sie einnehmen dürfen oder sollen. Und wenn, beim Nachvollzug des Prozessualen dieser Sprache, der Verselbständigung der Silben und minimalen Wortpartikel, ihrer Wiederholung und variierenden Wiederaufnahme, verfahrensanalog gearbeitet wird, so geschieht auch das immer im Bewußtsein einer Gratwanderung: Denn würde man sich allein an die Semantik halten, wäre das Resultat unverhohlen plump und ginge am Kern des Textes vorbei, während die Orientierung an der Phonetik immer Gefahr läuft, zum hohlen Klangteppich zu geraten.
Zwischen diesen beiden Polen ist der Schritt zum Kompromiß nicht weit, und er muß kein schaler sein: nicht eine Neuschrift, die nur noch einem somatischen Wortstrom verhaftet ist, sondern eine Variation der vom Autor übernommenen Themen und Motive. Nicht immer frei von Skrupeln, hat doch das, was man da übersetzt, vermutlich nur auf diese Weise (auf Lucas Weise) in dieser Sprache und vielleicht auch: nur zu diesem Zeitpunkt entstehen können, also innerhalb einer Poetik des Momenthaften und der Minimalabweichung, wo Stimme und Physis fortwährend miteinander abgeglichen werden müssen. Das Übersetzen, sollen die Themawörter beibehalten werden, läßt nur ein sekundäres Assoziieren zu, um den vorgefundenen Kern herum: eine spezielle und sehr essentielle Spielart des „texte à contrainte“. Das Original bestimmt die Spielregeln, aber die Übersetzung spielt, unter verschärften intertextuellen Bedingungen, ihr eigenes Spiel. Nicht allein das „verläßliche“ „Beherrschen“ der Fremdsprache ist hier gefragt, sondern das Erlernen einer literarischen Sprache von Grund auf.

Ein Gedicht, das die Wörter in den Worten hörbar macht, ihre Echos, ihre Leit-Motive und ihre Beweg-Gründe, ihre Abgründe auch, ist das Gedicht „La paupière philosophale“ (in Lapsus linguae). „Das Lautmaterial des Titels ist, wie bei „La voie lactée“ oder „La morphologie de la métamorphose“, konstitutiv für das Kommende. Doch sich hier dafür zu entscheiden, den Titel lautlich auszuleuchten, führt notwendigerweise in Richtung Paradox: „Leises Lied“ – „philosophales Lid“. Im Falle der Druckfassung hat sich diese Variante durchgesetzt, allein: was hat der gedruckte Text dem Nicht-Gedruckten voraus? Wohl nur den Faktor der Vervielfältigung, Zugänglichmachung. Diesen Texten aber liegt eine Logik der Entfaltung, nicht der Vervielfältigung zugrunde. Es ist also durchaus nicht vergeblich, ohne Scheu vor dem Nonsens, dem französischen Titel nachzudenken, auf die Lucasche Weise, sprich: philo sofale, vieh lo so, vieh loh so fahle, viel oh Sofas usw. Oder sich zu überlegen, was der Unsinn an Sinn verbergen könnte und wie dieser aus jenem zu bergen wäre: was könnte das sein, in unserer Sprache, ein „philosophales Lid“? Und was bedeutet es (bedeutet es etwas?), daß das Wort philosOPhAL den Opal enthält, fast so, als ob das fremdsprachige Wort nun zu schillern begänne wie ein Opal? Also dem Edelstein den Vorzug geben? Oder doch beim Stein der Weisen bleiben? („La pierre philosophal“, der durch lautliche Subtraktion aus dem Titel zu gewinnen ist?) Führen doch so viele von Lucas Gedichten in einen Kontext der Alchimie: „Muer le vil métal / en pot-aufeu d’or mental / étale / un métapeu de métatout“, heißt es wenig später im selben Stück. Aber „paupière“ ist nicht „pierre“, also: „Das Bein der Weisen“? „Das Sein der Weisen“? „Der Schein der Weisen“? „Der Schrein der Weisen“? „Der Schrei der Weisen“? „Das Schnein der Weisen“? Oder gleich, und um es im selben Moment wieder zu verwerfen: „Schreienderweise“? Und was geschieht weiter mit diesem Verworfenen? Es spricht mit, scheint es, füllt einen Subtext mit seinem unausgesetzten Murmeln.

„Peau fine / paupière finale / fœtale / fatale / philosophale“: „Leises Lied / finales / fötales / fatales / philosophales Lid.“ Ist es ein Übersetzungsfehler, dem idiomatischen, terminologisch korrekten Äquivalent nicht recht zu geben oder ist es so, daß einer solchen „richtigen“ Übersetzung nicht doch etwas fehlt? Ein Problem, das sich im Laufe der Übersetzungsarbeit an Lapus linguae mehr als einmal gestellt hat. Denn das Mehrdeutige verstehend zu lesen heißt meistens, es ins Eindeutige zu übersetzen. (Weshalb der brillante philologische Kopf nicht notwendigerweise ein guter Übersetzer ist.) Manchmal verbürgt die lautliche (oder buchstäbliche, was beim Übersetzen aus dem Französischen eine auch phonetisch „prononciertere“ Nuancierung mit sich bringt) Übersetzung mehr Sinn, manchmal die unidiomatische oder gar ungrammatische, manchmal enthält die sinngemäße Übersetzung auch schon das Lautspiel. Es gibt Momente der glückhaften und wundersamen Übereinstimmung: „Le monde s’onde“ – „Die Welt wellt sich“, und es gibt die Momente, da diese Übereinstimmung wieder und wieder gesucht und versucht werden muß. Und es gibt – doch hier gerät man bereits in den heiklen Bereich der Übersetzerpathologien – die Sucht nach dieser Übereinstimmung. Und man ginge vielleicht nicht fehl, wenn man einen Text wie „La paupière philosophale“ als „doppelzüngig“, mehrzüngig bezeichnen würde – à plusieurs langues: also als mehrsprachig zuletzt.
Folgerichtig ginge es in der Übertragung um Realisationen, um einander ergänzende Versionen, zu denen das Original die Partitur bereitstellt. Hinzu käme erneut der thematische Komplex. Im Großen wie im Kleinen, das heißt: in den einzelnen Versen, einzelnen Gedichten, in den einzelnen Zyklen. Die Themen, die auch die Themen von Lucas Schreiben und Leben sind: sie sollten erkennbar zu verorten sein, wenngleich nicht immer an genau den gleichen Stellen. Testo a fronte? Oder die Übersetzung als Front gegen den Text?
So stellen sich, am Ende eines langen Parcours des Filterns und Koagulierens, des zögernden Vorsichherschiebens und funkenschlagenden Miteinanderkonfrontierens in einem Meer von Varianten, die jeweils andere Varianten nach sich ziehen, Ergebnisse ein, die fixiert werden (müssen), doch es gibt auch unzählige Zwischenergebnisse, die nirgendwo vermerkt sind: unausgesetztes, leises Nachbeten von Lauten. Schwindende, schwindelnde Wortwelten. Herumschlingern zwischen Buchstaben und Sätzen.
Ist das etwas für Eingeweihte? Für Verrückte? Für Freaks? Ist ein solches Übersetzen noch lesbar, bezogen auf die kanonischen Koordinaten der Sinnvermittlung? Und wo hätte dieser Sinn seine Mitte? Warum nicht gleich von einem eigenen Themenkern ausgehen und ihn phonetisch entwickeln (Dichten wie Luca, statt Luca nachzudichten)? Warum überhaupt diese Detailversessenheit, diese „Fitzelarbeit“ mit Variablen und Varianten? Warum, so bringt es ein skeptischer Bekannter auf den Punkt, den Eiffelturm mit Streichhölzern nachbauen?
Denkbar undankbar übrigens: denn in der Rezeption der Übersetzung wird jede Lautassoziation, jede phonetische Arbitrarität zur unverbrüchlichen Worttatsache. Doch könnte man ein Röntgenbild der Übersetzungen in Lapsus linguae anfertigen, es brächte all das zutage, was nicht stehengeblieben ist und was doch, auf eine Weise, bestehen bleibt: eine Unzahl von Schichten, einmal fixiert und wieder verschüttet, verstoßene Versionen, Anläufe, Kreisläufe, Leerläufe. So kommt es vor, daß die eine oder andere Vertracktheit nach Monaten plötzlich wieder aufzustehen und – schlimmer noch – aufzugehen scheint, und es mutet nachgerade unfaßbar an, daß diese Buchstaben, nach tausend schwebenden Versuchen in eine Druckform gebracht, sich nun zwar vom Blatt lesen, aber nicht mehr vom Blatt lösen lassen. Ein Hohn, möchte man meinen. Und eine Demontage des Anspruchs auf „Druckreife“: dieser pulsierende Textkörper, der noch weiterreift, weiter reist, wo er schon fest zu stehen schien, und dessen adäquateste Übersetzung vielleicht eben dieses Auftrennen und nicht mehr Zusammennähen, dieses im Dunkeln nach hellen Stellen tastende Annähern ist. Ohne das jedoch zur Maxime zu erheben: denn wenn diese Dichtung irgendeinen „Sinn“ hat, so nicht zuletzt jenen, einen solchen Sog, einen so destabilisierten und destabilisierenden Zustand zu erzeugen. Oder anders: Lucas Dichtung, einem Zustand der Übersetzung entspringend, darf aus diesem Zustand nicht herausgeführt werden; sie muß beweglich, sie muß übersetzend, sie muß Versuchsanordnung bleiben. Wodurch vielleicht nicht der Schriftstand (die Publikation), sondern der Weg dahin das adäquateste Resultat der Bemühungen darstellt: ein Wirrwarr, in dem es Routen gibt, Schneisen, Fährten, Fluchtmöglichkeiten.
Gerne bemüht man in solchen Fällen den Gemeinplatz, ein solches Übersetzen könne nicht mehr als eine tangentiale Annäherung sein. Dem zugrunde liegt jedoch häufig auch nur ein sehr annähernder Begriff vom Übersetzen, der über dem Entweder-Oder das Dazwischen aus den Augen verliert: im Verwobensein des Originals mit seinen Versionen (Visionen?), in ihrem Zusammenwirken, in der Makrostruktur ebenso wie im minutiösen, partikularen Sinn. Doch auch in dem, was ein solches Unternehmen an nachhaltiger intensiver, affektiver, lebensweltlicher und monomanisch-rekreativer Beteiligung mit sich bringt: eine lange, langsame Phänomenologie

