Hans-Georg Gadamer: Zu Paul Celans Gedicht „HARNISCHSTRIEMEN, Faltenachsen,…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „HARNISCHSTRIEMEN, Faltenachsen,…“. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

HARNISCHSTRIEMEN, Faltenachsen,
Durchstich
punkte:
dein Gelände.

An beiden Polen
der Kluftrose, lesbar:
dein geächtetes Wort.
Nordwahr. Südhell.

 

Zwei Aussagen, gegeneinandergestellt,

aber eine der anderen entsprechend; Gelände und Wort. „Dein Gelände“ ist das Gelände „deines“ Wortes. So hängen die beiden Strophen zusammen. – Gegen den ersten Anschein, dem ich in den ersten Auflagen dieses Büchleins selbst erlegen war, wechselt auch die Bildsphäre nicht. Da ist nicht erst von dem kampfbereitem Fechter und dann von dem unbeirrbar den Kurs haltenden Steuermann die Rede. Die ungewohnten Ausdrücke „Harnischstriemen“, „Faltenachsen“, „Durchstichpunkte“ der ersten Strophe und dann der Ausdruck „Kluftrose“ der zweiten Strophe haben mich in die Irre geführt. Sie gehören zusammen und entstammen dem gleichen semantischen Feld. Es sind alles Fachausdrücke der Geologie. Die ersten drei Ausdrücke beschreiben, wie man dann sofort errät und wie ich auch hätte erraten können, Formationen der Erdkruste, und jedenfalls meinen sie, wie ich richtig sah, den Panzer der Sprache. Das Gelände ist das Gelände des Wortes. Wie ich jetzt deutlicher sehe, sind es alles Beschreibungen des Geländes, seiner Verkrustungen und Verwerfungen und der Punkte, an denen eine tiefere Schift nach oben geraten ist.
Mehr liegt nicht in den seltsamen Ausdrücken. Ich ging zu weit, als ich folgendes schrieb:

Die erste Welt, die des degenfechtenden Wortes, ist nicht im Sinne eines Gegenüber zweier Kämpfer, sondern von dem einen her gesehen. In Wahrheit vom Wort her, das prüft und versucht, einen Panzer zu durchstoßen. Das Wort ist ein „Degen“, der in der Rüstung zu entdecken sucht, wo er durchstoßen kann. Wessen Rüstung? Der Rüstung, die alle tragen, die reden? Das ist es offenbar, worum es geht: durch den Panzer der Sprache auf die Wahrheit durchzustoßen.

Daß etwas nicht stimmte, zeigte sich daran, daß ich Harnischstriemen nur als vom Harnisch am Körper hervorgerufene Striemen verstehen konnte, Faltenachsen sowie Durchstichpunkte mußten dagegen den Harnisch-Panzer selbst bezeichnen. Inzwischen weiß ich, daß diese kriegerisch tönende Geländebeschreibung normale Fachwörter aus dem Gebrauch des Geologen benutzt. Das Poetische an ihnen hat offenbar den Dichter inspiriert. Die Ausdrücke lassen des Dichters – jedes Dichters – Verhältnis zur Sprache anklingen. Es geht um den Panzer der Sprache und die Erstarrungstendenz, die in Sprache liegt. Die Schwierigkeiten, die ich mit dem Zusammenhang von Harnischstriemen und Faltenachsen hatte, erweisen sich nunmehr als gegenstandslos: so beschreibt der Geologe die Erdkruste. Es war also falsch, wenn ich bei „Durchstichpunkte“ an den spähenden Blick des Fechters dachte, der die feindliche Rüstung zu durchstechen versucht. Auch dieser Ausdruck war nicht des Dichters barocke Erfindung, sondern ebenfalls in der geologischen Fachsprache vorfindlich. Immerhin geht es auch in dieser Sprache darum, die Schlichtung und Lagerung der Erdkruste von den sichtbaren Formationen aus zu beschreiben, an denen alles Eindringen in das Geheimnis des Erdinnern, das Amt des Geologen, sich zu orientieren sucht.
Orientierung ist das Leitwort, und nichts anderes: Orientierung in den vorfindlichen Formationen des Geländes, die von der Bildungsgeschichte unserer Erdoberfläche zeugen – Orientierung also im Gelände der Sprache, das in seinen Formationen erstarrt ist, in Grammatik, Wortgebrauch, Satzbau und Meinungsbildung. Für alles gibt es feste Regeln und Konventionen, und doch gibt es zugleich Punkte, wo das Eindringen in tiefere Schichten möglich ist. Einem mit den geologischen Fachausdrücken Vertrauten wird dabei das Bild vom Fechter, der die Rüstung zu durchstoßen sucht, bei „Durchsticht“ gar, nicht kommen.
Aber insofern hatte ich nicht unrecht, als das Gedicht die Erfahrung beschreibt, die der Dichter mit der Sprache macht, wenn er die starren Konventionen des Wortgebrauchs  und des ,Geredes‘ zu durchbrechen sucht. Den wahren Gewinn brachte mir die ,geologische‘ Aufklärung aber für die zweite Strophe. Orientierung im Gelände bleibt in ihr die beherrschende Bildsphäre. Auch „Kluftrose“ ist ein geologisches Fachwort und bezeichnet ein Orientierungsinstrument, das, wie der Kompaß, auf einer Skala anzeigt. Jeder Student der Geologie kennt das, und so hat wohl auch unser poeta doctus in diesem Falle kein Lexikon oder Nachschlagewerk benötigt. Es geht also auch hier um Orientierung, die das Wort des Dichters braucht. Folgte man der Weisung, die das Gedicht selber nahelegt: kann man schwerlich bezweifeln, daß durch die Pole Nord und Süd, von denen im ersten und letzten Vers der Strophe die Rede ist, der Fahrtenkompaß ins Spiel kommt und damit das Finden und Halten der rechten Richtung – wenn man auch nicht auf offener See ist. Zwar weiß ich noch immer nicht, wie der Geologe mit diesem Geländekompaß, den er „Kluftrose“ nennt, im einzelnen arbeitet, aber ich denke, das Gedicht erläßt uns hier weitere Spezialerkundungen bei dem geologischen Mann. Das Gedicht lädt uns ja zur Umsetzung ein, und diese Umsetzung führt ausdrücklich in die Sphäre des Wortes. Das wird hier eindeutig klar. Denn es heißt:

dein geächtetes Wort.

Das Wort ist „geächtet“. Das ist nicht nur ein starker Ausdruck für mißachtet oder verachtet. Es meint auch: gehaßt und verfolgt. Jemand ist geächtet, der nirgends Heimatrecht hat, der vogelfrei ist, weil er in die Acht getan wurde. Nun sagt der Text offenbar, daß dies Wort zu Unrecht in die Acht getan ist: es ist eben dieses Wort, das die gerade Richtung hält und durch nichts von der rechten Richtung, der Richtung auf das Rechte hin, abzubringen ist. Es folgt unverrückbar klar und unbestechlich der Richtung, die die „Kluftrose“ anzeigt.
Nun heißt es in der Strophe: diese „Kluftrose“ soll an beiden Polen lesbar sein, an Nord wie an Süd. Das Wort muß gleichsam die gesamte Skala möglicher Abweichungen kennen, von denen es bedroht ist. An beiden Polen soll dies vogelfreie Wort lesbar sein, das selber ungeschützt ist. Damit erhält das Wort „geächtet“ hier einen genauen Sinn: Das Wort ist auf sich allein angewiesen – es wird von allen abgewiesen, von allen Seiten als unbequem empfunden, wegen der Gradlinigkeit der Wahrheit, die es sagt. Das heißt in einem, daß das Wort wahr ist: Nord-wahr, und daß es hell ist, Süd-hell. Nun heißt dies Wort hier „dein“ Wort. Wer ist hier angeredet? Es gibt gewiß keinen festen Grundsatz, unter dem man die Frage „wer bin ich und wer bist du“ in Celans Gedichten (oder in Gedichten überhaupt?) zur Auflösung bringen kann. Ich glaube nicht, daß man immer nur darin an ein Du in diesen Gedichten denken soll, wenn von einem Du die Rede ist, und an den Dichter nur dann denken soll, wenn er auch „ich“ sagt. Beides scheint mir falsch. Will man ausschließen, daß ein Ich zu sich selbst Du sagt? Und wer ist Ich? Ich ist nie nur der Dichter. Es ist immer auch der Leser. Ichvergessenheit hat Celan in der Meridianrede mit Recht als den Charakter eines Gedichtes hervorgehoben. Wessen Wort ist es also? Des Dichters? des Gedichtes? Oder ein Wort, das das Gedicht nur wiederholt und verkündet? Oder gar ein Wort, das wir alle kennen? Was hier „dein“ und damit „du“ heißt, steht gewiß nicht von vornherein fest. Es muß nicht einmal, wie ich zunächst verstand, eine Art Selbstanrede, der Dichter oder das Gedicht sein, was im Gelände der Sprache Orientierung gibt. Es kann auch etwa das Wort Gottes sein, das vielleicht an den rechten Durchstich-Punkten im Erdpanzer hervorbricht – als Offenbarung. „Dein geächtetes Wort“ könnte sogar auf die zehn Gebote des Alten Testamentes gehen, die als Nord-Süd-Achse die sichere Orientierung geben sollten. Oder auf welches wahre Wort immer. So mag man am Ende keinen Anlaß haben, zwischen dem Wort des wahren Gottes und dem Wort des wahren Dichters und dem wahren Wort überhaupt zu scheiden.
Celan hat uns hierzu in seiner Meridianrede so etwas wie eine Legitimation erteilt. Dort zählt er zu den Hoffnungen des Gedichtes, „in eines anderen Sache zu sprechen – wer weiß, vielleicht in eines ,ganz anderen Sache‘“. Ausdrücklich, wiederholt Celan die Anspielung auf das „ganz Andere“, den religionsgeschichtlichen Terminus von Rudolf Otto für das Heilige. So kann auch das Gedicht das wahre Wort und zugleich das geächtete Wort sein. Es kennt die „Durchstichpunkte“ durch die Krusten des Geredes – erst dann gelingt es als Gedicht, und der Dichter mag sein Wort durchaus geächtet nennen, auch noch, nachdem er durch die Verleihung des Büchner-Preises ausgezeichnet war. Wir brauchen uns nicht zu fragen: Wer bin ich und wer bist Du? Das Gedicht sagt zu jeder Antwort „ja“. Nun schließen sich die beiden Strophen zu einer klaren Einheit zusammen. Es geht um Orientierung im Gelände der Sprache. Wie der Geologe an den Formationen des an die Oberfläche Getretenen die Erdtiefe mehr errät als erreicht, so sucht auch das Wort des Gedichts in eine verborgene Tiefe einzudringen, indem es, auf sich selbst gestellt, seinem wahren Kompaß folgt.

Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019

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