Hans-Georg Gadamer: Zu Paul Celans Gedicht „WEISSGRAU aus-…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „WEISSGRAU aus-…“. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

WEISSGRAU aus-
geschachteten steilen
Gefühls.

Landeinwärts, hierher-
verwehter Strandhafer bläst
Sandmuster über
den Rauch von Brunnengesängen.

Ein Ohr, abgetrennt, lauscht.
Ein Aug,1 in Streifen geschnitten,
wird all dem gerecht.

 

Die Kraßheit der Bilder

vom abgeschnittenen Ohr und vom in Streifen geschnittenen Auge gibt diesem Gedicht sein einzigartiges Gepräge. Man muß und man soll eine Art von Widerwillen gegen die Kraßheiten empfinden, die einem hier zugemutet werden, um sie durch Begreifen zu überwinden. Aber was ist daran zu begreifen? Ich denke, dies: Kein den Weltmelodien geöffnetes Ohr, kein alles umfassender, vom goldenen Überfluß der Welt trunkener Blick entsprechen auf gerechte Weise dem, was ist. Angestrengtes Lauschen – so daß das Ohr wie abgetrennt ist, „ganz Ohr“ – und durch schmalsten Spalt spähendes Auge allein – das scheint mit „in Streifen geschnitten“ gemeint – vermögen allein noch das, was ist, zu erfassen. Denn es ist nur noch Vereinzeltes, kaum Hörbares, kaum Sichtbares, was überhaupt Kunde gibt („Rauch von Brunnengesängen“).
Dabei ist „all das“ in strengsten Weglassungen dennoch da: die See – denn es ist von „landeinwärts“ die Rede –, die Kalkfelsen im Weißgrau angebrochenen Grundes, und dann, ins Land hinein, von dem nahen Meer entfernt, etwas ganz anderes, Menschliches: Rauch und Brunnen. Die Steilküste evoziert Einsamkeit, aber auch das Zutagetreten, das Bloßliegen des sonst Verborgenen. Das aber ist hier „steiles Gefühl“ (man denke an Rilkes „schlackig versteinerten Zorn“). Was so bloßgelegt ist, reicht in die Tiefe des Fühlens wie in einen Abgrund. Das liegt in dem Worte „steil“. Aber es ist nicht wie ein Quell der Gefühle. Es ist Weißgrau, ohne Farbe und Leben steht es erstarrt und ist den Wettern preisgegeben wie ein Steinbruch, der „ausgeschachtet“ ist.
Was beginnt eigentlich in der zweiten Strophe, die mit „landeinwärts“ einsetzt? Was dort, landeinwärts, ist, ist gewiß etwas Geringeres als die weißgraue Bruchlinie der Einsamkeit zwischen den großen Elementen Meer und Land. Aber in „landeinwärts“ klingt es doch wie eine Erwartung, als könne die kahle Einsamkeit des erschöpften „ausgeschachteten“ Gefühls von klingenden Tönen des Menschlichen abgelöst werden. Immerhin ändert sich das Bild: es sind aus vereinzelten Öffnungen der Tiefe, aus Brunnen wie Rauch aufsteigende Gesänge, die man hören soll. „Rauch von Brunnengesängen“ weckt ein Vielfaches. Rauchende Kamine menschlicher Wohnungen, dörfliche Brunnen, menschliche Laute, Gesang. Indes, von der Verlassenheit des Strandes sind wir auch hier nicht fern. Über all das weht der Strandhafer seine Sandmuster. Das Karge, Dürftige des ins Land hineinkriechenden Dünensandes und seiner einförmigen Muster beschreibt eine uniform werdende Welt, in der nichts Menschliches mehr offen zutage tritt und in der der Gesang der Brunnen fast übertönt wird. Nur dem angestrengtesten Lauschen bleibt dieser Gesang hörbar, diese Selbstaussage des Menschlichen in einer versandenden Welt, und nur in augenblickshaften Brehlungen blitzt dem angespanntesten Spähen menschlich Geordnetes auf. Die krasse Grausamkeit der Schlußmetapher von Ohr und Auge läßt die beengende Dürftigkeit der Welt empfinden, in der Gefühl kaum noch etwas vermag.

Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019

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