MON DEMON SONORE
Unter den Texten, die Ghérasim Luca zu Lebzeiten in keinen Band aufgenommen hat, findet sich auch ein Stück, in dem noch einmal wesentliche Motive seines Werkes variiert werden. Es trägt den an Michel Leiris gemahnenden Titel: „Le tangage de ma langue.“ Ausdrücklicher als in anderen Gedichten ist es das „Instrument“ Stimme, das hier im Vordergrund steht: „C’est ainsi que je vis / ce que je vois / et que ma voix se voue / à moi qui s’eteint“ (auch hier wieder gilt: vois / voie / voix / voile / viol / violin / voir – Lexeme als Schnittstellen, Variablen einer Vernetzungsstruktur. „Das Schwanken meiner Sprache“, zur Gänze auf Anagrammstrukturen aufgebaut, setzt ein Ich ins Werk (oder: in die Welt), das ohne dieses Sprechen, ohne das potentielle Gerettetwerden durch eine Stimme, die es aufgreift, aufnimmt, dem Verschwinden anheimfallen müßte: also eine durchaus existentielle Komponente. Wozu wiederum paßt, daß Luca seine Dichtung als „Ontophonie“ verstanden wissen wollte, in der die Sprache immer zugleich selbst-redender Klangkörper ist und der Sprechende ihr vibrierender, diktierender Protagonist:

À cette orgie de mots
et d’ascètes à l’écoute
mon Démon sonore agit
sur un monde qui se nie
se noie et se noue
au fond de ma gorge

Inmitten dieser Orgie von Worten
und von Asketen, die horchen
hat mein sonorer Dämon teil
an einer Welt, die sich verneint
die ertrinkt, sich verschlingt
am Grund meiner Kehle

(Ü.: Theresia Prammer)

Auch hier ist das „or“ des „Goldmachers“ Luca zentral, vertikal rekurrierend in mehr als einem Vers. „Demon“ und „monde“ sind spiegelbildlich zu lesen und bilden eine für Luca-typische Umkehrung. Welche Möglichkeiten hat man im Deutschen? Soll man das Verfahren übernehmen und dem „Dämon“ das „Mondäne“ entgegensetzen? Soll man die Satzteile verspielt weiterdenken, spaßig für ein „sonohres Ohr“ optieren? Soll der Dämon ein „tönender“, ein „schallender“, ein „klingender“ oder gar ein „kleingelnder“ sein? Soll man vom „Schall“ auf das „All“ schließen dürfen, so wie Luca vom Dämon auf die Welt geschlossen hat? („Hat mein schallender Dämon teil / an einem All, das sich verneint?“)
Hier gibt es so viele Übersetzungsvarianten wie Lesarten wie Interpretationsansätze wie Weltbilder unter einen Hut zu bringen. Assoziationen beim Übersetzen führen Mal für Mal in andere Sprachbereiche: Daß der NAME (NOM) in der Welt (MONDE) enthalten ist, daß der Buchstabe (LETTRE) ein Sein (L’ETRE) in sich trägt, ist nur im Französischen so, doch das Italienische verfügt – eine Entdeckung Inger Christensens – über die DIASPORA im PARADISO, während das Deutsche mit dem Binom ERDE / REDE gesegnet ist, von Oswald Egger anhand der Variablen Rede, Herde, Erde, Dreh, Herd, Äther usw. in weit ausholenden programmatisch-anagrammatischen Bewegungen gedeutet und ausgeleuchtet.
Beispiele für eine Konfrontation Ghérasim Lucas auf Augenhöhe mit dem eigenen „Lautdämon“ (und nebenbei für seine Vielseitigkeit im Changieren zwischen verschiedensten Genres) sind auch unter seinen auf Deutsch bislang noch unzugänglichen Werken zahlreich: so in den Texten aus dem Nachlaß, darunter Überraschungen wie ein poetologisches Credo im Kleinen („Das Wortmaterial“) oder – als Manifest des Dichters und seines Doubles – das formal-typographisch überraschende Gedicht „Der Schauspieler sagt das Wort“ verbergen. Ghérasim Lucas Dramolette indes, minimale Theaterstücke aus dem Band Théâtre de bouche, lassen an die skandierenden Lippen Ernst Jandls in Nahaufnahme denken: an ein Theater, das den Dichter als Verfasser, Regisseur und Interpreten in Personalunion zeigt und in dem die Artikulation die Hauptrolle spielt. (in: www.schreibheft.de)
Auf der verbalen Bühne des Mundtheaters findet die Verschiebungs-, Verschränkungs- und Verdichtungsmanie dieses Autors zu ihrer sozusagen ursprünglichen Komik zurück: Lucas dramatische Werkstatt oszilliert zwischen dem Lebendigen und dem Mechanischen, arbeitet mit Wiederholungstechniken, Refrains, Reprisen und Variationen, rotierend um einige wenige Sentenzen bis zur Aufgabe des Sinns durch dessen fortwährende Überschreibung und Übertreibung. Was so allmählich sprachliche Form annimmt, ist auch die Schriftspur eines Lebens, freigegeben und preisgegeben, in Erwartung einer zukünftigen Entzifferung. Ähnlich in „La mort morte“, wo die Entschlüsselung der Handschrift (als Spiegelschrift) den Etappen einer grotesken Serie gescheiterter Selbstmordversuche folgt: eine surrealistische Inszenierung, eine Untotenfeier, ein dissakrales Fest des schwarzen Humors. Das Leben ist nur in der doppelten Negation zu haben: als Tod, der wieder und wieder mißglückt, als toter Tod. Hier steht nicht weniger auf dem Spiel als die Grenzen des Denkens und Sprechens an der Schwelle zum Nicht-mehr-Sein, das auch ein Sprechen nach der Disqualifizierung des (literarischen) Schreibens ist.
Und so erscheint es zuletzt vielleicht weder verwegen noch abwegig – Lucas Biograph Petre Raileanu spricht diese Vermurung gleich zu Beginn seines Buches aus –, den persönlichen Tod des Autors als notwendiges Glied in einer Kette der Todesarten, der Todesexperimente, der Sterbeversuche und der Todesstufen zu lesen. Der entscheidende Unterschied: Das Kritzel-Ich aus „Moartea Moarta“, 1945 ursprünglich auf rumänisch entstanden und von Luca als letzte größere Arbeit knapp vor seinem Tod ins Französische übersetzt, läßt den Tod nur als Idee an sich heran und kehrt dann, um eine Erfahrung reicher, in ein erzählbares leben zurück. Insofern sind diese Selbstmordversuche auch nicht gescheitert: sie ergänzen das Leben um eine Todeserfahrung, sie schöpfen aus der Todesnähe, aus jenem „Fast schon nicht mehr“ und „Zum Glück noch nicht“, jene befreiende Unabhängigkeit für ein anderes Leben, die der Surrealismus auch aus der Traumwelt zu gewinnen wußte.
„La mort morte“ als träumerische Vorwegnahme des eigenen Todes? Der, so viele Male am Leib der Gedichte erprobt, vielleicht erst dann sein eigentliches, maskenloses und urindividuelles Gesicht offenbart, als Salman Locker, jahrzehntelanger Emigrant ohne Papiere, sich in hohem Alter das Leben nimmt und den Satz hinterläßt: „Es gibt keinen Platz mehr für Dichter auf dieser Welt“… Das ist tragisch, aber fragwürdig ist es auch, bleibt, unbarmherzig gesprochen, weit zurück hinter dem Niveau der fiktiv-literarischen Abschiedsbriefe. At the age of 80, he committed suicide by jumping in the Seine. Ins kalte Wasser springen: war das nicht immer schon Lucas Spezialität? Oder, wenn das zu weit geht: war es nicht seine letzte gelungene „große Geste“? Eine Geste zwischen Pose und Protest, zwischen Überheblichkeit und Sich-Erheben wider eine erlittene Erniedrigung, als Konstante eines Lebens und Werkes.
Non scandalizzo: mi scandalizzo. Mit diesem Diktum pflegte Pier Paolo Pasolini sich zur Wehr zu setzen gegen jene, die in ihm den Provokateur um jeden Preis sehen wollten, den aufmüpfigen Skandaldichter und -Menschen: Ich empöre nicht, ich empöre mich! Nicht ich bin ein Skandal, ihr seid ein Skandal! Dieses Land ist ein Skandal, dieses Leben ist ein Skandal! Ghérasim Luca hat, anders als Pasolini, nicht für große außerliterarische Aufregungen gesorgt. Doch er hat, mit der Rage des unablässig Hinterfragenden und mit dem Mut des Unmutigen, mit seiner Meinung unter keinen Umständen hinterm Berg gehalten. Als einer, der sein schlechtes Gewissen nicht schönredet wider besseres Wissen, unermüdlich warnend und mahnend, Skandalon und Skandalisierter in einer Person. Als einer, der es auf sich nimmt, sich totzustellen, um Räume auszuloten, die dem „Normal-Sterblichen“ nicht zugänglich sind.
Ghérasim Luca, der Suizidant (und der wahrhaft tote Tote), ist aus diesen Bereichen nicht mehr zurückgekehrt. Doch es ist nicht gesagt, daß er nicht weiterspricht, daß es nicht Ohren gibt, um so ein Sprechen auch zu hören: Das rauschende, rauschhafte Sprechen eines „Wassermanns“ (F. Ph. Ingold)? Eines „Polyphönix“ (T. B. Jelloun) aus der Asche? Ein fließendes Sprechen in einer ganz fremden Sprache? Ein Ding der Unmöglichkeit? Ein Unding? Oder das, was Gedichte vielleicht immer schon leisten sollten, wenn sie es leisten wollen, und was Ghérasim Luca nicht nur seinen Lesern und Übersetzern, sondern auch sich selbst zu keinem Zeitpunkt erspart hat: die „monströse Paarung der Dinge mit dem Gefühl“.

Theresia Prammer, Schreibheft, Heft 67, September 2006

 

L’espionne laconique quête la voie confuse

– Auto und Tauto lesen Ghérasim Luca. –

luca zu lesen im heißen dachbodenausbau eines freunds im ausland, auf weißen laken liegend denken, oder laut lesen, bis der freund von unten fragt: was? und lugt durchs geländer: wen, wie, wo liest du da? und ich sage nein, es ist nur der regen, der auf die dachluke trommelt. und luca laut zu lesen auf der couch in dieser fremde dort, wegen der fremden sprache, nur das französische laut zu lesen, und gleichzeitig zu denken, und aufzuschauen, um zu denken, und dabei einzuschlafen ist

„So, liebe Tauto, geht das nicht“, sagt Auto. Und fangt lieber etwas mit dem schönen Autor an. Worauf Tauto das folgende Diagramm anfertigt, um sich über Auto und Autor lustig zu machen. Aber Auto und Autor finden die Zeichnung „einfach schön“.

Eine von uns muß hier die Spionin sein, denkt Tauto. Bin ich ’s?

Zeichnung von Ghérasim Luca

Legende: a) Vorderseite (Auto)
aaaaaaaab) Rückseite (Autor)
aaaaaaaac) Lektüre (sie geben sich die Klinke in die Hand) (Ach so, ich dachte – )

 

1: DAS GRAU, DAS SICH AUS DEM NEBEL LÖST

I hate other people whistling. I hate the kind of people who whistle.
I am the only person who can whistle and who should be allowed to whistle.
Whistling is the sole solipsistic expression of the only consciousness
in the whole universe, a phenomenon partly accepted in the term whistling in the dark,
while being also the pure expression of a melody which can only be heard correctly
from inside the head of the whistler. That is also why the sound of someone else
whistling is so incredibly repulsive.
(Fred Astaire Ginger)

Zeichnung von Ghérasim Luca

Also, sagen wir, du bist Autologie, und ich bin Autotautologie, kurz Auto und Tauto, kürzer: du und ich. Du und ich also, Auto, fahren hin, sitzen in einer faden Veranstaltung, und auf einmal beginnst du, Auto, Punkte in mein Notizbuch zu malen. Und sagst mir, Tauto, ich solle sie verbinden.
Ich verbinde sie auf direktestem Weg. Ich könnte sie auch kursiv verbinden, fällt mir ein, und ja, wer sagt mir, daß ich immer den nächstliegenden Punkt anpeilen muß, und wer sagt, daß die Linien bei Punkten aufhören müssen?
Und so beginne ich, nur zum Schein die Punkte zu verbinden, nur vorgeblich, Alibis abklappernd, und fange an, neben den Punkten zu zeichnen, und zeichne Röhren.
Ich zeichne Röhren.
Einmal hat Tauto Plakatrollen von einer Ausstellung mit nach Hause genommen. Da war Tauto fünfzehn, es war ihre erste Ausstellung moderner Kunst. Zu Hause, entzündet von Kunst-Lust, zwang Tauto alle, ihr Gesicht direkt ans Ende des Rohrs zu halten, und auf der anderen Seite des Rohrs, einen Meter von ihnen entfernt, steckte sie ihre Kamera in das Rohr und fotografierte das Gesicht der Person. Es zeigte sich allerdings, daß die Person ihr Gesicht ein wenig vom Rohr zurückziehen mußte, um einen Ring von Licht und Luft einzulassen, damit das Gesicht sichtbar wurde. Das enttäuschte Tauto, da nicht dicht; aber sie umfaßte den Gedanken sofort; sehr fortschrittlich von ihr, finde ich.
Ich wechsle auf die andere Seite des Tisches, damit Auto und Tauto sich einen Joint teilen können. Tauto raucht ihn und bläst den Rauch sorgfältig in Autos Mund, die vorher alle Luft ausgestoßen hat, damit sie allen Rauch inhalieren kann, und lächelt.
Alles Lektüre.

Zeichnung von Ghérasim Luca

dot to dot
(mund zu mund, ich zu du / du zu ich)

 

 

Zeichnung von Ghérasim Luca

„Mir selbst brauche ich nicht zu sagen,
wer ich bin.“
„Sagen?“

 

 

2: AUF DEM MARS
Ich habe mich in ein Café gesetzt, neben dem ein Preßlufthammer schlägt. Ich hoffe, daß diese Schläge sich wie Punkte in mein Hirn bohren. Die Volleys von Schlägen entsprechen der Reichweite von Punkten, die man machen kann, ohne die Hand vom Papier abzusetzen.

Zeichnung von Ghérasim Luca

„Kannst du bei dem Lärm denn überhaupt lesen?“
„Ich schreibe über Punkte.“
(l’espionne laconique / quête la voie confuse)

An den Sternen, die im Vorbeiziehen ihr Licht über die Armaturen, Schalter und Pedale gleiten lassen, können Auto und Tauto ihre Geschwindigkeit ablesen. Sie folgen der Milchstraße, la voie confuse.
Sie kommen von ihr ab: les voilà confuses! Tauto fragt Auto nach der Landkarte. Tauto sitzt auf dem Beifahrersitz und weiß nicht, wohin mit den Händen. Sieht sie auf die Karte, wird ihr bald schlecht vor lauter Primärfarben. Sieht sie aus dem Fenster, weiß sie nicht, wo sie sich befinden. Sieht sie Auto an, die am Steuer sitzt, weiß sie nicht, woran sie ist. Ihre Gedanken gehen in Sätzen, meist paßt ein Satz in das Intervall zwischen zwei Lichtfluten.
Wie wissen Teilchen, daß sie sich auf einem Bildschirm zu Wellen anordnen müssen?
Ihr Tunnelblick gleitet mit einem weiteren Sternmarker über Autos Haar. Auto starrt nach vorne in den Kosmos, versucht, den Mars ausfindig zu machen und bemerkt sie nicht.
Ach, Individualabstand. Vögel auf Leitungen.
Eine Lichtflut kurvt wieder vorbei. Tauto entscheidet sich, entzückt zu sein: „So wie der Mittelstreifen der Milchstraße, der nur als flutendes Licht auf unseren Armaturen in Erscheinung tritt! Wie auch Eisenbahngleise immer denselben Abstand zueinander haben!“
„Aber das hat sich doch ein Ingenieur ausgedacht“, wendet Auto ein.
„Eben!“
Wie weiß ich, was eine Welle ist, oder: wie weiß ich, daß es Teilchen sind? Ich lese, also: ich verbinde Punkte, ich verbaue Möglichkeiten und erhalte Tatsachen, in denen ich Regelmäßigkeiten erkenne. Spuren von etwas, das wie Intelligenz aussieht.

Spuren von Unvollkommenheit: die Reichweite einer Hand, eines Gedankengangs.

Aber wie intelligent ist es?
Auch die Spuren im Schnee vom Abflug eines Vogels sind kohärent, aber nicht intelligent, wie alles, woraus ich etwas schließen kann, ich kann gut und gerne falsch schließen und aus allem schließen. Aber wie intelligent ist es?

Ich könnte, im Café, damit abschließen, daß diese Punktegebilde doodles sind, die gedankenlose motorische Betätigung einer Hand auf Papier ohne bewußten Formwillen, ein dessin automatique, und dabei wären sie gerade dann auch Spuren einer – unbekannten – Intelligenz.

Als Auto und Tauto auf dem Mars ankommen, finden sie dort Spuren unvollkommener Intelligenz wie zum Beispiel meine Handschrift. Die paßt nicht dorthin und verwirrt die beiden.
„Die Spuren könnten chaotisch sein“, sagt Tauto. „Sie wären intelligent, nur nicht konzertiert.“
„Konzentriert“, verbessert Auto. Tauto widerspricht nicht.
„Eine beliebige Anzahl widerstreitender Intelligenzen mag bei perfekter Abstimmung denselben Effekt wie die Abwesenheit von Intelligenz haben.“
„Das bedeutet, wenn ich mich in den richtigen Zustand versetze, kann ich das alles so lesen, daß ich zu Recht nichts verstehe, weil meine Intelligenzen zu den fremden Intelligenzen die perfekten Gegenkräfte bilden.“
Aha!
Auto und Tauto verlassen den Planeten auf demselben Weg, den sie gekommen sind, soweit sie diesen noch feststellen können. Sie versuchen sogar, sich in ihren eigenen Fußstapfen rückwärts zu verziehen. Aber sie verlieren dabei die Balance. So sind die Spuren durch menschliches Versagen einigermaßen verwischt, als sie in die Kapsel steigen, die Tür fest zuschlagen (der Wind davon wirbelt etwas Sand auf) und davonbrausen (großer, vollkommener Sandwirbel).

Und was steht nun in meiner Handschrift auf dem Mars geschrieben, so groß, daß die Worte nur mit einem schwachen Teleskop von der Erde aus zu lesen sind?

Entropy, baby. If you can’t make it, fake it.

Daneben hat jemand eine intelligente Kreatur gezeichnet, die der Betrachterin die Zunge rausstreckt (la langue métaphorique, s.u.). Oder aber es sind die Fußstapfen von Auto und Tauto, die nur so aussehen.

Und zunehmend nahe – poésie pratique – jetzt fangen sie in meinem Haus mit dem Schlagbohrer zu arbeiten an! (Reißen die alten Nähte auf.)

3: LA MORPHOLOGIE DE LA METAMORPHOSE

Die Flamme ist unsichtbar und heiß. Sie produziert Wellen in der Luft und zündet mir eine Zigarette an. Der Rauch ähnelt.
Der Rauch ähnelt den Formationen von Punkten.
Die Reichweite eines Hauchs entspricht dem Radius einer Schreibhand, möglicherweise auf entsprechend eingeteilten Skalen. (Der Radius einer Schreibhand ist nicht das gleiche wie der Radius eines Malarms oder der von Zeichenfingern.)
Tauto holt mit der Rechten weit aus und sprayt.

Zeichnung von Ghérasim Luca

Tauto steht vor dem Spiegel. Holt mit der Rechten weit aus und beginnt zu erklären. Ihre Stimme ist fest und sonor, als spräche sie mit Fassung zu einer versammelten Menge. Es hallt nicht in ihrem Kopf.
„Amorph ist mein Hirn, seltener mein Körper, auch wenn ich nicht immer weiß, wie ich ausschaue. Mein Selbstbild ist graphisch, seltener ein Diagramm. Meine Haarschnitte verändern sich langsam, Stück für Stück, in stop motion. Dieses Verfahren trifft auf vieles zu. Ich lese, dann höre ich auf zu lesen, um zu denken. Ich gehe spazieren und denke, bleibe dann stehen, um etwas zu notieren oder zu lesen. Das, was ich erfahre, verleitet mich zum Denken. Durch das, was ich denke, verändere ich mich, langsam und stückweise. Während ich schlafe, werden nicht nur meine Gedanken aktualisiert, auch meine Zellen werden ausgewechselt. Die von der Oberfläche sammeln sich als Lurch in den Zimmerecken an. Es geht um das Tempo der Beschleunigung bzw. die Beschleunigungsrate der Beschleunigung. Bin ich ungeduldig? Bei der reinen Form ist das Tempo egal. Es sei denn, es ist eine Botschaft in die Modalität gelegt. Wenn es neben dem Resultat eine Sprache gibt, die sich in der Zeit entfaltet, wird diese durch Be- oder Entschleunigung unkenntlich gemacht.“ Tauto winkt sich im Spiegel zu und tritt ab. Steht am Fenster und zündet sich eine Zigarette an. Der Rauch, denkt sie, ist zwar immer gleich, ändert sich aber in jedem Augenblick. Jetzt ist das Stop-motion-Phänomen Sache ihrer Augen.

Sie weiß nicht, daß sie nicht allein ist: Auto kauert hinter dem Türrahmen, lauscht und kudert lautlos.

Auto und Tauto treffen auf einer Party im Haus einer befreundeten Literaturwissenschaftlerin ein. Sie kommen an, viel zu spät, und wandern nüchtern durch die Zimmerfluchten im heruntergedimmten Lampenlicht, steigen über Bierflaschen und Kleidungsstücke herüber, stolpern über Aschenbecher und Schlafende. Die Hausherrin, heißt es immer, sei im Hausherrinnenzimmer. Als sie die Tür zum Hausherrinnenzimmer aufdrücken, treffen Auto und Tauto allerdings nicht die Hausherrin an, sondern drei Allegorien in einer aufwendigen Formation, die ihnen große Konzentration abverlangt.

Zeichnung von Ghérasim Luca

„Die dichten wie die Kaninchen“, meint die Hausherrin, als Auto und Tauto sie endlich im Nebenzimmer aufspüren, wo sie mit verbundenen Augen Billiard spielt.
Merke: Homologie: Orgasmus, notiert Tauto. „Das ist verfickt billig“, motzt Auto, die ihr über die Schulter schaut. Sie schreibt ihr eine kleine private Nachricht ins Notizbuch: Der Reiz von Onomatopoie ist tatsächlich eher ein voyeuristisches Vergnügen: A schaut der Kopulation der Sprache mit B zu, B schaut der Sprache mit A zu und holt sich dabei einen runter / denkt sich seinen / ihren Teil – wenn es überhaupt so etwas gibt wie Sprache, die sich selbst betrachtet und das nicht bloß eine klugscheißerische Redewendung ist. Tauto merkt gar nichts.

 

4: DIE ERSCHEINUNGSFORMEN VON IDEEN:

PERPETUELLE TRANSKRIPTION

Tauto ist nicht sicher, ob sie begeistert sein soll. Schreibe ich also aus einer Idee heraus:

Zeichnung von Ghérasim Luca

 

 

 

 

 

 

… und die Idee erweist sich als Hirnporno…

Schreibe ich also an einer Idee herum:      Schreibe ich also an der Idee von jemand
aaaanderen herum:     Schreibe ich also an jemand anderen herum:
aaaaaaordnet sich die Intelligenz wellerförmig auf dem Bildschirm / auf der Netzhaut an?

Wenn, also (heilignüchtern sein, Tauto!), wenn ich mit diesem saftigen Gel-Stift schreibe, drücken sich Punkte auf das darunterliegende Blatt durch, oft über die gesamte Schriftseite. (Reden wir von unverdorbenem, kaum beflecktem Papier! Wie Natur! Wie Schnee, wie blendendes Licht, wie Kies! Mehr als nichts, weniger als etwas, und beinahe ganz bei sich… )

                             Zeichnung von Ghérasim LucaDie Punkte sind ein Code. Ich kann nicht feststellen, ob sie das Gedicht von Luca abbilden oder meine Schrift. Den Rest der Gedanken mit der Tinte ins Gebüsch schütten……………………  .   .    .     .      .       .        .

Auto und Tauto betrachten einen toten Biber. Das Gesicht, hinter den orangefarbenen Zähnen, ist eine einzige kribbelnde Aushöhlung, gefüllt mit dichtem Geschwärm von schwarzen Insekten und dreckigweißen Maden. Im ganzen aufgeblähten Leib ist nichts zu sehen außer Maden, die über Maden kriechen, sie scheinen den ganzen Brustraum des Tiers zu füllen. So werde ich auch einmal enden, denkt Auto.
Tauto schildert ihr eine Totenverbrennung. „Man sieht am Rauch“, sagt sie, „ob gerade Holz oder ein Stück Fleisch verbrennt, weil in letzterem Fall der Rauch tiefschwarz wie Autoreifen ist.“
„So“, schließt Auto, „wird man, wenn man verbrennt, durch diese kleinen Zufälle – wie ein Ast so oder anders zusammenfällt, wie eine Flamme da oder dort übergreift und an die Arbeit geht, nicht anders, als die Materie bis dahin geraten ist, eine kleine, fast graduelle Umkehrung der Entropie – wird man in einen Code übersetzt, den niemand versteht.“
„Wenn du tot bist“, bemerkt Tauto vorsichtig, „ist es den Maden egal, ob du intelligent warst oder nicht.“
„Aber solange ich Spionin bin“, rotzt Auto, „gehört es zu meinem Job, alles maximal zu dekodieren zu versuchen, auch wenn mein Körper einmal nur einen kurzen und unverständlichen Text aus Rauchzeichen abgeben wird…“
Aha! denkt Tauto, jetzt wissen wir ’s.
„Ooups!“ kotzt Auto.
„Es sei denn, ich bin eine Doppelagentin“, fällt Tauto ein.
„Wärst du wohl gerne“, schlatzt Auto.

 

5: TRANSKRIPTION: DIE GENERATIONENFRAGE

Zeichnung von Ghérasim Luca

Die Wüstennomadin gießt dem Poeten den starken, süßen Pfefferminztee aus einer Beduinensilberkanne mit schlankem, frechem, schweigsamem Schnabel ein.
In der Wüste redet man nicht.
Die Frau redet nicht. Sie blickt, sie hat die Augen mit Kajal umrandet. Ihr Auge besteht aus der Hieroglyphe für Auge. Ihr Auge ist Insasse der Hieroglyphe für Auge. Sie schaut aus dem Konzept heraus, hinter langen Wimpern hervor.

Die Frau ist die Poetin, die nichts aufschreibt oder ausspricht, sondern dem Poeten einschenkt. Der Poet ist der alte Poet in der Wüste, der nur mehr kindisch schreibt.
Der nur mehr Punkte, Sandkörner plappert. Der nur mehr Tee trinkt. Infusionen, Lösungen, Durchfall bekommt. In der Wüste, wo ein Wort schnell einmal im Sand versickert.
Kabam! Auto und Tauto landen neben der ausgebreiteten Decke. Der meterlange Strahl Pfefferminztee, den die Frau gerade einschenkt, macht den minimalsten aller Schlenker: nil mirari. Die Frau ist die hinter dem Auge. Die Frau ist dicht hinter dem Auge. Es geht um Sehen (it’s about sehen): Sehsorge.
Tauto fuchtelt mit den Armen und schreit: „Es geht um Schreiben oder Nicht-Schreiben! Um nicht schreiben können! Schreibsorge!!
Wie kannst du mit diesem plappernden Poeten zusammenleben! Und ständig schweigen! Der Poet plappert, und du schweigst! Er hat den Mund immer offen, du hast den Mund immer zu! Kommst dir auch noch toll vor dabei!!“
Die Frau erklärt geduldig, mit ruhiger, tiefer Stimme: „Es geht darum, daß die, die betrachtet, die Insassin ist, während rundherum alles immer aufsässig, aussätzig ist. Du sagst nichts, du mußt nicht sagen, wer du bist. Es ist allerdings auch nicht er, der plappert. Es plappert in ihm und aus ihm. Er selbst ist schweigsam wie ich, sitzt und kämmt mit ruhigen Fingern die Worte.“
„Kämmt sich den Bart mit den Fingernägeln, die er sich nicht schneidet“, zischt Tauto. „Stutz ihn doch mal einen Kopf kürzer, dann ist er noch intuitiver!“
Auto blickt mit schmalen Augen hin zum Horizont. Tauto kratzt sich am Kopf. Auto notiert in Tautos Notizbuch: Ja, weil das streitbare Echo die Haut reizt.

 

6: PRENDRE CORPS
Je te nuque    je t’annule

… liest Auto im Hauchton über Tautos Schulter, sie stehen am Fenster oder vor dem Spiegel. In Tautos Hirn rattert es panisch: Brutalität der Liste? Deterritorialisierung? Fluchtlinien?
Aber Auto liest bloß weiter, läßt ihren Atem über Tautos Schulter gleiten, und ihre Finger auf Tautos Gliedmaßen scheinen Tautos Hirn beruhigen zu können.
Ich konstruiere dich. Ich konzentriere mich, ich konstituiere dich.
Ich konstatiere dich, flüstert Tauto.
Totalisierung in jedem Fokusteilobjekt. Und Tauto…

Zeichnung von Ghérasim Luca

… verschwindet in Exemplifikation?

Nein. Kommt nicht durch. Plastik. P1-1-1-1-

Tauto legt ihre Wange an das kühle Glas des Spiegels. Auto hat sich eine Zigarette geholt und streicht ihr über die vom Spiegel abgewandte Wange.
Héros-Limite! Das bist ja du“, spottet Auto. „Na, Auftrag erfüllt? Am Ende deiner Mission? Oder geht es einfach nicht mehr weiter?“
„Please“, winkt Tauto müde ab. Ihr scheint, das Gesicht am Ende des Tunnels ist einfach verschwunden. Zum Autor hat sie nie Kontakt gehabt, jetzt ist auch noch etwas am Interface fehlerhaft. Stottern bringt sie dem Nullpunkt nahe, Materialität ist zuviel, Leere keine Alternative. Tauto kritzelt ein trübes Diagramm,

Zeichnung von Ghérasim Luca

 

 

 

und dann fängt es zu regnen an.

Redundanz, Fehlerhaftigkeit, stotternde Beschreibung eines Kerns, Tauto geht durch den Regen, und die Zeichnung zerrinnt, Tauto stützt sich trotzig am Text ab und denkt an eine Versuchsanordnung –

Eine Versuchsanpöbelung, völlig vergeblich… Tauto ist zurückgekehrt und als Häufchen Elend am Fuß des Spiegels hingesackt. Ihr Oberkörper kommt – leise, leise – ins Schlittern, bald liegt sie ausgestreckt am Boden und vermischt sich mit dem Lurch. Es klirrt, saust ihr in den Ohren: la peau de mon cerveau, en pleine plaie terre, terreur et vertige de l’or, de l’or, de l’horreur de vie, de vivre comme le poux, comme l’époux de l’épouvante, en pleine mort vivante de mot, du monde mortel tel que la vie de ce monde vide et immonde nous l’inflige.
Auto steht breitbeinig über Tauto und weiß Bescheid. Stottern betont die Sterblichkeit, die Materialität, trotzig lehnt sich Stottern auf, eckt an und kann sich nicht mit dem Erzählfluß Richtung Tod anfreunden. Bleibt immer hier! hier! Die Stimme, die Immanenz breitet sich aus, und die Sprache weigert sich, den Hintergrund zu machen für die Aussagen.
Et la vie n’est rien, n’est rien en dehors de cette langue, de cette langueur des bornes courbées sous le poids d’une formule .

„Aber aber“, hört Tauto plötzlich Autos Stimme, nah am Ohr. Auto spricht vielleicht schon länger, aber es gelingt ihr erst jetzt, das Sausen zu übertönen. „Phosphoreszieren, damit fängt es an, du Phoenix-Aas. Dann einzelne Wörter. Ein Wort nach dem anderen. Schwarz auf weiß.“ (Sie zeichnet mit dem Finger auf den beschlagenen Spiegel.)

Zeichnung von Ghérasim Luca

„Nach Gebrauch / Abnützung umdrehen.“

Zeichnung von Ghérasim Luca

„Jedes Wort zweimal umdrehen: Ökonomie. Nur manchmal je nach Belieben umdrehen: Überfluß, Luxus, nach Art eines Steinstrands.“

Zeichnung von Ghérasim Luca

Steinstrand war ein ungünstiges Stichwort – Tauto deliriert plötzlich weiter, hat Angst, geht ganz in Steinen, in Personen auf, die ihr nichts bedeuten, etwas kommt ins Rollen, sie kann den Traum nicht stoppen. Fremde Stimmen reden in ihr.

Isch binn dein Gegennüberr, isch binn die Deutsche Schprackee. Isch bin derr Körperr, denn dü verschtümmellst, dafürr binn isch dirr donkbarr. Sonnst wüßte isch nischt, werr isch binn. Isch binn auch derr Schpiegell, denn dü anschaußt, um su sehenn deinen eigenenn Körperr.
Isch musterre deine Gedankenn. Isch mutiere deine Gedankenn. Wenn dü nischt schprechen kannst, isch binn Fronsösiesch. Wenn dü schprechen kannst, isch binn Deütsch.
Wenn ich nicht spreche, bin ich die Spionin. Hinter meinen Augen sind Minikameras versteckt, in meinen Brüsten Maschinengewehre, an meinen Fingerkuppen Sensoren. Mein Körper ist eine Wanze. Du schlägst mich, während ich ein Gedicht deklamiere. Ich gehe aus dem Haus und untersuche die Spuren an meinem Körper. Zeichne alles auf. Das ist deine Reichweite. / Das bist du. Ich widerspreche, während du mir etwas sagst. Im Nachhinein höre ich mir vom Band an, was du gesagt hast.

Auto versucht, Tauto Kamillentee einzuflößen. Tauto muß um sich schlagen, um sich deutlich zu machen.
„Ich mmn! Ich mmn nicht! Mmn dich! Verstehst du?“

Zeichnung von Ghérasim Luca

je te consonne, ach, und wie schnell verwandelt sich ein normaler Sprachtraum in einen Traum von der Liebe, es braucht sich nur die Temperatur im Raum, wo Tauto schläft, um ein paar Grade zu erhöhen, und schon mutieren ihre Träume, aus den Spiegelbildern treten Gegenspieler auf, das Stottern verschmilzt…

Zeichnung von Ghérasim Luca

Tauto blinzelt: philtre!
Morgendliches Sonnenlicht durchflutet das Zimmer, Glück oder eine plötzliche Verliebtheit – in den Morgen? Aber den kennst du doch gar nicht, Tauto! – inphiltriert alle Positionen von Subjekt bis Objekt, und gleichzeitig ist diese wohlwollende Intentionalität durchsichtig, nur sichtbar als Abweichung oder Anderssein, und Tauto weiß, daß sie von vielen Sichtweisen nur eine, eine der läppischsten, täppischsten, am wenigsten vertrauenswürdigen ist. War es der Tee, die infusion? Tauto fühlt sich verkorkst vom Schlaf und vom Traum.
Denn die Möbel sind die einzigen Körper, auf die die Unordnung im Zimmer sich verlassen kann. Fällt das Morgenlicht, fällt der Blick auf ein Stück Gegenstand, stört es die Machenschaften des Geists, Tauto räuspert sich, der Körper behindert die Stimme, die Stimme trifft auf den Körper, aber der Körper zeigt sich nur in der Stimme, nur in den Spuren seiner Behinderung der Stimme (küß den Frosch im Hals). Oder: die Stimme zeigt sich nur im Körper, in den Knorpeln, Bändern oder Knöchelchen, wie das Licht am Schreibtisch, wie Wellen erst am Strand und so weiter. Es sei denn, die ganze Welt (prends-le!) wird projiziert auf den Körper, nimmt dessen Form an. Tauto denkt am Morgen wirr. Sie geht aus dem Haus, um sich Klarheit zu verschaffen. Ja, es ist alles klar, präzise ausgeleuchtet und so still wie nur an Wintermorgen. Doch etwas schwebt durch die Luft, Tauto sieht transluzide Partikelchen, ganz nahe, die dem Blick ihrer Augen folgen, davondriften, wenn sie sie ansehen will. Gehören sie zu ihr oder sind’s Lektürebazillen? Flankerln, Floskeln des allgemeinen Unheimlichen, er versteckten Gewalt, die sich mit präziser Eleganz und Schönheit in bezaubernde Rede, in ihre Rede schwingt, cover-up für die ruchlosen, brutalen und illegitimen Machenschaften der Dichtkunst / des Denkens? Tauto reißt die Augen auf: sie sind noch immer da. Tauto kneift die Augen zu: die Wörter werfen riesige Schatten an die Schädelwände. Tauto läuft nach Hause und flüchtet unter die Decke. Träum weiter, Tauto.

 

7: LE REVE EN ACTION

(Bin ich ’s? fragt Tauto)
(von Kopf bis Fuß, durcheinander)
hermétiquement ouverte (soll heißen, die Augen zu) (Tauto beschließt, die Klammer nicht mehr zu verlassen.) (Tauto hockt in der Klammer. Eine Idee wäre ein besseres Gefäß, die Klammer bietet, wie Bettdecken, nur fiktiven Schutz.) (Tauto schläft wieder ein. Die Polster und Decken verwandeln sich in les beaux yeux les beaux seins les belles fesses métaphysiques, und ein Lächeln ziert Tautos Schlaf vor metaphysischem Vergnügen, es klappert der Traum.

Zeichnung von Ghérasim Luca

la métafemme ouvre la femme
elle ouvre et découvre sa chair translucide
ses entrailles transcendantes sa chevelure transmissible

Zeichnung von Ghérasim Luca

Falsch geseufzt, sagt dazu Luca, aber träum weiter, Tauto.
Auto, die Doppelagentin, hebt konspirativ eine Augenbraue und nippt am Kamillentee.
„Schenkst du mir auch eine Tasse ein?“ fragt Luca. Sie stoßen an: „Auf die Maden!“ Sie lachen.

Ann Cotten, Schreibheft, Heft 67, September 2006

Aus einem WDR-Gespräch über Ghérasim Luca 2006

Felix Philipp Ingold: Ich habe mal – vor zwanzig Jahren – Peter Gente getroffen, und er hat, für mich ganz unerwartet, weil ich bei ihm kein poetisches Interesse vorausgesetzt habe, plötzlich zu schwärmen angefangen vom größten Dichter französischer Sprache – und hat Luca genannt. Das war für mich die erste Begegnung. Der Name war mir damals noch unbekannt. Bei Deleuze ist er mir dann wiederbegegnet. In Critique et Clinique gibt es ja diesen Aufsatz, und da hat es mich dann wirklich gepackt.
Mich hat es ursprünglich aus einer eher übersetzerischen Perspektive interessiert, also die Frage, wie ist Dichtung möglich bzw. wie artikuliert sich Dichtung in einer Fremdsprache, was ist der Anteil an Übersetzung? Das sind Fragen, die auch für mich selber immer relevant gewesen sind.
Luca hat auf Ovid Bezug genommen in dem sehr schönen Vokalgedicht „voyelle“, wo er sagt: „oh! vid’exile.“ Er hat das vielleicht auch u.a. im Auge gehabt, und das ist jetzt eine andere Dimension. Das hat nicht mehr nur mit dem Übersetzen oder mit der Geste des übersetzerischen Redens oder Schreibens zu tun, sondern mit der Lautlichkeit oder Oralität von Sprache, und darauf ist sein Werk ja wesentlich aufgebaut.
Man kann sehr viel mehr sinnliche Erfahrungen machen und auch selber Sinn produzieren, wenn man diese Texte hört, als wenn man sie liest. Ich glaube schon, daß man auch als Leser diese lautlichen Konstellationen ergründen kann, aber man muß es dann doch ein wenig zusammensuchen. Hingegen wenn man es hört, und vor allem, wenn man ihn selber hört, mit diesem leichten Akzent: das ist wunderbar, das ist ein Dichter, der in einer anderen, ihm nicht total vertrauten Sprache spricht, das ist wunderbar. Dann kommt einem das sehr nah entgegen.
Und ich vermute auch, daß die elementare oder die initiale Geste seines Sprechens eine Art Stottern ist. Balbulos: das hat man im Mittelalter noch zu honorieren gewußt. Heute ist es ja eher ein deviantes Sprechen oder ein defizitäres Sprechen, aber im Unterschied zum Stotterer, der ja beim Stottern die Wörter zusammensucht, die er braucht, um etwas, was er sagen möchte, inhaltlich, thematisch, auszudrücken, ist es, so wie ich es sehe, bei Luca umgekehrt. Bei ihm ist die Sprechweise oder die Sprechgeste des Stotterns darauf angelegt, etwas zu sagen, was noch nicht gesagt ist und was er selber noch nicht weiß. Von daher die Wichtigkeit der lautlichen Knotenbildungen, von denen aus dann die verschiedenen Verzweigungen und Dissipationen möglich werden.
Das ist kein linearer Prozeß wie das Sprechen in konventioneller Weise, also das Sprechen auf etwas hin, was man schon weiß, sondern das Sprechen auf etwas hin, was man erfahren möchte. Das ist ganz authentisch für jemanden, der nicht in einer total vertrauten Sprache spricht, daß es ein suchendes Sprechen ist, eine suchende Geste des Artikulierens. Da kommt ein fremder in eine fremde Sprache und weigert sich, ganz anzukommen.

Mirko Bonné: Und macht diesen Prozeß des Hineinkommens in die Sprache, in die neue Sprache, zur Dichtung. Diesen Eindruck hatte ich bei ihm immer. Dieses permanente Lernen des Französischen wird zur Poesie.

Ingold: Das ist ein ganz subtiler Verfremdungseffekt, der vermutlich dazu dient, die Sprache oder den Sprachgebrauch nicht zu automatisieren, nicht konventionell werden zu lassen. Es gibt ja solche Autoren, die das können und die es darauf auch anlegen. Nabokov ist so ein Beispiel. Der wollte das perfekte Englisch, also nicht nur British English, sondern auch das Amerikanische zu einem neutralen, perfekten Englisch auf der Ebene des Webster erreichen. Das ist eine Möglichkeit. Bei ihm schimmert – so weit ich das überhaupt erkennen kann – so gut wie nichts durch.
Und bei Luca ist es wunderbar transparent. Man hat immer auch den Eindruck, daß er in mehreren Sprachen gleichzeitig spricht. Denn man darf nicht vergessen, daß sein multilingualer Hintergrund – das war ja nicht nur das Französische, sondern auch das Jiddische, ich glaube sogar das Deutsche und das Rumänische –, und das gibt insgesamt natürlich einen Sound, der innerhalb der Sprache Französisch etwas ganz Besonderes bringt. Also ich kenne keinen anderen Autor, bei dem das so imprägniert ist.
Also, ich habe oft auch mit Cioran gesprochen, und da hat man so etwas nicht gehört. Das ist ja etwa die gleiche Generation, nur wenig älter, eine irgendwie vergleichbare Biographie, wenn auch mit dem entscheidenden Unterschied, daß in der Zeit des Faschismus Cioran eher der Rechten zuneigte, gelinde gesagt, und Luca ja sehr kämpferisch dagegen angetreten ist.
Wer weiß, ob nicht diese Einfärbung auch einen politischen Hintergrund haben könnte. Wenn man die Biographie von Luca verfolgt und dann vor allem das Ende seines Lebens mit diesem Ungemach der Akzeptanz und der Integration – was kann man daraus schließen? Wollte er das überhaupt? Oder war das sozusagen die Position des Höhlenbewohners? Er hat ja eine Weile in einer Höhle gewohnt, weil er sich verstecken mußte. Ob das sein existentieller Raum gewesen ist, den er eben vielleicht auch dort gebraucht hat?

Guido Graf: Das ist ja das Faszinierende, daß diese Suchbewegung gar nicht mal als eine bewußte oder als eine, die einem vollständig bewußten Kalkül folgen würde, beschrieben werden kann, sondern eben eine existentielle Bedeutung hatte. Wie die Tatsache, daß er die ganzen Jahrzehnte, die er in Frankreich gelebt hat, dort offenbar nicht gemeldet war…

Ingold: Sans papier!

Graf: … und dadurch dann am Ende seines Lebens die Schwierigkeiten kulminierten. Und bei den ganz frühen Texten bis hin zu ganz späten spricht noch aus jedem Spiel, aus jedem Ausprobieren von möglichen Wegen – ob nun aus einer Stotterbewegung oder aus so einem Spiel – für mich eine ganz erhebliche Einsamkeit. Vielleicht stellt sich dann die Frage, ob diese Suche eben die eines Menschen ist, der nach rettenden Vokabeln sucht, nach einer Sprache, die ihm Halt gewährt. Oder hat er diese Möglichkeit gar nicht gesehen?

Ingold: Wenn man seine dichterische Arbeit sich vor Augen hält, dann würde man doch auf den ersten Blick oder nach der ersten Leseerfahrung sagen, das ist völlig abgehoben, das ist eine rein sprachliche Angelegenheit, innersprachlich entwickelt, vielleicht sogar rein formalistisch und so weiter. Das eben glaube ich gerade nicht.
Ich glaube, daß Autoren, die so nah gewissermaßen am Leib der Sprache operieren, daß die eigentlich noch sehr viel mehr Eigenes, Persönliches, vielleicht auch Zeitgeschichtliches oder gar Politisches investieren als Autoren, die explizit darüber schreiben. Das ist ja dann schon mit einer Distanz, mit einer objektivierenden Optik gemacht. Und mein Eindruck ist bei Luca, obwohl ja nie frontal gesprochen wird oder diskursiv, daß ungemein viel aus der Zeit- und aus seiner Lebensgeschichte eingeflossen ist.
Ich überlege, zum Beispiel ein ganz marginales Detail: sein Vater ist Schneider gewesen, Uniformschneider. Für die rumänische Armee hat er Uniformen geschnitten, und der Junge ist offenbar ziemlich involviert gewesen. Ich könnte mir vorstellen, daß der Akt des Schneidens, des Zusammenschneidens – das ist ein dekonstruktiver Akt: destruktiv insofern, als Stoff zerschnitten wird, konstruktiv insofern als aus diesen Schnittstücken dann ein neues Ganzes zusammengenäht wird –, ob das nicht auch etwas mit seiner Poesie, mit seiner Poetik auch was zu tun haben könnte? Ob das jetzt bewußt ist oder nicht spielt ja gar keine Rolle, aber jedenfalls seine Arbeit an der Sprache hat schon etwas davon. Also wie wenn das Wörterbuch ausgebreitet als Terrain liegen würde, und er schneidet die eine oder die andere Ecke heraus, dreht sie um und näht sie neu zusammen, und es entsteht dann etwas Neues. Nur der Grundstoff bleibt derselbe.
Vielleicht könnte diese dekonstruktive Geste des Schneidens und Nähens poetologisch etwas ergeben. Ich habe das nie untersucht, ist mir auch jetzt erst eingefallen, könnte man aber vielleicht überlegen: nur, um zu sagen, daß auch scheinbar marginale Momente einer Biographie, einer Erfahrungswelt sich auf sprachlicher Ebene, ohne daß die Sprache diskursiv geführt wird und eine Aussage enthalten soll, ausdrücken können.

Schreibheft, Nr. 67, September 2006

Sozusagen

I
Der rumänisch-französische Dichter Ghérasim Luca – geboren 1913 in Bukarest als Salman Locker, seit 1952 als «papierloser» Einwanderer in Paris ansässig und dort durch Freitod gestorben 1994 – stand den späten Surrealisten um Victor Brauner und Wifredo Lam nahe, war mit Paul Celan und dessen Frau, der Graphikerin Gisèle Lestrange befreundet, wurde aber erst in seinen letzten Lebensjahren, als der Verleger José Corti mit dem Nach- und Neudruck seiner Wortarbeiten begann, einem breitern Publikum bekannt.
Mit der handwerklich konnotierten Berufsbezeichnung «Wortarbeiter» ist dieser Dichter (der im Übrigen auch als Bildkünstler produktiv war) zutreffend charakterisiert; denn dem einzelnen, dem kontextfrei gesetzten Wort und dessen vielfältigen – semantischen wie klanglichen – Schattierungen gilt sein vorrangiges Interesse. Als Sprachverrückter ist er zugleich ein Sprachverrücker, auch ein Sprachverächter, der jeder sprachlichen «Kommunikation» und vollends jeder sprachlich durchgesetzten «Begrifflichkeit», «Gültigkeit» oder gar «Wahrheit» zutiefst misstraut. So meidet er denn konsequent sowohl diskursives wie metaphorisches Reden, da ihm der konventionelle sprachliche Bedeutungstransport mit seinen Missverständnissen und Irreführungen suspekt ist. Statt syntaktisch reguläre Sätze zu Aussagen zu verknüpfen, packt er ein Wort aufs andre, ein Wort ins andre, um deren Bedeutungsebene ins Wanken zu bringen; um aber gleichzeitig immer wieder neuen Sinn und immer wieder neuen – möglichst unsäglichen – Unsinn zu stiften.
Ghérasim Lucas sprachlicher Impulsgeber und zugleich sein Arbeitsmaterial ist das Wort als solches, das Wort, wie’s im Wörterbuch steht, das Wort in seiner puren, zumeist ambivalenten Laut- oder Schriftgestalt, und eben diese sinnlich fassbaren Sprachqualitäten nimmt er zum Anlass vielfältiger Ableitungen, 
Variationen und Permutationen, die ihrerseits – gleichsam autopoetisch – einen unvorhersehbaren, ja unerhörten Eigen-Sinn gewinnen können. So liesse sich etwa aus «ô je dis jour» (o ich sag Tag) das Wort «aujourd’hui» (heute) herauslesen oder aus «héroslimite» (Grenz-Held) die Fügung «éros hors limite» (Eros entgrenzt). Auffallend ist, dass ein «fou du langage» wie Luca trotz seiner Mehrsprachigkeit – er beherrschte Jiddisch und Deutsch, Rumänisch und Französisch gleichermassen – auf zwischensprachliche Assoziationen und Assonanzen (wie etwa Joyce oder Mandelstam sie gepflegt haben) völlig verzichtet zu Gunsten innersprachlicher, vorab klanglicher Wechselbeziehungen.

II
In mancher Hinsicht erinnert Ghérasim Lucas sprachkünstlerische Arbeit an die formalistische Poetik des Pariser Werkkreises für potentielle Literatur (OuLiPo), sein spielerischer Umgang mit dem Wort geht freilich, im Unterschied zu den oulipotischen Schreibverfahren, über die ingeniöse Freisetzung zufallsbestimmter Prozesse und über die blosse Lust am Text weit hinaus. Auch das noch so abgehobene, scheinbar «autopoetische» Sprachspiel beruht auf der Vorgabe bestimmter lexikalischer Rohmaterialien (Begriffe, Orts- und Eigennamen usf.), die der Autor zu setzen hat, um deren systematische Abwandlung (etwa durch Permutation des vorliegenden Buchstabenbestands) oder deren Entfaltung (in assonantischen oder angrammatischen Reihen) zu bewerkstelligen. Als bevorzugte Verfahrensweisen sind bei Luca ausser dem Einsatz von Gleichklängen (Assonanzen, Homophonien) die Bildung von «Koffer-Wörtern» zu nennen, in denen mehrere Begriffe gleichsam komprimiert sind (beispielsweise in «pouvoir», Macht, die Elemente «pou», Laus, und «voir», sehen), sowie die lautliche oder anagrammatische Entfaltung vorgegebner Themawörter (z.B. «…pour l’aimée à aimer l’amour…»).
Zu Ghérasim Lucas bekanntesten Wortfindungen gehört ein Text des Titels «Passionnément»  (Leidenschaftlich),  dessen Druckfassung in den Band Le Chant de la Carpe von 1973 eingegangen ist. Ausgehend von dem einen Wort «passion» (Leidenschaft) entfaltet der Autor am Leitfaden des Sprachklangs ein Dichtwerk, das von «pas» (homonym für nein; nicht; Schritt) und «papa» beziehungsweise «pape» via «bas»/«basse» (niedrig), «passer» (vorbeigehen) oder «pisser» (pissen) zu «ration» und «nation» viele sich anbietende Assoziationen in sich aufnimmt.
Dass Ghérasim Lucas Spiel mit der Sprache ein durchweg ernstes, wenn nicht todernstes Spiel ist, zeigt sich – hier in dezidiertem Gegensatz zur poetischen Spasskultur der Oulipoten – besonders deutlich bei der Auswahl seiner Themawörter, die fast ausschliesslich dem weiten semantischen Einzugsbereich zwischen Liebe und Tod, Macht und Gewalt, Schmerz und Angst entstammen: «Für den Todesritus der Wörter / schrieb ich meine Schreie auf / mein mehr als irres: mein falsches Gelächter / und meine ethische Phonetik / werf ich wie ein Fatum / über die Sprache.» Es braucht schon den richtigen «Biss» (morsure), um den «sicheren Tod» (mort sûre) der konventionellen Wortbedeutungen herbeizuführen: «So gehen wir zugrunde und lieben alles, was uns flieht, alles, was in uns schallt, und alles, woran es uns fehlt…»

Felix Philipp Ingold: Gegengabe, Urs Engeler Editor, 2009

 

WASSERMANN
in Gedanken an Ghérasim Luca

Das Nichts besteht
aus nichts als Falten. Ist unzählbar
wie das Lächeln – zum Beispiel – der Seine

unterm Pont Mirabeau. Irr
aber so gewollt vom Gott da oben
in der Zirkuskuppel. Jenem wahren Mund

gehört das Schweigen.
Dieser einen Hand die Schwere
der Fliehkraft. Rafft sich jetzt zusammen

was noch keinen Namen hat.
Schafft den Sprung ins Element wo
nichts mehr ähnelt. Alles ahnt.

Felix Philipp Ingold

 

 

Mirko Bonné und Theresia Prammer. „Was setzt über, wenn Gedichte übersetzt werden?“. Eine Konferenz mit übersetzenden Dichter·innen & dichtenden Übersetzer·innen am 5.11.2021 im Literaturhaus Halle

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer Mirko Bonné
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Brigitte Friedrich Autorenfotos
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin Theresia Prammer

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Internet Archive + Kalliope

 

Ghérasim Luca liest zu einer freien Adaption seines Gedichtes La Folisophie au Marteau.

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